Gerd Ruge

Meine Frau sagt, als Rentner sei ich ein absoluter Versager!

Gerd Ruge über seine journalistischen Anfänge, Politik-Interesse und Pressefreiheit in Russland, das System Putin und seine ersten Wodka-Erfahrungen

Gerd Ruge

© WDR/Fürst-Fastré

Herr Ruge, offiziell sind Sie seit 1993 im Ruhestand – aber davon ist wenig zu merken. Sie sind auf Lesereise und stellen Ihr neues Buch „Russland“ vor, und waren als ARD-Experte bei der US Wahl – haben Sie Angst vor dem Nichtstun?
Ruge: Nein, Angst eigentlich nicht, aber ich tue gern etwas. Meine Frau sagt, als Rentner sei ich ein absoluter Versager! (lacht) Ich habe nach dem Ruhestand 1993 ja im Grunde eine neue Karriere angefangen. Ich war bis dahin als Korrespondent in Moskau tätig, habe Interviews und Reportagen gemacht, und war irgendwie immer in der Nähe des Studios. Dann dachte ich mir, ich mach mal so zwei oder drei längere Reportagen aus anderen Ländern. Meine Reisen führten mich dann nach China, Japan, Alaska und die gesamte Küste Nordamerikas entlang. Und das ist so gut eingeschlagen das ich immer weiter gemacht habe. Inzwischen sind es knapp 36 Filme geworden. Das war nie geplant. Das hat sich so ergeben.

Gibt es denn ein Land, das Sie noch nicht bereist haben?
Ruge: Ach, das sind viele. Südlich von Nicaragua bin ich zum Beispiel nie gewesen. Auch Australien oder einige Länder Afrikas hab ich nie bereist. Aber ich hab bis jetzt schon so viele Länder gesehen, das reicht jetzt so langsam. (lacht)

Wie lange brauchen Sie, um sich in einem Land zurechtzufinden?
Ruge: Das hängt immer davon ab was man dort macht. Als ich in Südamerika war ging es um den Krieg in Nicaragua. Man sucht dann vor Ort nach Erklärungen, versucht die Situation zu verstehen und darzustellen. Da braucht man nicht so lange um sich zurechtzufinden, das ist auch Erfahrungssache. Als Journalist will man immer da sein, wo was passiert, und in Krisenzeiten herrscht ja nicht gerade ein Wohlfühlklima. Ich habe die Sowjetunion nach Stalins Tod erlebt, die Umbrüche in Amerika nach Kennedys Tod beobachtet. Ich war oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Da war auch viel Glück dabei.

Eines der ersten Länder, das Sie kennen gelernt haben, war Jugoslawien. Dort sind Sie mit 22 Jahren als erster deutscher Nachkriegsreporter gewesen. Mit welchen Gefühlen sind Sie dort hingereist?
Ruge: Ich war vor allem an diesem Land interessiert. Wir wussten damals ja gar nicht wie es außerhalb Deutschlands aussah. Ich wollte wissen, was sich in der Welt des Kommunismus entwickelte. Tito hatte gerade mit Stalin gebrochen, das war eine politische Sensation. Es war damals aber auch reine Glückssache, dass ich überhaupt dorthin kam. Ich hatte in London jemanden kennen gelernt, der während des Krieges Churchills Verbindungsmann zu Tito war und der war sehr überrascht, einen Deutschen zu treffen, der sich für dieses Land so stark interessierte. Und so habe ich damals über ihn ein Visum für Jugoslawien bekommen und konnte losreisen.

Wenn Sie überall auf der Welt unterwegs sind – gibt es trotzdem so etwas wie Heimat für Sie?
Ruge: Geographisch eigentlich nicht, nein. Ich finde den Begriff Heimat schwierig. Ich wohne derzeit in München, schon deshalb ist Deutschland vielleicht so etwas wie eine Heimat, aber wirklich verwenden tue ich diesen Begriff nicht. Man kann eher sagen: Heimat ist da wo meine Bücher sind. Immer wenn ich gereist bin, habe ich meine Bücher mitgehabt. In Russland hatte ich damals 4500 Bücher mit. Das war zwar etwas viel, aber es ging.

Wie haben Ihre Eltern darauf reagiert, als Sie Journalist werden wollten? Wurden Sie gefördert oder hat man Ihnen davon abgeraten?
Ruge: Das war ja die Zeit nach 1945. Da ging sowieso alles drunter und drüber. Mein Vater kam erst viele Jahre später wieder, weil er zunächst als Arzt in der Tschechoslowakei gearbeitet hat. Und ich wurde noch ein knappes halbes Jahr vor Ende des Krieges eingezogen, kam aber nicht an die Front und später auch nicht ins Gefangenenlager, weil ich unter 17 war. Ich habe mich dann umgeguckt und auch ein bisschen als freier Mitarbeiter für verschiedene Zeitschriften gearbeitet, bis ich die Chance bekam, nach Köln zum Rundfunk zu gehen. Meine hamburgische Großmutter war sehr dagegen. Sie sagte: „Das sind Rheinländer, die sind alle katholisch.“ Das war ihr zutiefst unheimlich. Sie hat sich aber nicht energisch in den Weg gestellt und so bin ich dann mit 20 Jahren von Hamburg nach Köln zum NWDR gegangen.

Wo wir gerade beim Thema Jugend sind: Was war Gerd Ruge für ein Schüler? Saßen Sie in der ersten Reihe oder waren Sie auch mal der Klassenclown?
Ruge: Ich saß ich eigentlich nie in der ersten Reihe, den Platz habe ich immer vermieden. Aber ich hatte gute Zeugnisse und kam auch mit den meisten Lehrern gut aus. Da gab es eigentlich nie Probleme.

Welche Fragen haben Sie als Kind gestellt?
Ruge: Oh, das weiß ich gar nicht mehr genau. (lacht) Ich weiß aber noch, dass ich schon immer sehr viel gelesen habe. Als ich neun  Jahre alt war, kam ich ins Internat und habe alles gelesen, was ich kriegen konnte. Die Älteren haben mich damals etwas veräppelt, weil ich schon mit zehn „Wallensteins Lager“ von Schiller gelesen habe. Das fanden die etwas übertrieben. Es gab in dem Internat eine große Bücherei und da habe ich mich sehr wohl gefühlt, habe auch viele Jugendbücher gelesen, wie Erich Kästner zum Beispiel. Das war schon sehr ungewöhnlich für das Dritte Reich, dass ich die Bücher von Kästner lesen konnte.

Zitiert

Geographisch habe ich keine Heimat.

Gerd Ruge

Mittlerweile sind Sie selbst unter die Schreibenden gegangen. Kürzlich ist Ihr neues Buch „Russland“ erschienen. In einem Interview sagten Sie allerdings dazu: „Bücher schreiben ist nicht angenehm!“
Ruge: Ja, denn man sitzt größtenteils alleine zu Hause, früher vor der Schreibmaschine, heute vor dem Computer. Filme machen ist lustiger. Da  muss man raus, Leute treffen, mit ihnen sprechen, neue Dinge sehen. Früher habe ich ja noch geraucht, aber heute, so die erste halbe Stunde ohne Zigarette vor dem Computer ist schon quälend. (lacht) Das Buch ist auch in Blöcken entstanden, weil es mich zwischendurch immer wieder in die Welt hinaus getrieben hat. Immerhin habe ich trotz allem ein halbes Dutzend Bücher hingekriegt.

In Ihrem Buch geht es um das deutsch-russische Verhältnis – welche Vorurteile gegenüber den Deutschen haben Sie in Russland erlebt?
Ruge: Bei den normalen Leuten sehe ich das relativ wenig. Ich habe in den 50er Jahren nie so was wie Deutschenhass erlebt, was man sich nach der Besatzungszeit ja hätte vorstellen können. Ich war damals auch bei Demonstrationen vor der deutschen Botschaft, da wurden Scheiben eingeschmissen, und dann kamen einige Studenten, merkten dass ich Deutscher bin, und meinten zu mir: „Machen dir keine Sorgen, das ist bloß Politik. Bei uns wird dir nichts passieren!“ Ich hatte nie wirkliche Schwierigkeiten in Russland. Die Vorbehalte gegen die Deutschen waren in dieser Zeit stärker bei Engländern und Holländern. Und in Amerika habe ich mal auf einer Party in New York eine Frau getroffen, die zu mir meinte: „Oh, I never thought I would see a real Nazi alive“. (lacht) Das war nicht böse gemeint, aber hat mich im ersten Moment geschockt.

Für wen haben Sie dieses Buch „Russland“ eigentlich geschrieben?
Ruge: Wenn ich das wüsste. (lacht) Das ist ja keine Darstellung von großer historischer Breite. Ich würde mal sagen, das Buch ist ein Spaziergang durch die deutsche und russische Geschichte, mit dem Versuch, die Vorurteile ein bisschen zu korrigieren und aufzuzeigen, wie diese die Geschichte mitgeprägt haben. Ich denke schon, dass das Buch einen guten Überblick über die Geschichte dieses Landes, aber auch seine derzeitige Verfassung liefert. Es ist für alle, die sich für dieses spannende Land interessieren, aber es spricht eben auch Leute an, die sich bisher noch nicht so intensiv mit Russland beschäftigt haben. Das ist ja auch der Sinn der Reihe „Die Deutschen und Ihre Nachbarn“ von Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt, in der dieses Buch erscheint.

Inwiefern sind denn die Menschen in Russland an Politik interessiert?
Ruge: Die waren zeitweise politisch stark interessiert. Das wurde beim Zusammenbruch der Sowjetunion ja auch ganz deutlich, mit der Reaktion der Leute auf den Putsch der konservativen Kommunisten. Doch dann kam eine Zeit, in der man versuchte, die politischen und wirtschaftlichen Strukturen neu zu begründen. Man musste das. Es war von der Sowjetunion nichts mehr übrig, mit dem man weitermachen konnte. Aber etwas Neues zu erfinden, das war in einem Land mit dieser Geschichte natürlich außerordentlich schwer. Das funktionierte schon im wirtschaftlichen Bereich nicht, weil die Lage und die Ausgangsposition sowieso schlecht war, aber auch weil sich die russischen Politiker zu schnell auf ausländische Experten, gerade junge Amerikaner, verlassen hatten und an den wirklich großen Problemen dieses Reichs gescheitert sind. Durch den wirtschaftlichen Zerfall kam dann auch die tiefe politische Enttäuschung. Nach Jelzin hatte Putin allerdings das enorme Glück, das sich zwei Jahre nach seinem Amtsantritt die wirtschaftliche Lage total veränderte. Der Ölpreis verzehnfachte sich im Vergleich zur Zeit Jelzins. Von dem Augenblick war die Ausgangsposition für Putin natürlich wesentlich besser. Die Leute, die vorher ihre Renten und Sicherheiten verloren hatten, hatten nun mit Putin wieder einen, der Alles regeln konnte. Putin hat dann eine Reihe von Strukturen zur Lenkung des Landes eingeführt und die Leute waren dankbar dafür. Viele sind es bis heute. Das private Leben wurde besser, aber das Interesse an praktischer Politik ging zurück.

Die Nachrichten, die der Kreml und die staatlichen russischen Presseagenturen und viele kontrollierte russische Medien über die politische Lage in Russland bringen, unterscheiden sich oft sehr von dem, was man im Westen liest oder im TV sieht. Welcher Seite kann man trauen?
Ruge: Das kann man so generell schwer sagen. Ich würde auch nicht sagen, dass man sich auf alle westlichen Zeitungen verlassen kann. Aber die Zeit der Pressefreiheit ist in Russland auf jeden Fall erstmal vorbei. In den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion war das enorm, da konnte man recherchieren was und wo man wollte. Aber dann wurde es völlig umgedreht. Teils griffen die Besitzer der privaten Fernsehstationen stark ein, aber auch der Staat.
Es gibt aber nach wie vor interessante Artikel in der russischen Presse zu lesen. Ich habe neulich einen ganz langen Artikel über die Verwandtschaftsbeziehungen in Politik und Staat gelesen. Das war ein enorm spannendes Netz und wurde ganz ohne Einschränkungen     dargestellt, – aber ohne Kommentar. Es gibt noch sehr viele gute Kollegen in Russland, aber es ist schon sehr schwer geworden, ungehindert zu arbeiten.

Wie zuverlässig sind denn die deutschen Medien in Anbetracht des schön-geschnittenen Interviews von Thomas Roth mit Putin vom August 2008, welches erst auf Drängen von Außen in ganzer Länge morgens um 06.20 Uhr im WDR-Fernsehen sowie im Internet gezeigt wurde?
Ruge: Das war eine ganz ärgerliche Geschichte, gerade weil es ein so ungewöhnliches Interview war. Als Thomas Roth das gemacht hatte, habe ich noch mit ihm telefoniert und er hat mir auch den Text gezeigt. Die Programmchefs hatten halt beschlossen, einen 10-Minuten-Beitrag zu senden, aber natürlich hätte man das komplette Interview kurze Zeit später senden müssen. Es passte dann aber wohl nicht ins Programmschema, vielleicht hätte eine Kochsendung gekürzt werden müssen. Das ist schon schrecklich mit dieser ganzen Bürokratie in unserem System. Das war aus meiner Sicht keine politische Entscheidung aber damit wird sie noch nicht besser. Ich fand das Interview hochinteressant, weil man den Putin zum ersten Mal richtig erlebt hat, als er so ungefähr erzählte: „Und jetzt sollen wir wieder Schuld sein. Da kommt man rein und sieht einen, der knechtet Menschen und quält sie und bringt sie um. Und wenn man diesem Kerl dann in die Fresse haut, dass die Zähne fliegen, dann sagen alle: Die Russen sind schuld!“ Das war ja eine richtige Landsersprache, die er da angewendet hat. So hatte ich ihn vorher nie erlebt und so etwas muss man auch mal sehen können. Nein, das war schon sehr ärgerlich, dass das Interview nicht gleich in voller Länge gesendet wurde.

Inwiefern kann man Spitzenpolitiker wie Putin überhaupt kritisch interviewen?
Ruge: Das hängt immer von der Art des Interviews und auch von der Stimmung des Gesprächspartners ab. In diesem Fall hat mich die Offenheit von Putin schon sehr erstaunt. Es ist ja immer die Frage, was man mit solchen Interviews erreichen will. Ein Informations-Interview von einigen Minuten erlaubt natürlich keine langen Nachfragen. Ich bin noch nie ein Freund von langen Politikerinterviews gewesen und bin es mittlerweile noch weniger, weil die Politiker immer mehr gelernt haben, sich kritischen Fragen zu entziehen. Aber man kann einen Politiker ja nicht zwingen, Geheimnisse auf den Tisch zu legen, indem man ihm Daumenschrauben anlegt, aber Fakten sollten schon sein und nicht bloß Gemeinplätze. In Deutschland ist es sowieso sehr schwer geworden gute Interviews zu machen. Das gilt auch für Interviews auf der Straße. Die Menschen kennen das Fernsehen und wissen genau, wie es wirkt wenn sie dieses oder jenes sagen. Sie sind sich oft ihrer Wirkung bewusst und sind dadurch nicht mehr so frei. In Russland ist das ideal, da fangen die Menschen auf der Straße gleich an zu schimpfen. (lacht)

Ist das System Putin für Sie denn durchschaubar?
Ruge: Wenn man sich die Entstehungsgeschichte des Systems ansieht, kann man schon einiges verstehen, aber es ist schon sehr schwierig, das stimmt. Ich habe vor kurzem mit einem Mann gesprochen, der war die graue Eminenz der sowjetischen Außenpolitik in den 60er bis 80er Jahren und der sagte zu mir: „Ich habe keine Zeit in der Sowjetunion erlebt, in der das System so undurchschaubar war wie heute.“ Also auch für solche Leute ist es schwierig zu erklären: „Wie funktionieren Entscheidungen? Wo werden die gemacht?“ Manchmal reden russische Experten von einem „millitärisch-industriellen“ Komplex“. Wir wissen heute, dass es um Putin herum einen Kreis gibt, in dem die Entscheidungen getroffen werden. Das sind zum einen die Geheimdienste, Leute aus dem Militär und auch aus großen Wirtschaftsorganisationen. Insofern sieht man da schon ein bisschen wie das läuft, aber es lässt sich nicht komplett durchschauen. Das System Putin lässt sich nicht in einem Schaubild zeichnen.

Eine letzte Frage: Können Sie sich noch an Ihre ersten Begegnung mit russischem Wodka erinnern?
Ruge: Wodka hat schon immer eine große Rolle in Russland gespielt. In den 50er Jahren war es noch ganz normal, dass bei den offiziellen Treffen vor dem Essen immer Wodka, dann Wein und danach Cognac und anderes getrunken wurde. Für mich war dann nachmittags der Tag gelaufen. (lacht) Ich war das nicht so gewohnt. Dann später in der Zeit der Stagnation in den 70ern wurde auch wahnsinnig viel getrunken, auch unter Journalisten und Intellektuellen. Da saß man dann eben abends in der Küche und hat drei bis vier Stunden gepichelt, diskutiert und Gedichte aufgesagt. Es war ja auch sonst nicht viel los und Geld gab es auch nicht zu verdienen. Später nach dem Ende der Sowjetunion, hat das dann nachgelassen – weil es wieder was zu tun gab.

3 Kommentare zu “Meine Frau sagt, als Rentner sei ich ein absoluter Versager!”

  1. Franz Gerharz |

    gerd ruge hat gesagt: „1ooo rubel, …“

    wie geht der vollständige spruch?

    danke!

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    1. Helga F. |

      „Eine Woche ist keine Zeit, 1000 Rubel sind kein Geld, 1 Flasche Wodka ist kein Getränk.“ Angeblich ein sibirisches Sprichwort

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  2. Daniel S. |

    Bezug nehmend auf Ihr Interview mit Gerd Ruge habe ich mir das empfehlenswerte autobiografische Buch „Gerd Ruge – Unterwegs“ besorgt (Taschenbuch). Ich habe ihn persönlich vor 34 Jahren bei gemeinsam produzierten WDR-TV-Sendungen über die deutsche Friedensbewegung im Raum Leverkusen / Köln / Bonn kennengelernt. Ich finde, Herr Ruge hat eine ganz tolle Lebensleistung geliefert und schafft es immer wieder, neue und frische Perspektiven auf Situationen und politische Entwicklungen anzuregen.

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