Mechtild Maurer

Kindesmissbrauch ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema

Die Chefin von ECPAT Deutschland Mechtild Maurer über ihre Arbeit, das Problem der Kinderprostitution im deutsch-tschechischen Grenzgebiet, notwendige Hilfsmaßnahmen und Gefahren durch das Internet

Mechtild Maurer

© ECPAT Deutschland

Frau Maurer, Sie sind Geschäftsführerin von „ECPAT Deutschland“, einer Kinderschutzorganisation, die sich mit Vertretungen in 45 Ländern gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern einsetzt. Wie kam es zur Gründung des Vereins?
Mechtild Maurer: Es war zum ersten Mal Anfang der 90er Jahre als bekannt wurde, dass Kinder in Tourismusgebieten sexuell ausgebeutet werden. Bei einem Brand eines Bordells auf Phuket/Thailand wurden bei Rettungsmaßnahmen angekettete Kinderkörper gefunden und diese Tragödie gab den Anlass, etwas genauer hinzuschauen und führte letztendlich auch zur Gründung von ECPAT. In Asien wurden dann zunehmend Studien durchgeführt und es wurde festgestellt, dass dieses Problem weitaus verbreiteter ist, als bis dahin angenommen wurde.

Phuket war auch eine der Regionen, die im Dezember 2004 von der schweren Flutkatastrophe betroffen waren. Inwiefern kann man Aussagen darüber machen, dass Sextouristen das Chaos vor Ort ausgenutzt haben, um ihre Geschäfte zu betreiben?
Maurer: Wir wissen heute, dass die Sextouristen die ersten Personen waren, die an den Ort des Geschehens zurückkehrten um nach neuen Opfern zu suchen. Und wir mussten feststellen, dass im Zuge der Flutkatastrophe viele migrierte junge Frauen und Mädchen aus den angrenzenden Ländern wie Burma oder Laos, die nach Phuket kamen um der Prostitution nachzugehen, in den Fluten starben.

Wie sieht Ihre tägliche Arbeit als Geschäftsführerin von ECPAT aus?
Maurer: Unsere Arbeit verteilt sich auf mehrere Schwerpunkte. Im Ausbildungssektor bieten wir regelmäßige Schulungen an, in denen wir zeigen, wie man vor Ort mit betroffenen Menschen umgehen sollte und anhand welcher Anzeichen und Warnsignale man in betroffenen Ländern erkennen kann, dass die Prostitution von Kindern und jungen Frauen praktiziert wird. Außerdem setzen wir uns verstärkt für die Strafverfolgung in Deutschland ein und nehmen Hinweise von Personen auf, die verdächtiges beobachtet haben und leiten entsprechende Aussagen an die Polizei weiter. Wichtig ist, dass wir dann trotz Einschaltung der Behörden immer auch versuchen, weiter an den Fällen dran zu bleiben um sicherzustellen, dass der Fall nicht erledigt ist, sobald die Staatsanwälte ihre Akten schließen. Des weiteren sind wir auch in Schulen präsent, um auf die aktuelle Problematik hinzuweisen und kooperieren mit Organisationen wie UNICEF und Vertretern aus der Politik auf internationaler Ebene.

Gemeinsam mit UNICEF fordern Sie von der Deutschen Regierung eine umfassende Aufklärungsaktion für Polizei und Bundesgrenzschutz an der deutsch-tschechischen Grenze. Wie soll diese genau aussehen?
Maurer: Es gab in Zusammenarbeit mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen eine gemeinsame Konferenz mit tschechischen und deutschen Regierungsvertretern, auf der vereinbart wurde, dass eine allgemeine Aufklärungsaktion, auch für Polizei und Bundesgrenzschutz, gestartet wird. Allen Beteiligten sollte einmal mehr klargemacht werden, dass der sexuelle Missbrauch Minderjähriger durch Urlaubstouristen eine gravierende Straftat darstellt und nicht geleugnet oder beschönigt werden darf. Diese Verbrechen können aber nur bekämpft werden, wenn die Polizei auf beiden Seiten weiß, wo die Knackpunkte sind. In der Vergangenheit sind die Opfer aus Sicht der Polizei immer auch ein Teil der kriminellen Tat gewesen und es fehlte an mangelnder Sensibilität im Umgang mit den schutzbedürftigen Kindern. So wurden viele Kinder kurzerhand abgeschoben oder unbedacht in irgendwelche Kinderheime verfrachtet. Sexuelle Missbrauchsopfer dürfen nicht als Kriminelle angesehen werden, sondern brauchen unsere Hilfe.

Warum hat die Bundesregierung diese Aufklärungsaktion bisher aber nicht vorgenommen?
Maurer: Es ist natürlich schwierig in diesen Bereichen miteinander zu kooperieren, wir sehen es schon als großen Schritt an, dass es überhaupt zu einer Absprache zwischen den verschiedenen Partnern gekommen ist. Um diese Pläne dann letztendlich aber auch in der alltäglich operationalen Arbeit zu etablieren, bedarf es viel Zeit und Geld und da hat bislang der politische Wille gefehlt. Ich habe es bei vielen auswärtigen Schulungen erlebt, dass letztendlich ECPAT mein Honorar bezahlen musste, und es sehr schwierig war, allein das Fahrtgeld von der Regierung erstattet zu bekommen. Das zeigt mir, dass die Konsequenz der Vereinbarung, uns Mittel für unsere Aktionen zur Verfügung stellen, in vielen Köpfen noch nicht angekommen ist.

Eine Umfrage der UNICEF und der Prager Karls-Universität unter 1.500 Schulkindern bis 15 Jahre in Prag und dem deutsch-tschechischen Grenzgebiet ergab kürzlich, dass etwa jedes zehnte Kind schon mal von einem Erwachsenen Geld für sexuelle Handlungen angeboten bekommen hat. Haben Sie diese hohen Zahlen überrascht?
Maurer: Nein, diese Resultate zeigen einfach die faktische Situation. Man hat in der Vergangenheit oft versucht, Organisationen wie UNICEF und ECPAT vorzuwerfen, sie würden pausenlos übertreiben und wüssten nicht wovon sie reden. Man hat uns auch schon unterstellt, wir würden einzelne Personen für reißerische Äußerungen in der Presse bezahlen, doch angesichts der Untersuchungsergebnisse sind derartige Vorwürfe mehr als haltlos. Das Thema Kindesmissbrauch ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema, und viele Menschen glauben anscheinend, dass sie es mit Totschweigen aus der Welt schaffen können. Das ist aber ein fataler Irrtum!

Waren Sie selber schon vor Ort in den Grenzgebieten? Was waren Ihre Eindrücke?
Maurer: Ich war schon öfters in diesen Gebieten und es hat mich schon sehr beeindruckt und schockiert, dass junge Frauen mir erzählten, dass sie bereits mit 13-14 Jahren Prostitution betrieben haben und sich anfänglich gar nicht darüber im Klaren waren, dass mit dieser Tätigkeit auch ein langsamer Verelendungsprozess einhergeht, sondern sie es sogar als Chance gesehen haben. Deshalb ist es so wichtig, die Jugendlichen darüber aufzuklären, dass die Prostitution kein Ausweg aus der Krise darstellt, sondern dass durch sie alles nur noch schlimmer wird, man sich Krankheiten wie Hepatitis oder Aids einfangen kann oder drogenabhängig wird.

Hat die Kinderprostitution in Tschechien seit der jüngsten EU-Osterweiterung zugenommen?
Maurer: Nein, das kann man so nicht sagen. Die grenzüberschreitenden Möglichkeiten für deutsche und österreichische Ausflügler waren auch schon vorher gegeben, allerdings hat sich ein Teil des Kinderhandelgeschäftes in der Tat an die neuen EU-Ostgrenzen verlagert. Das Risiko, als Täter aufzufliegen und für seine Handlungen zur Rechenschaften gezogen zu werden ist in den neu dazugekommenen Gebieten leider noch sehr gering.

Zitiert

Sexuelle Missbrauchsopfer dürfen nicht als Kriminelle angesehen werden, sondern brauchen unsere Hilfe.

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Inwiefern könnte eine gemeinsame EU-Verfassung helfen, Kinderprostitution effizienter zu bekämpfen?
Maurer: Bereits im Erweiterungsvertrag sind viele diesbezügliche Aspekte enthalten, und es haben ja auch fast alle Länder die Europäische Kinderrechtskonvention unterschrieben und ratifiziert, doch entscheidend wird sein, inwiefern die EU und die Zivilgesellschaft auf die Umsetzung dieser Maßnahmen beharren wird, um die Kinder zukünftig besser schützen zu können. Dazu bedarf es eines wachen Auges und die verschiedenen Organisationen müssen immer wieder auch den Finger auf die Wunde legen und die Umsetzung dieser Maßnahmen einfordern.

Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer der Missbrauchsdelikte in Deutschland?
Maurer: Das ist bei Delikten wie Kinderprostitution und Kinderhandel immer schwer zu sagen, denn wir haben nur wenig Fakten darüber, wie sich das Dunkelfeld mit dem Hellfeld in Beziehung setzt. Ich denke aber, sobald wir hier ausführlichere Informationen vorliegen haben, wird auch die öffentliche Bereitschaft größer sein, mit umfassenden Maßnahmen gegen dieses Problem vorzugehen.

Inwiefern kann eine verstärkte öffentliche und mediale Thematisierung des Kindesmissbrauchs im negativen Sinne auch dazu führen, dass die Täter sich dahingehend motiviert fühlen, mit ihren Verbrechen fortzufahren, weil sie merken, dass ihr Verhalten öffentliches Aufsehen erregt?
Maurer: Das kann man natürlich nie ausschließen, denn es gibt unter den reisenden Ausflüglern durchaus auch Leute, die die ganze Sache aus einem hedonistischen Weltbild heraus betrachten und auch keine Angst davor haben, ihre Neigung in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Dadurch bekommen diese Menschen natürlich auch eine gewisse mediale Präsenz. Doch wenn diese dann wiederum dazu führt, den Aufklärungsdruck auf diese Täter zu erhöhen und auch für eine entsprechende Bestrafung zu sorgen, dann können die Medien durchaus auch eine positive Rolle einnehmen. Doch die haben sie in der vergangenen Zeit leider nicht immer gehabt.

Wie beurteilen Sie denn die oft sehr sexualisierte Darstellung von Girlie-Stars wie Britney Spears in den Medien? Welche Gefahren sind damit verbunden?
Maurer: Personen mit pädosexuellen Neigungen haben ja schon immer gewusst, wie sie auf legale Weise, zum Beispiel durch FKK-Bilder- und Zeitschriften, ihren Trieb befriedigen können. Die Gefahr ist immer groß, dass Bilder und Filme, die Jugendliche in bestimmten sexualisierten Situationen zeigen, von Pädosexuellen für ihre Zwecke missbraucht werden. Man muss in jedem Einzellfall abwägen, was vertretbar ist. Doch ich bin grundsätzlich der Meinung, lieber ein Bild mehr zu entfernen, als eines zu wenig. Die Abwägung sollte immer zugunsten der Kinder passieren.

Es gibt auch Wissenschaftler die eine These vertreten, nach der den Opfern eine Mitschuld an den Taten angelastet werden kann, aufgrund eines ökonomischen Interesses, sprich die Kinder würden an den sexuellen Interaktionen teilnehmen, um daraus finanziellen Gewinn zu schlagen. Wie stehen Sie zu dieser These?
Maurer: Das ist schon eine sehr alte These, die ja des öfteren auch bei Vergewaltigungen aufkommt, wo dann gesagt wird, hätte sich das Kind nicht so aufreizend angezogen und wäre auch nicht die einsame Straße entlang gelaufen, dann wäre auch nichts passiert. Das alles sind, meiner Meinung nach, reine Rechtfertigungsversuche um das eigentliche Problem möglichst weit von sich weg zu schieben. Des weiteren kommt es sogar vor, dass sich Sex-Touristen durch die Bezahlung der Kinder und Jugendlichen als Entwicklungshelfer bezeichnen, weil sie ja Geld in das Land hineintragen würden. Das ist in meinen Augen nicht nachvollziehbar, denn oftmals sind es ja auch die Touristen selber, die aus diesen Handlungen Gewinn schlagen, indem sie letztendlich kinderpornographische Bilder an Interessenten verkaufen.

Pädophile nutzen für ihre Zwecke heutzutage auch das Internet, versuchen in Chaträumen Kontakte zu Kindern aufzubauen und auf unzähligen Websites und in einschlägigen Foren werden kinderpornographische Inhalte angeboten. Wie kann dieser Entwicklung Einhalt geboten werden?
Maurer: Es ist sehr positiv, dass in vielen Bundesländern bereits geeignete Polizeidienststellen eingerichtet wurden, die sich ganz konkret mit der Aufdeckung kinderpornographischer Delikte im Internet befassen. Trotz alledem müssen wir uns fragen, wie die Kinder zukünftig noch besser geschützt werden können. Hierzu ist es wichtig, dass Kindern und vor allem auch ihren Eltern eine Internetkompetenz beigebracht wird. Lehrer und Eltern müssen dahingehend geschult werden, dass sie erkennen können, welche Gefahren das Internet birgt und dass sie die Kinder nicht einfach drauflos surfen lassen.

Warum ist es eigentlich so schwierig, kinderpornographische Inhalte im Internet aufzuspüren und zu entfernen?
Maurer: Die Provider haben es bislang nicht als ihre Aufgabe angesehen, gegen dieses Problem vorzugehen. Des weiteren bewegen wir uns hierbei immer in dem Spannungsfeld Kinderschutz contra Datenschutz. Doch um die Kinder wirksam zu schützen muss man im Zweifel einfach auch mal bestimmte Daten von der Anonymisierung befreien, um so eine entsprechende Aufklärung voranzutreiben.

Die Berliner Charite hat jüngst Pädophile öffentlich dazu aufgerufen, sich freiwillig für eine Therapie zu melden, bevor es zum Missbrauch von Kindern kommt. Was halten Sie von dieser Maßnahme?
Maurer: Sicherlich können so einige potentielle Sexualstraftäter ausfindig gemacht und erreicht werden, doch ich frage mich immer wieder, warum sich alle öffentlichen Bemühungen immer nur auf die Täter konzentrieren und die Opfer vernachlässigt werden? Hier muss ein gutes Gleichgewicht gefunden werden, das ich bisher leider noch nicht sehe.

ECPAT Deutschland e.V. ist ein bundesweiter Zusammenschluss von 28 Institutionen und Gruppen, die sich einem gemeinsamen Credo verschrieben haben: Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch. ECPAT setzt sich u.a dafür ein, dass die mehr

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