Horst Kläuser

Wer weiß, vielleicht kommt der Abschied vom System Putin schneller als wir Wodka sagen können.

Horst Kläuser über seine Zeit als Korrespondent in Moskau, Journalismus in Russland, Hofschreiber, die westliche Perpektive und den Kandidanten Dmitri Medwedew

Horst Kläuser

© WDR / Hermann-Josef Wöstmann

Herr Kläuser, Sie waren fünf Jahre Hörfunk-Korrespondent des WDR in Moskau. Was genau hat Sie 2002 dazu bewegt, in die russische Hauptstadt zu gehen?
Kläuser: Ich bin damals vom WDR gefragt worden. Vorher war ich fast sechs Jahre Korrespondent in Washington, wo ich über alles berichtet habe vom Lewinsky-Skandal bis zum 11. September. Und Washington und Moskau, das sind eben zwei ganz wichtige Pole der journalistischen Welt. Wer könnte da nein sagen?

Und wie sah es mit der Sprache aus?
Kläuser: Als ich in Moskau anfing, sprach ich kein einziges Wort Russisch. Ich spreche es bis heute auch nicht fließend. Ich kann mich gut verständigen, aber zu wichtigen Interviews kommen Dolmetscher mit – wie übrigens bei anderen Korrespondenten auch. Man lässt sich auch Fernsehmitschnitte, aus denen man gelegentlich zitiert, von Profis übersetzen. Weil es da auf jedes Wort ankommt.

Wie gestaltete sich Ihr Anfang in Moskau?
Kläuser: Als neu angereister Korrespondent stützt man sich anfangs oft auf das, was die hiesigen Medien berichten. Man hat noch keine Kontakte und keine Möglichkeiten, Minister anzurufen o.ä.
Mir dämmerte aber bald, dass die Medien hier eben nicht so pluralistisch sind. Als ich ankam, hatte Gasprom schon den letzten einigermaßen unabhängigen TV-Sender NTW übernommen. Fortan kam im Grunde die gesamte politische Berichterstattung im Fernsehen aus einer Ecke. Beim Radio ist das ähnlich, mal abgesehen von „Echo Moskwy“, ein vergleichweise liberaler Sender, der interessanterweise auch zu Gasprom gehört, aber offenbar ein Art „Narrenfreiheit“ genießt. Wobei das Gros der Radiosender sowieso völlig unpolitisch und ohne Nachrichten ist.
Bei den Zeitungen wurde der Einfluss des Kreml auch peu a peu immer stärker, bis hin zur Übernahme der „Izvestia“ durch Gasprom und des „Kommersant“ durch einen Putin nahestehenden Oligarchen. Für mich hieß das: Wenn man sich ausschließlich auf die russischen Medien verlässt, bekommt man im Grunde nur ein Bild aus einer Perspektive.

Und die Alternative?
Kläuser: Im Laufe der Zeit baut man Kontakte auf, zu Bürgerrechts-Organisationen, deren Arbeit im Laufe der Jahre aber ziemlich erschwert wurde durch die Gesetze für die Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs).
Organisationen wie zum Beispiel „Die Mütter von Beslan“ oder die „Soldatenmütter“, die sich um die Misshandlungen und die schlechten sozialen Zustände für die Rekruten kümmern.
Oder „Memorial“, das sich auf eine geschichtliche Aufarbeitung der Stalin-Ära aber auch allgemein auf Menschenrechtsverletzungen konzentriert. Es gibt das „Zentrum für Journalisten in Extremsituationen“ und die „Glasnost“-Foundation, die sich um die Unterdrückung journalistischer Arbeit in den Regionen kümmert.

Wie ist denn die Situation in den Regionen?
Kläuser: Die Zeitungen in den Regionen gehören oft „Mini-Oligarchen“ oder den Administrationen direkt. D.h. Journalisten, die da ein bisschen frei, unabhängig und womöglich kritisch berichten wollen, sehen sich sehr bald Repressalien ausgesetzt. Das fängt mit Kleinigkeiten an, da wird im Winter die Heizung abgestellt oder eines Morgens fehlen die Festplatten in den Computern usw.
Die regionalen Fernsehstationen werden zum Teil von den Gouverneuren oder den Bürgermeistern großer Städte direkt kontrolliert.
Insofern ist die Glasnost-Foundation für unsere Arbeit wichtig, weil sie Kontakt herstellt zu unabhängigen Journalisten. Und wenn man dann hinfährt und vor Ort mit diesen Kollegen spricht, bekommt man schon ein ganz anderes Bild als wenn man sich ausschließlich auf die Darreichungen der Administration verließe.
Es ist auch insgesamt betrachtet ausgesprochen kompliziert, unabhängige Meinungen zu hören. Es gibt hier wirklich keine Parteienvielfalt, es lohnt sich nicht, auf die Suche nach Oppositionspolitikern zu gehen. Also sind die einzigen, die ein bisschen aus einer anderen Ecke berichten können, Journalisten. Solche, die ein bisschen links und rechts vom Weg gucken, anders als der Mainstream.

Aber wenn weite Teile der Medienlandschaft dem Kreml dienen – hat das Gros der Journalisten in Russland ein anderes Selbstverständnis als hierzulande?
Kläuser: Natürlich gibt es hier keine gewachsene Journalisten-Kultur wie bei uns . Und auch bei uns dauerte das nach der 1945 eine geraume Zeit bis sich wieder ein selbstbewusster, unabhängiger Journalismus herausgebildet hat – der auch heute in Deutschland nicht frei ist von gewissen Zwängen, zum Beispiel wirtschaftlicher Art. In Russland ist das Ganze erst 17 Jahre her…

Doch war der Journalismus im Russland der 90er Jahre freier als heute, oder?
Kläuser: Also, da schauen manche so ein bisschen romantisch zurück – auf eine größere Freiheit, auf mehr Demokratie unter Jelzin usw. Ich habe aber gelernt, zu verstehen, dass das in der Zeit so eitel Sonnenschein auch nicht war.

Weil es eine Meinungsfreiheit derjenigen Oligarchen war, die Fernsehstationen und Verlage in der Hand hatten?
Kläuser: So ist es. Wo heute möglicherweise der Kreml oder „Edina Rossija“ (die Partei „Geeintes Russland“) oder dem Kreml nahestehende Konzerne den Journalisten die Meinung oktroyieren, waren es früher Oligarchen wie Gussinski, Beresowski & Co.

Wie sieht es heute mit der journalistischen Ausbildung in Russland aus?
Kläuser: Ein Problem ist: Unser Beruf ist ja in erster Linie auch ein handwerklicher Beruf, man muss lernen zu recherchieren, skeptisch zu sein, zu hinterfragen. Nun gibt es hier zwar viele journalistische Fakultäten, die vielleicht das Schreiben lehren, aber nicht unbedingt die Hartnäckigkeit und die Unabhängigkeit forcieren. Das ist natürlich auch keine Tugend, die jetzt vom Kreml besonders gewollt wäre.

Woran merken Sie das?
Kläuser: Mir ist das oft bei russischen Kollegen aufgefallen, die sich zum Beispiel ärgern, wenn von ausländischen Journalisten allzu kritische Fragen kommen. Oder wenn einige der russischen Journalisten auf Pressekonferenzen ihre Fragen erst mal mit einer großen Dankesarie an die Veranstalter der Pressekonferenz beginnen. Die bedanken sich dann für die Möglichkeit, Fragen stellen zu dürfen, loben die tolle Einrichtung, oder die Tonanlage usw. Das habe ich oft erlebt und das hat mich kolossal irritiert. Ich denke, das sagt in der Tat etwas über das Selbstverständnis der hiesigen Journalisten aus.

Die sehen sich als Hofschreiber für den Kreml?
Kläuser: Gewiss. Hinzu kommt natürlich: Die Zahlen, dass im 70 Prozent der Russen Putins Kurs für richtig halten, die sind vermutlich nicht einmal getürkt. Und wenn gilt, dass Journalisten immer auch ein Abbild der Gesellschaft sind, dann finden sich natürlich auch unter den Journalisten jede Menge Leute, die den Kurs Putins für gut heißen. Es ist nicht so, dass im Kreml ganze Heerscharen von Schreibern säßen, die den Journalisten vorgeben, was sie zu schreiben hätten. Sondern das sind tatsächlich überzeugte Putin- und Kreml-Anhänger, die finden den Kurs gut. Erst recht den Kurs des außenpolitischen Selbstbewusstseins, des militärischen Erstarkens, der ökonomischen Übermacht – die finden das prima. Da sind viele Patrioten, grenzgängig Nationalisten, noch grenzgängiger: Chauvinisten – ja, solche gibt es natürlich auch unter Journalisten.

Und ausländischen Journalisten wird nicht selten vorgeworfen, sie würden anti-russische Propaganda verbreiten.
Kläuser: Ja, aus der Geschichte des russischen Journalismus heraus glauben die Kollegen allen Ernstes, wir hätten hier einen offiziellen Auftrag zu erfüllen. Und wenn mich ein russischer Kollege fragt: „Was musst du denn darüber schreiben?“ – dann offenbart sich da ein eklatantes Missverständnis unserer Arbeit: Ich schreibe, was ich sehe und kommentiere es, wenn ich dazu angehalten bin. Meine Meinung muss nicht jeder mögen, aber ich habe in meiner 30-jährigen Radio-Laufbahn nicht erlebt, dass jemand meine Meinung redigiert hätte. Man hat im Nachhinein vielleicht gesagt: „Das war unmöglich“ – aber dann war es schon gesendet.
Hier fühlen sich offensichtlich manche Journalisten in der Pflicht ihres Senders oder ihrer Zeitung, genau nach Linie zu schreiben.
Und es kommt hinzu, dass einige der Journalisten, die Ende der 90er Jahre vielleicht noch ein bisschen mehr gewagt haben, schlicht aus Angst oder finanzieller Sorge in der Berichterstattung einen Weg geringeren Widerstands gewählt haben. Das kann man aus menschlicher Sicht auch keinem verdenken. Es muss hier ja nicht jeder wie ein Held rumlaufen, um dann möglicherweise einen tollen Grabstein zu kriegen – und Journalisten-Organisationen aus aller Welt solidarisieren sich mit dem erschossenen Kollegen. Nein, wenn ich weiß, ich habe eine Familie zu ernähren und möchte in diesem Land einigermaßen gut leben, vermutlich würde ich persönlich dann auch Kompromisse eingehen. Es gibt – weit unterhalb der Schwelle der Zensur oder der Bedrohung durch die Regierung – sicherlich Muster im persönlichem Verhalten, die einem Journalisten nahe legen: Geh diesen Weg, der ist besser für dich.

Und den unabhängigen Journalisten wird das Leben immer schwerer gemacht.
Kläuser: Ja, neben der ökonomischen Knute, die eingesetzt wurde, also der Besitzübernahme von Medien durch den Kreml oder ihm nahestehende Unternehmen, gibt es natürlich noch die legislatorische. D.h. es wurden immer schärfere Mediengesetze verabschiedet, vor allen Dingen im Umfeld von Terroranschlägen. Da wird dann sehr vage formuliert, die Berichterstattung sei zu unterlassen, wenn sie den Terror fördern oder wenn sie Ermittlungen des Geheimdienstes FSB behindern könnte. Das kann vieles heißen, das ist so ein Gummi-Paragraph.
Überhaupt werden die Möglichkeiten der Berichterstattung eingeschränkt: Bei der Befreiung der Geiseln im Musical-Theater „Nordost“ hat man ja noch Live-Bilder im Fernsehen gesehen. Heute glaube ich, würde man im Vorfeld dafür sorgen, dass eben solche Kameras nicht aufgebaut werden können, oder der Strom wegbleibt… Im Fall von Beslan zum Beispiel erinnere ich mich, dass wir in unserem Moskauer Studio damals live das ungeschnittene Material der European Broadcasting Union sahen, Material von unterschiedlichen Fernsehanstalten, die sich ringsum postiert hatten. Ich kommentierte damals „live“ vom Bildschirm, zum Teil aus besserer Perspektive als die Kollegen, die vor Ort waren.Viele dieser dramatischen Bilder sind allerdings niemals im russischen Fernsehen gezeigt worden. Sie werden auch heute äußerst selten verwendet.

Aber in technischer Hinsicht wirkt das russische Fernsehen äußerst professionell.
Kläuser: Ja, technisch ist das russische Fernsehen immer besser ausgestattet, inklusive des neu entstandenen Auslandssenders „Russia Today“ der 24 Stunden am Tag ein streng formatiertes Nachrichtenprogramm sendet. Das ist bis in die Programmtrailer ein hochprofessionelles Programm, mit guten Englisch-Sprechern, zum Teil sogar Muttersprachlern. Dieses Programm gibt sich einen liberaleren Anschein, als die Programme, die für die russischen Zuschauer gemacht werden, aber man merkt deutlich die führende Hand dahinter. Und auch die anderen Fernsehsendungen sind technisch immer perfekter. Die sind schnell, haben gutes Equipment, die gehen sofort auf den Satelliten…
Man erzeugt eine Medienwirklichkeit, wo sich der unvoreingenommene Beobachter sicherlich denkt: „Wir haben doch eine tolle Medienlandschaft.“ Wenn man aber dahinter guckt, ist die Pluralität der elektronischen Medien minimal und die Inhalte selbst bleiben an der Oberfläche. Es wird nur das gesagt, was gesagt werden kann, ohne jemandem im Kreml weh zu tun.

Negativ fällt dagegen oft die Berichterstattung über die Ukraine aus.
Kläuser: Die Orangene Revolution hat in Russland für sehr viel Furore gesorgt. Und es wird sehr oft expressis Verbis gesagt: „Wir möchten keine orangenen Verhältnisse in Russland.
Für den Kreml war diese Revolution eine Art Weckruf: Kurz danach kamen die neuen Gesetze für die NGOs, wurden Parteien ganz genau daraufhin untersucht, wer möglicherweise ihr Financier sein könnte… – davor hat man hier wirklich Angst, das ist so ein Menetekel für die russische Politik.

Das russische Fernsehen suggeriert auch eine unmittelbare Nähe zum Präsidenten.
Kläuser: Ja, es gibt zum Beispiel diese Fragestunde quer durch’s Land, wo dann 10-15 Orte zusammengeschaltet werden. Das ist immer sehr rührend inszeniert: Da steht dann ein halbes Dorf vor der Kamera, sagt „Hallo Herr Präsident“ und einer darf vortreten und zum Beispiel fragen, warum die Straßenbahn im Ort seit Jahren nicht repariert wird. Oder warum die Zustände im Krankenhaus so schlecht sind. Mehr als legitime Fragen, auf die Putin dann reagiert, indem er gleich aus der Sendung heraus Anweisungen an die zuständigen Ministerien gibt.

Gerade das kommt ja relativ oft vor, dass die Kamera angeblich genau in dem Moment dabei ist, wo Putin Entscheidungen von großer politischer Bedeutung fällt. Der Kreml scheint jedenfalls immerzu an seiner Erscheinung in den Medien zu feilen.
Kläuser: Aber ist das nicht legitim? Tun wir doch nicht so, als würde das der Kreml allein machen. Das passiert im Elysee-Palast, das passiert in der Downing-Street und ich hoffe für die Bundesrepublik, dass das im Bundeskanzleramt auch passiert. So tickt die politische Welt heute und ich glaube, wenn ein heute regierender Politiker in solchen Dingen unprofessionell ist, wenn es nicht eine gewisse Regie gibt, dann könnte man ihm das zurecht zum Vorwurf machen.

Aber das Maß der Manipulation scheint in Russland ungleich höher.
Kläuser: Gar keine Frage. Ich will nur darauf hinweisen, dass das nicht ein allein russisches Phänomen ist.
Natürlich, es gibt Tage, an denen mag ich das russische Fernsehen auch einfach nicht mehr gucken. Wenn Putin dann in seinem Büro am Tisch sitzt, die Hände brav auf dem Tisch gefaltet und gegenüber der mehr oder weniger glückliche Gesprächspartner, der ihm dann Rapport erstattet. Ob das jetzt der Wirtschaftsminister ist, der ihm die neuesten Kennzahlen der Wirtschaft nennt, oder der Verteidigungsminister, der sagt „die russische Flotte einsatzbereit“, oder der Außenminister, den er fragt was er mit Condoleeza Rice besprochen hat… – das ist so ein bisschen inszeniertes Kinderfernsehen.
Aber: Die Botschaft des Präsidenten ist immer glasklar, konzentriert, er hat das Zepter in der Hand, er erteilt Anweisungen, er stellt besorgte Fragen, auch solche, die das Publikum interessieren. Und alles, was er sagt, ist fortan politische Meinung. Wenn durch Putin gewisse Sprachregelungen vorgegeben werden, wird man in den folgenden Tagen und Wochen jeden, den man dazu befragt – ob Regierungssprecher, Minister etc. – mit genau dieser Formulierung hören. Das ist schon bemerkenswert organisiert, das hat der Apparat gut im Griff.

Glauben Sie, Putin verfolgt mit all dem eine konkrete Strategie?
Kläuser: Ich glaube, es gibt eine Strategie, ich weiß aber nicht, was Putins letztes Ziel ist. Auf jeden Fall sind die Medien ein immer wichtiger werdendes Instrument. Ein Instrument, das vom Kreml und den tragenden Parteien auch immer souveräner und professioneller benutzt wird.
Es kommt hinzu, dass die Medien die Kremlmeinung in einer Heinsicht fast durchgängig stützen: in dem sie den westlichen Medien negative und einseitige Berichterstattung vorwerfen. Selbst in manchmal kremlkritischen Zeitungen wie der „Nowaja Gazeta“, der „Nesawissimaja Gazeta“ oder im „Kommersant“ finden sich deutliche Seitenhiebe auf die westlichen Medien.

Sind die denn immer unberechtigt?
Kläuser: Ich will mich nicht grundsätzlich von dem Vorwurf freisprechen, dass wir Korrespondenten nicht auch ein Bild in einer gewissen Farbe zeichnen. Aber wir berichten ja nicht direkt, sondern geben unsere Berichte an die Redaktionen. Und in den deutschen, englischen und amerikanischen Redaktionen gibt es natürlich auch eine gewisse Vorprägung in Bezug auf die Nachrichten, die aus Russland erwartet werden. Themen wie die fehlende Demokratie, bedrohte Pressefreiheit, marodes Militär, Großmachtansprüche, Erpressung durch Energie – mit all diesen Sachen landen sie sofort in den Programmen und in den Zeitungen.
Andere Themen dagegen, nehmen wir jetzt mal die fiktive Überschrift „Demokratie im Vormarsch – Kreml-Opposition zeigt die Zähne“ – ich glaube, das passt nicht in die Wahrnehmung vieler Kollegen in den Redaktionen.

War das bei Ihren Berichten als USA-Korrespondent anders?
Kläuser: Ja, für Berichte aus Amerika sind die Redaktionen offener, aus Amerika ist latent alles interessant. Ob Madonna ein Kind bekommt, ein Hurrikan durch Texas fegt oder das iPhone verkauft wird – alles.
In Deutschland ist es aber so: Praktisch niemand bei uns kennt russische Filme oder Popmusik, das interessiert auch nicht. Bei uns wird im Radio praktisch zu 50 Prozent amerikanische Musik gespielt und im Kino dominieren Hollywood-Filme ohnehin. Diese Prägung unserer Kultur und Wahrnehmung durch Anglizismen oder Amerika ist viel stärker.
D.h. mit den etwas am Rande liegenden Themen, wo in Russland eine kleine Meinungsvielfalt, ein innerer Diskurs dargestellt wird, ist es schwieriger bei den Redakteuren zu landen.

Sie selbst haben mal einen Tagesschau-Blog-Eintrag überschrieben mit „positive story gesucht“…
Kläuser: Und ich habe solche Geschichten gefunden. Ich habe eine Reihe von russischen jungen Unternehmern kennen gelernt, im Alter zwischen 35 und 45. Keine Oligarchen, aber auch nicht unbedingt arme Leute. Menschen, die sich nach ähnlichen ethischen Grundsätzen bewegen wie Unternehmer in Deutschland, denen ich auch blind einen Gebrauchtwagen abkaufen würde. Das sind Leute, die innovativ sind, Kontakt mit dem Westen haben, sich nicht einschüchtern lassen, offen sind für Ideen, die ihre Kunden ernst nehmen – und das alles nicht nur zur persönlichen Bereicherung. Ich habe einen Textilunternehmer getroffen, der in Russland eine Kette aufgebaut hat mit Klamotten für reifere Damen. Damit hat er sehr viel Geld verdient – und jetzt will er eine ökologische Landwirtschaft im Süden von Moskau aufbauen. Er hat 1200 Hektar Land gekauft, holt sich Experten für alles mögliche, inklusive dem umweltschonenden Bau der Häuser, es gibt eine spezielle Bewässerung …
Ich habe Akademiker kennen gelernt, die durchaus stolze Russen sind, aber die auch sagen: dies und das stimmt nicht in unserem Land. Man braucht bei der Unterdrückung ja immer zwei Parteien: einen Kreml, der unterdrückt und eine Meinung vorgibt und ein Volk, dass so lethargisch ist, das alles zu schlucken. Und leider gibt es in der russischen Bevölkerung wenig Interesse an Politik. Selbst wenn ich vertraulich mit russischen Freunden gesprochen habe – das Interesse an Politik ist selten mehr als Null.

Welche Rolle spielt in Zukunft das Internet?
Kläuser: Das Internet wird eine immer größere Rolle spielen. Es gibt ja nach wie vor eine große Zahl von politisch denkenden Menschen, denen auffällt, dass die anderen Medien keine große Meinungsvielfalt bieten. Die gehen ins Internet, das bislang offenbar nicht zensiert wird, abgesehen von einigen Versuchen, die es schon gegeben hat. Eine ganze Menge von Angeboten im Internet, kommt deswegen viel freier daher als die elektronischen und die Print-Medien. Newsru.com oder Lenta.ru zum Beispiel, auch die Homepage von „Echo Moskwy“. Und eine immer größere Rolle spielen die Blogs.
Allerdings werden diese Internet-Medien bislang nur von einer Minderheit genutzt, die technisch versiert ist und die überhaupt erst mal einen Internetzugang hat. In intellektuellen Kreisen, bei Journalisten, Studenten, Akademikern, da spielt das Internet schon eine große Rolle.

Die wirtschaftliche Verflechtung Russlands mit Deutschland und der EU hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Glauben Sie, dass die wirtschaftlichen Beziehungen die Entwicklung einer Demokratie in Russland begünstigen, vielleicht sogar vorantreiben werden?
Tja, das ist eine gute und wichtige Frage. Bislang hat die härtere Gangart Putins ja den Geschäften nicht geschadet. Im Gegenteil. Deutsche Unternehmen, andere Europäer, selbst die zur Zeit in Ungnade gefallenen Engländer und die Amerikaner machen trotz diplomatischer Wirrungen formidable Geschäfte. Die Hoffnung, dass die wirtschaftliche Gesundung Russlands quasi automatisch auch zu mehr Demokratie im Lande führte, hat sich definitiv nicht erfüllt. Im Gegenteil: Russland, d.h. die Führungselite fühlt sich offenbar wirtschaftlich so stark und unangreifbar, dass man demokratische Errungenschaften der Jelzin-Ära zurückdrehen kann, ohne dass der Westen zu laut aufschreien würde. Und täte der es doch: den Kreml – und schlimmer noch – die Bevölkerung selbst scherte das wenig.

Zum Schluss: Wie sehen Sie Russland in der Zukunft, sind Sie optimistisch?
Kläuser: Meine Zuversicht nährt sich aus der Überlegung, dass nach der säbelrasselnden Periode, in der wir jetzt sind, eine gewisse Ruhe einkehren wird, dass man sich wieder darauf besinnt, außenpolitische Ziele auf anderem Wege zu erreichen. Und ich habe die Hoffnung, dass man anfängt, darüber nachzudenken, wie man mit den enormen Geldmengen, die das Land angesammelt hat, umgeht. Die Währungs- und Devisenreserven, die Goldreserven, die weit über 400 Milliarden Dollar betragen, der Stabilitätsfond, der abgeschöpft wird von den Gewinnen bei Öl und Gas – ich hoffe, dass dieses Geld endlich für die Gesundung der Infrastruktur eingesetzt wird. Krankenhäuser, öffentlicher Nahverkehr, Schulen, Straßen – da liegt in Russland so viel im Argen. Und wir sprechen hier ja nicht über ein Entwicklungsland, sondern dies ist eine gebildete Nation, mit fast unendlichen Ressourcen.
Ich würde gerne mal Roman Herzog nach Russland schicken, eine Rede zu halten. Wenn durch dieses Land endlich mal ein Ruck ginge – das täte Russland gut. Ich habe dieses Land schätzen und lieben gelernt, aber ich bin an ihm auch manchmal schlichtweg verzweifelt. Es tut einem wirklich weh, wenn man sieht, welche Chancen dieses Land eigentlich hat. Und ich denke immer: Macht was draus!

Der voraussichtlich neue Präsident Dmitri Medwedew wird mitunter als liberaler Hoffnungsträger des Westens beschrieben – teilen Sie diese Einschätzung?
Da bin ich mir nicht sicher. Vielleicht unterschätzen wir Medwedew, so wir anfangs Putin unterschätzt haben. Wer hätte dem schüchternen Ziehsohn von Jelzin, einem Noname, den die US-Medien mit „Vladimir Who?“ beschrieben, schon zugetraut, sich zu solch einem markanten und starken Präsidenten zu entwickeln, der obendrein höchst populär ist? Medwedew mag als schüchtern daher kommen. Aber es gibt kleine Indizien – etwa sein Bekenntnis zur Stärkung der unabhängigen Justiz, zu einem liberalen Wirtschaftskurs – die die Hoffnung nähren, dass er sich aus dem Schatten Putins lösen wird und einen eigenen Stil findet. Wird Putin das zulassen, bleibt er überhaupt stark genug, um Medwedew „als Marionette“ zu führen, was manche Beobachter ja befürchten? Ich weiß es nicht. Aber eins ist sicher: jetzt als westlicher Beobachter so zu tun, als wüssten wir, wohin die Reise Russlands nach der Wahl unter Medwedew ginge, wäre mehr als vermessen. Wer weiß, vielleicht kommt der Abschied vom System Putin schneller als wir Wodka sagen können und das erste was Medwedew tut, ist ihm Straffreiheit zuzusagen – wenn er sich ansonsten zurückzieht….

Ein Kommentar zu “Wer weiß, vielleicht kommt der Abschied vom System Putin schneller als wir Wodka sagen können.”

  1. Waldi |

    Nach dem ausfurlichr Interviev Thomas Roth von Thomas Roth an Vladimir Putin im ZDF wissen wir ja wie weit Deutschlan und gans Westen fon Russland „entfernt“ ist

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