Matthias Horx

Das deutsche Hirn ist besonders von Angst geprägt.

2017 wird Syrien befriedet sein, sagt Zukunftsforscher Matthias Horx. Im ausführlichen Interview spricht er über seine Forschung, „Hysteriekultur“, Veränderungen durch Flüchtlinge in Europa, die Beendigung des Syrien-Konflikts, warum sich niemand für wahre Prognosen interessiert und warum er einen „Om-line-Trend“ vorhersagt.

Matthias Horx

© Klaus Vyhnalek

Herr Horx, wie sieht die Zukunft der Liebe aus?
Matthias Horx: Ich schreibe gerade ein Buch über die Zukunft von Liebe und Familie. Generell nimmt die Empathie und Sympathie zwischen den Menschen zu, sogar zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Heute wird unterm Strich in vielen Gesellschaften freier und „bunter“ geliebt als früher.  Es gibt auch mehr Menschen, die verstehen, dass wir in einer globalisierten Welt leben, in der wir auch über unseren eigenen Tellerrand „herauslieben“ können und müssen. Allerdings gibt es auch heftige Gegenbewegungen des Hasses, wie PEGIDA und IS,   die Rückkehr des dumpfen Nationalismus oder die extremen Aggressionen im Internet zeigen. Wo vieles zusammenwächst und verbunden wird, kann eben auch vieles schiefgehen…

Wissen Sie, wie Ihr Jahreshoroskop für 2016 lautet?
Horx: Ich habe mal im Nebenfach Astronomie studiert und kenne mich mit den kosmischen Dimensionen aus. Aber Astrologie ist nicht mein Ding. Das interessiert mich nicht die Bohne.

Da müssen Sie jetzt trotzdem durch: Laut der Firma „Viversum“ wird Ihr Jahr abwechslungsreich, spannend und schwungvoll.
Horx; Also wie immer.

Ähnelt Ihre Tätigkeit als Zukunftsforscher der von Astrologen?
Horx: Nein. Astrologie ist schlichtweg Mumpitz. Unterhaltung auf einfachem Niveau.

Hängt der Wunsch, über die Zukunft Bescheid zu wissen, auch mit der Angst der Menschen vor dem Morgen zusammen?
Horx: Sicher, es ist der Wunsch der Menschen, sich von eigenen Entscheidungen zu entlasten, und nach weniger Komplexität. Die Idee von „höheren Mächten“ gaukelt uns ein Schicksal vor, das wir nicht ändern können. Dabei sind wir für unsere Zukunft zu einem erheblichen Teil selbst verantwortlich.

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Steigende Geburtenraten passen nicht ins Bild.

Matthias Horx

Wie lässt sich denn die Zukunft verlässlich und seriös beschreiben?
Horx: Da haben wir jetzt das Problem, dass ich Ihnen das gerne erzählen möchte, dass Sie das aber vermutlich gar nicht hören wollen.

Woher wissen Sie das denn?
Horx: Aus Erfahrung. Die „systemische Prognostik“, wie wir das nennen, ist eine ganzheitliche Disziplin, die sich aus verschiedenen System-Wissenschaften zusammensetzt, etwa Spieltheorie, Evolutionstheorie, Systemtheorie, Probabilistik, also die Wahrscheinlichkeitswissenschaft selbst – und dann auch die Kognitionspsychologie. Wollen Sie mehr über die einzelnen Wissenschaften wissen? Zum Beispiel wie man mit stochastischen Formeln den Verlauf von Konflikten voraussagen kann?

Vielleicht haben Sie Recht.
Horx: Grundsätzlich lassen sich mit systemischen Methoden Teile der Zukunft recht gut voraussagen, andere weniger: Börsenkurse beispielsweise sind immer auch von irrationalen Erwartungen getragen, sie verhalten sich völlig chaotisch. Wetter ist kaum für mehr als sieben Tage prognostizierbar – das Klima hingegen lässt sich vorhersagen. Gut voraussagen lässt sich der Erfolg von Technologien, und am besten voraussagen lässt sich die Dauer von Ehen. Allerdings interessiert sich niemand dafür – wer will schon wissen, wie es um seine Beziehung steht?

Woran liegt das – und warum lässt sich die Dauer einer Ehe voraussagen?
Horx: Soziale Systeme basieren auf  Interaktionen und Entscheidungen von Menschen. Wie Menschen unter bestimmten Bedingungen agieren, wissen wir aus der Verhaltenspsychologie. Zudem gibt es  heute viele soziale Forschungen, die mit Big Data arbeiten, also mit sehr großen Datenmengen. Aus beidem kann man immer besser extrapolieren. Für die Betrachtung von technologischen Entwicklungen versuchen wir  in der Zukunftsforschung, neue Tools zu entwickeln. Wir haben beispielsweise ein Vorhersage-System entwickelt, das „Tech-no-lution“ heißt – eine Wort-Verbindung von Technik und Evolution. Damit können sie praktisch jede Innovation auf ihre Zukunftstauglichkeit prüfen: voraussagen, ob sie ein Flop oder ein riesiger Durchbruch wird, oder in einer Nische hängen bleibt.

Das klingt, als hätten sie ein verlässliches Orakel erfunden, dass klare Antworten gibt.
Horx: Für manche Bereiche schon. Aber wie gesagt: für „wahre“ Prognosen interessiert sich eigentlich kein Schwein!

Wie bitte?
Horx: Der Grund liegt in dem, was die Kognitionspsychologie „Confirmation Bias“ nennt – die „Bestätigungs-Verzerrung“. Es gibt ja im Grunde zwei große Zukunfts-Erzählungen: Die eine handelt von den technischen Wundern – den tollen neuen Apps und Gadgets und fliegenden Autos und automatischen Kühlschränken, die unser Leben „radikal verbessern“ werden. Die andere handelt vom Weltuntergang, von der Dystopie, vom Untergang.  Die meisten Menschen ‚glauben‘ entweder an das eine oder des andere.  Aber die Zukunft ist nicht schwarz/weiß, sie ist komplex und differenziert. Aber das nervt und stört eher…

Können sie dazu ein Beispiel nennen?
Horx: Nehmen wir die Tatsache, dass die Scheidungsraten seit Jahren fallen. Oder die recht aktuelle Meldung, dass die Geburtenraten in Deutschland steigen. Hat das irgend jemand wahrgenommen? Wir können das schon seit Jahren voraussagen, aber eigentlich hat das keinen interessiert, weil es Untergangs-Erzählungen gibt, die viel interessanter sind. Wertezerfall etwa. Oder die „Demographische Katastrophe“. Der verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat einen Bestseller mit dem Titel „Das Methusalem-Komplett“ geschrieben,  nach der unsere Gesellschaft „rasend schnell katastrophal vergreist“. Es gab tausend Talkshows, in denen diese These unendlich wiedergekäut wurde. Deshalb glauben heute die meisten Menschen, dass wir „immer weniger Kinder kriegen“ und „überaltern” usw. Steigende Geburtenraten passen einfach nicht ins Bild, sie werden aus der Wahrnehmung ausgefiltert. Es wird ein normatives Bild von der Zukunft entworfen – und dann ignoriert man, wenn Trends in die andere Richtung laufen. Noch vor Jahren glaubten alle, das Öl geht demnächst zu Ende und die Zivilisation wird an Energiemangel sterben…

Wie haben sie das mit der Geburtenrate vorhergesagt?
Horx: Die Geburtenrate eines Landes hängt von dynamischen Faktoren wie Bildungssystem, Arbeitsorganisation, Wertewandel, politischen Reformen ab. Dort, wo man die Arbeitswelt für andere Lebens-Zeit-Entwürfe öffnet, steigen die Geburtenraten wieder an, weil Frauen sich dann nicht mehr zwischen Heim und Beruf entscheiden müssen. So war es in Frankreich, in Skandinavien, und dort gibt es nun wieder mehr Kinder. Diese Veränderungen kann man messen, und sie finden allmählich auch in Deutschland statt. Aber wir sehen in Deutschland eben nur das, was nicht gelingt.

Wie kommt das?
Horx: Das deutsche Hirn ist besonders von Angst geprägt. Das hat auch mit der deutschen Geschichte zu tun, die ja tatsächlich einen tiefen Zivilisationsbruch aufweist. In einer Art „vorauseilender Angst“  entwickeln wir uns hin zu einer Art Hysteriekultur. Das ist gefährlich. Fehlinformationen führen zu Überreaktionen, daraus entsteht ein fataler Kreislauf. Deshalb versuchen wir systemischen  Zukunftsforscher, die Welt als ein komplexes System mit vielen überraschenden Entwicklungen und Gegentrends zu beschreiben – so komplex, wie sie wirklich ist.

Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx © Klaus Vyhnalek

Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx © Klaus Vyhnalek


Sie sprechen von einer Hysteriekultur, doch geben die Medien nicht lediglich die Realität und die Positionen gesellschaftlicher Gruppen wieder?
Horx: Das wage ich zu bezweifeln. Ist es nicht so, dass die einzelnen Positionen extrem aufgebauscht werden, weil nur Zuspitzungen, Vereinfachungen, Skandale verkaufbar sind? Die meisten Journalisten stellen sich diese Frage gar nicht, weil sie Angst haben, dass sie ihren Job verlieren. Deshalb gibt es eine Tendenz zur Übertreibung, zur Verzerrung, zum Negativismus.

Worin äußert sich der?
Horx: In den Medien kommen die positiven Trends auf diesem Planeten kaum vor. Wussten Sie dass unser CO2-Ausstoß in die Atmosphäre letztes Jahr nicht mehr gestiegen ist? Wussten Sie, dass der Anteil der Armen auf dem Planeten in diesem Jahr unter zehn Prozent gesunken ist? Wussten Sie, dass wir weltweit eine ständig steigende Bildungsquote haben? Relative Erfolge werden nicht beschrieben, relative Probleme massiv überzeichnet. Dadurch entsteht das Bild einer Welt, auf der alles immer schlechter wird. Das führt zu einer Art Zukunfts-Depression.

Sie waren selbst eine Zeit lang Journalist…
Horx: Ich war Anfang der 90er Jahre Redakteur bei der „ZEIT“ in Hamburg, und ich glaube, dass sich seitdem das mediale System enorm verschlechtert hat.  Als ich Redakteur war, gab es 200 Zeitschriften, heute sind es 800. Es gab damals vielleicht fünf Fernsehkanäle, heute kann ich sie gar nicht mehr zählen. Das Internet kommt ja noch dazu. Alle konkurrieren um die knappe Ressource Aufmerksamkeit kämpfen. Und womit erreicht man Aufmerksamkeit? Mit Angst und Schrecken!

Wie ließe sich etwas dagegen tun?
Horx: Der Chef des dänischen Fernsehens, Ulrich Hagerupp, hat den Begriff des „Constructive Journalism“ ins Spiel gebracht. Im dänischen Fernsehen versucht er ganz neue Formen der Partizipation, in der die Menschen gemeinsam auf die Suche nach Lösungen gehen. Statt der typischen Talkshow-Frage: „Wen können wir beschimpfen und schuldig sprechen?“ fragt er in den öffentlichen Raum: „Was sind eure Vorschläge für die Zukunft?“ – ein Experiment mit Erleuchtungscharakter, denn das Denken verändert sich sofort, wenn man die Fragen anders stellt.

Horx: Was denken Sie denn, was passieren würde, wenn über Terrorismus nicht mehr berichtet würde?
Horx: Das ist sicher ein ethisches Dilemma. Aber eines ist sicher: Der IS arbeitet mit Angstproduktion,  mit Bildern des Schreckens, und geht dabei professionell vor. Das eine ist, über Attentate zu berichten, aber das andere ist es, danach die Gefahren monströs aufzubauschen und damit das IS-Spiel zu spielen. Die Wahrscheinlichkeit, von einem Terrorattentat getroffen zu werden, liegt heute nicht höher als vor zehn Jahren, bei eins zu eine Million. Das sollte man klarstellen in den Medien. Und man sollte auch klarstellen, dass nur sehr, sehr sehr wenige Menschen zu Selbstmordattentätern werden. Dafür muss nämlich sehr, sehr viel kaputtgehen in einem menschlichen Wesen…

Werden uns Computer bald hyperrealistische Grafiken liefern?
Horx: Derzeit kommen die ja die ersten Virtual-Reality-Brillen auf den Markt. Wir werden demnächst  Computerspiele mit echtem Immersionscharakter haben, wo man nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden kann. Genau das wird aber auch eine Gegen-Reaktion erzeugen, weil diese Technik in einer extremen Form unsere Wahrnehmung manipuliert. Frauen haben wenig Lust darauf. Das hat auch damit zu tun, wie männliche und weibliche Hirne Wirklichkeit konstruieren und rezipieren – Frauen sind eben doch ‚realistischer‘, und Männer präferieren meist ‚Abheben und Verschwinden‘. Wir müssen also bei jeder Technik verstehen, welche menschlichen Grenzen und Tabus sie überschreitet, was sie an Immunreaktionen erzeugt und an Gegenreaktionen bewirkt. Technik entwickelt sich immer im humanen Kontext, nicht nur in technischen Reinräumen.

Widerspricht diese These nicht der Menge an Forschungsgeldern, die in diesen Bereich fließen?
Horx: Das kann gut sein. Da wird tatsächlich sehr viel Geld in den Sand gesetzt. Wie bei vielen Internet-Investitionen derzeit. Das Internet hat uns eben nicht die Erlösung von allen irdischen Nöten gebracht, sondern auch Cybermobbing, Shitstorm und unendlich viel Meinungs- und Hass-Müll. Immer mehr Menschen haben davon inzwischen die Nase voll.

Was wird die Folge sein?
Horx: Es wird einen großen „digital backlash“ geben: eine Revision der kommunikativen Verhaltensmuster.  Ich prognostiziere eine Zeit lang einen Offline-Trend: die Leute nabeln sich wieder ab von der digitalen Krake, das Analoge wird wieder faszinierend. Danach beginnt der „Om-line-Trend“, wie wir das in unserem neuen Zukunftsreport 2016 nennen. Wie das Meditationswort „Om“: Eine Art human-digitales Gleichgewicht auf höherer spiritueller Stufe.

Wie sehen Sie die Erfolgschancen der Computerbrille „Google Glass“?
Horx: Richtig. Das Gerät wird in einer Nische steckenbleiben. Piloten und Chirurgen werden solche Techniken nutzen, aber nicht die breite Masse.

Welche Dinge werden denn 2016 nicht scheitern, sondern uns überraschen?
Horx: Was uns „überraschend überraschen“ wird, kann ich nicht voraussagen, denn dabei handelt es sich ja um Zufälle und Katastrophen, und die sind nicht voraussagbar.

Wie wird sich Europa im Zeichen der großen Flüchtlingsströme entwickeln?
Horx: Europa wird sich in den derzeitigen Krisen neu erfinden. Die Globalisierung, von der wir die ganze Zeit nur profitieren, sie uns aber gleichzeitig von Hals halten wollten, tritt über unsere Schwelle. Damit eröffnen sich aber auch neue Chancen. Wir üben  derzeit, wie es ist, in einer Welt zu leben, in der es keine wirklich dichten Grenzen mehr gibt, in der wir auch für das mitverantwortlich sind, was „draußen“ passiert. Das macht uns Stress, aber es bringt uns auch vorwärts.

Wird es auch positive Entwicklungen in den sozialen Medien geben, mit denen sich die Konflikte zwischen Einwanderern und rechten Gruppen entschärfen lassen?
Horx: Ich glaube nicht, dass das Internet das lösen kann. Ich fürchte, wir werden mit der Erkenntnis leben müssen, dass es in unserem eigenen Land völlig unintegrierbare Kulturgruppen gibt. Menschen, die ebenso wie der IS die Vorstellung einer pluralen, toleranten, offenen Gesellschaft ablehnen. Und die das Netz genauso zur Hasspropaganda nutzen wie der IS.

Meinen Sie damit die PEGIDA-Bewegung?
Horx: Unter anderem. Wir haben uns bei der Wiedervereinigung vielleicht zu viele Illusionen gemacht, dass wir uns auf eine gemeinsame Ordnung im westlichen Sinne geeinigt haben. Es gibt einen tiefen, provinziellen Hass in unserer Gesellschaft, der sich gegen die plurale Gesellschaft und gegen alles Fremde richtet, und der im Osten größer ist als im Westen. Gott sei Dank hat diese Bewegung keine Chance, weil wir längst nicht mehr in einer einheitlichen sozialen Wirklichkeit leben. Lebendige, vielfältige  Großstädte wie Hamburg oder Berlin oder Frankfurt oder Köln sind einigermaßen immun gegen den Fremdenhass, weil dort irgendwie alle Fremde sind. Große Städte sind Bollwerke der Toleranz.

Der größere Teil der Deutschen lebt nicht in Großstädten.
Horx: Doch, Deutschland ist bereits zu 60 Prozent urbanisiert, und dieser Trend beschleunigt sich noch. Die Zukunft gehört den urbanen Weltbürgern. In gewisser Weise retten uns die vielen neuen Migranten sogar vor der rechten Radikalisierung.

© Klaus Vyhnalek

© Klaus Vyhnalek

Meinen sie das ernst?
Horx: Vielleicht meine ich das leicht ironisch, aber durchaus ernst. Immigranten machen die Gesellschaft ja immer bunter, sie schaffen eine neue kulturelle Realität, die irgendwann nicht mehr revidierbar ist. So wie auch die Akzeptanz von Patchworkfamilien oder Homosexuellen unsere soziale Realität, auch unsere Werte, geändert hat. Daran sieht man, dass Kulturen durchaus adaptionsfähig in Richtung Freiheit, Toleranz und Komplexität sind. Und dass solche Entwicklungen nicht einfach rückdrehbar sind.

Wie geht es mit Syrien weiter?
Horx: Das ist ein Konflikt, der anfängt, sich zu erschöpfen.  Es gibt eigentlich für keinen Teilnehmer am Bürgerkrieg mehr die Option eines kriegerischen Gewinnens. Der Konflikt wird also bald auf einer diplomatischen oder politischen Ebene ausgetragen werden. Es wird sich eine Befriedung einstellen.

Wann?
Horx: Nicht im kommenden Jahr, aber in 2017. Dann werden viele Flüchtlinge zurückgehen. Das haben wir auch im Bosnienkrieg erlebt.

Noch einmal ein anderes Thema: Als Folge der Wirtschaftskrise ist der Leitzins in der Eurozone noch niedrig. Wird sich daran bald etwas ändern?
Horx: Ich glaube nicht dass wir  uns in einer „Wirtschaftskrise“ befinden. Wir sind in einem Übergang von einer industriellen Wachstumsgesellschaft zu einer Wissensökonomie, in der das alte Wachstumsmodell ausgedient hat. Die Zukunft gehört einer Post-Wachstumsgesellschaft, in der wir Fortschritt und Wohlstand anders bewerten lernen. Sowohl die Europäische Union als auch die Bundesregierung arbeiten ja daran, einen Lebensqualitäts-Index oder Glücksindex zu entwickeln, der die alten Bruttosozialprodukt-Logik ersetzen kann.

Dem widerspricht doch die menschliche Gier…
Horx: Menschen können gierig sein, aber auch dazulernen. Brauchen wir wirklich mehr Autos, Konsum, Bruttosozialprodukt, in das ja auch Unfälle und Umweltschäden und Krankheiten eingerechnet werden? Was wir brauchen ist eine andere Lebensqualität, neue Bildungssysteme, eine neue Art der Solidarität, die nicht mehr Umverteilung, sondern Verantwortung und Teilhabe bedeutet. Auch das kann Wachstum sein, aber eben ein anderes.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Zukunftsforscher und jemandem, der ‚vordenkt‘?
Horx: Beides ist miteinander verwandt. Aber vor-denken heißt eben auch, überkommene Denk-Muster in Frage zu stellen. Die Zukunftsforschung hat viele Jahre den Fehler gemacht, immer geradeaus nach vorne zu denken: alles wird immer schneller, technischer, sensationeller! Diese lineare „Futurologie“ ist immer gescheitert. Die Welt ist keine Einbahnstraße. Jeder Trend hat einen ‚tipping point‘ und einen Gegentrend, der vielleicht mächtiger wird als der Trend selbst.

Ach so?
Horx: Die Welt ist kein mechanisches System. Die meisten Vorstellungen der Zukunft basieren aber auf mechanischen Weltmodellen des 19. Jahrhunderts. Die Welt ist ein Organismus aus Wechselwirkungen.

Wie sähe ein korrektes Bild der Zukunft  aus?
Horx: Erstens müssten wir uns unserer eigenen „Zukunftskraft“ bewusst werden – ein großer Teil des Kommenden entsteht ja aus unseren Handlungen, aber auch aus unserem Denken. Es kommt also auf unsere Fähigkeit an, Komplexität tiefer zu verstehen. Und vielleicht liegt die Zukunft gar nicht „vorne“, sondern entwickelt sich kreisförmig, in Rekursionen, in Schleifen. Die Zukunft holt uns sozusagen von hinten wieder ein.

Widerspricht das nicht der deutschen Volksseele?
Horx: Die Volksseele ist ziemlich paradox. Gestern kam eine Meldung, dass die Ängste der Deutschen sich im letzten Jahr noch einmal gesteigert, beinahe verdoppelt haben. Gleichzeitig zeigt der Zufriedenheits- und Glücksindex, dass die Deutschen noch nie so zufrieden waren wie heute. Interessant, oder? Wir nennen einen Geisteszustand, in dem man sich wahnsinnig fürchtet und sich gleichzeitig wohlfühlt „apokalyptisches Spießertum“. Die Untergangsvorstellung als Wellness-Zone. (lacht)

Zukunft wagen von Matthias Horx

Buch von 2013

Es existieren auch andere Gesellschaftsmodelle: Planwirtschaft beispielsweise versucht auch auf eine andere Art und Weise zu kontrollieren als die Marktwirtschaft.
Horx: Planwirtschaft funktioniert nicht. Denn je mehr Pläne Sie machen, desto mehr geht schief. Funktionieren tut immer eine Wirtschaft, in der hohe Selbstorganisationskräfte herrschen, in der Unternehmertum, aber auch soziale Verantwortung möglich ist, und in der die Marktsignale auch Marktrealitäten ausdrücken. Das ist das große Problem: In einer dynamischen, spekulativen Ökonomie entstehen oft verzerrte Informationen. Das erzeugt Krisen, die dann aber auch notwendig sind, um das System zu korrigieren. Krisen werden unterschätzt. Wer noch nie eine Ehe- oder Liebeskrise überstanden hat, dessen Beziehung wird irgendwann flach, weil alles nur noch in der Komfortzone verläuft. Jede Evolution braucht Krisen. Am besten lernt man durch Scheitern.

Gibt es einen Science-Fiction-Film, denn Sie besonders mögen?
Horx: Ich habe früher selbst Science-Fiction-Romane geschrieben, ich bin ein Science-Fiction-Freak. Allerdings gibt es eine unglaubliche Vielfalt. Deshalb fällt es mir schwer, mich da zu entscheiden.

Tun Sie uns bitte den Gefallen.
Horx:2001“ von Kubrick hat mein jugendliches Leben verändert. Aber ich bin Star-Trek-Fan, denn auf dem Kommandodeck des Raumschiff „Enterprise“ werden die großen Fragen der Menschheit ausgetragen. Da gibt es sehr verschiedene Repräsentanten mentaler Denkmuster: beim Klingonen angefangen über den Androiden, der sein menschliches Selbst entwickeln will, bis hin zum milde-autoritären Kommandanten – Picard, mein großes Vorbild. Nicht zu vergessen kluge alleinerziehende Frauen und virtuelle Doktoren. Aus dieser Vielfalt entsteht eine interessante Komplexität der Erkenntnis.

Und der beste Star-Trek-Film ist…
Horx: „First Contact“ von 1996 von Jonathan Frakes, mit Patrick Stewart in der Hauptrolle. Ein toller Streifen mit einer schrillen Bord-Drohne, die den Androiden DATA verführt. Der Film hat neben Philosophie auch noch Humor. Die Handlung dreht sich darum, wie die Hippies die interstellare Raumfahrt entdecken. Da spiegelt sich auch meine Lebensgeschichte, auch wenn ich das nicht mehr erleben sollte…. schade eigentlich.

Beeinflusst Science-Fiction die tatsächliche Zukunft eigentlich?
Horx: Sie gibt Anregungen,  Muster, Mythen vor. Aber mehr noch spiegeln sie die Gegenwart: In der Zukunft erkennen wir uns im Heute.  Allerdings gibt es heute eine Tendenz, nur noch blödsinnige Monster- und Weltraumschlachten zu zeigen. Endloses Geballer, ständig fliegt etwas durch die Gegend, und alle drei Sekunden explodiert alles. Daran sieht man wieder, wie Technik zu Rückschritten führen kann. Auf dem Kommandodeck der Enterprise wurde noch stundenlang über Quantenwesen und Zeitparadoxien diskutiert. Das war einfach geil!

[Das Interview entstand im Dezember 2015]

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