Jürgen Prochnow

Ich versuche meinen Teil der politischen und gesellschaftlichen Verantwortung durch meinen Beruf als Schauspieler zu leisten.

Jürgen Prochnow über Wahrheit, Politik und die Aufgabe, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu gebrauchen

Guten Tag, Herr Prochnow. Freut es Sie, wieder einmal in Ihrer Geburtsstadt Berlin zu sein?
Prochnow: (strahlt übers ganze Gesicht) Ja, sehr! Wirklich! Ich fühle mich sehr wohl hier und die Premiere von Baltic Storm hat auch gut gepasst: Ich probe ohnehin gerade ein Theaterstück in Berlin und gehe dann Anfang Oktober auf Tournee in ganz Deutschland. Hier herrscht grad ein guter Spirit.

Welcher?
Prochnow: Nun, im Vergleich zu den USA etwas mehr Pluralität, Meinungsvielfalt, Neugier und dabei eine gemütliche Gelassenheit. Gerade die jungen Leute hier sind sehr aktiv, aber nicht so verbissen, soweit ich das beurteilen kann.

Fühlen Sie sich nach langen Jahren in den USA bereits als Amerikaner oder eher als Deutscher? Wo sehen Sie die Unterschiede oder Gemeinsamkeiten in beiden demokratischen Ländern?
Prochnow: Also, das, was wir jetzt haben, seitdem die Bush-Administration das Land führt, das ist etwas völlig anderes, als die Zeit unter Clinton: Das Leben in den USA war viel liberaler, toleranter und großzügiger. Man muss schon sagen, dass sich da gewaltig etwas geändert hat. So, wie die jetzt regieren und was die veranstalten, das hat die Kluft zwischen den USA und dem Rest der Welt frappierend vergrößert. Dass man nach wie vor seine Meinung sagen kann, das ist nach wie vor da, also bezüglich dieses Grundrechts hat sich nicht viel geändert, doch diese Möglichkeit wird weniger genutzt als vorher. Andererseits kann man sagen, OK, der Bush ist gerade dran, unter Umständen wird er gar für vier Jahre wieder gewählt, aber das war es dann auch, denn so wird es nicht weiter gehen. Trotzdem ist die augenblickliche Lage in Washington für die gesamte Welt, meiner Meinung nach, nicht sehr förderlich.

Wenn sich Jürgen Prochnow heute Informationen besorgen möchte, wie und wo tut er dies?
Prochnow: Zeitungen, Zeitungen und Internet: Also, ich lese täglich die Los Angeles Times, ab und an die New York Times, das Time-Magazine, da hat man auch drüben gute Informationsquellen. Dann lese ich im Internet viele deutsche Zeitungen, sowohl die größeren Organe wie den Spiegel oder die Süddeutsche, aber auch Newsforen. Darüber hinaus suche ich mir Informationen in Büchern, wie beispielsweise bei Moore oder vergleichbaren Autoren. Ja. Fernsehen? Tja, beim Fernsehen Informationen zu bekommen, das ist hier in Deutschland viel besser: Eine größere Informationsbreite und Themendichte, die man hier zur Verfügung gestellt bekommt. Wenn man solche Hetzsender wie diesen Fox anklickt, da kann ich nur ganz schnell rüberzappen, um damit nicht konfrontiert zu werden … Hm, das ist vielleicht auch falsch, vielleicht sollte man zuhören, was die so an Meinungen herauskloppen, aber ich halte das nicht lange durch. Bemerkenswert, dass auch ehemals liberalere Medien in den USA umgeschwenkt sind auf den Patriotismus, da hat sich zunächst einiges verändert. Doch jetzt, zum ersten Mal, vor allem, seitdem die Wirtschaft in den USA auch massiv in den Keller rutscht, hat sich das Meinungsbild gegenüber der Bush-Administration verändert. Dazu kommt, dass die Kosten für diesen idiotischen Irak-Krieg so hoch sind und weiter steigen, der Dollarkurs sinkt und vor allem jeden Tag US-Soldaten sterben, dass die Kritik an Washington wieder lauter, ja immer lauter wird. Die wirtschaftliche Situation ist nicht mehr so rosig, die Arbeitslosenrate steigt. Jetzt merke ich, dass die Beliebtheit dieser Regierung deutlich zurückgeht.

Sie wirken gleichsam nachdenklich wie aufgebracht ob dieser politischen Thematik. Verspüren Sie nun auch den Wunsch Ihres Kollegen Schwarzenegger, sich aktiver in der Politik zu engagieren?
Prochnow: Ja, na ja, also, ich denke, ich bin kein professioneller Politiker, ich könnte diese Arbeit sicher nicht umsetzen, auch wenn ich die Kraft und Zeit dafür bekäme. Ich versuche, meinen Teil der politischen, oder, ja gesellschaftlichen Verantwortung, wenn Sie so wollen, durch meinen Beruf zu leisten, als Schauspieler, der bestimmte Charaktere darstellt oder Stoffe interpretiert, die den Menschen Profile oder Ansatzpunkte bieten.

Sie bezogen in der Figur "David" in Carl Schultz‘ Film "Das siebte Zeichen" (1988)? bereits Stellung zum Begriff "Wahrheit". Sind Sie ein Wahrheit suchender Mensch?
Prochnow: Ich denke, dass ich bestimmt jemand bin, der ungehalten, ja ziemlich verletzt ist, wenn mir nicht die Wahrheit gesagt wird. Sei es in einer persönlichen, beruflichen oder auch allgemeiner Beziehung, wie eben als Bürger eines Staates. Belogen zu werden, verletzt die Würde des Menschen. Menschen zu belügen, heisst, Menschen zu ignorieren, ihr Dasein zu unterdrücken.

Spätestens seit den Einsätzen angloamerikanischer Streitkräfte in Afghanistan und im Irak scheinen die verantwortlichen Politiker ein "Media-Bashing" zu betreiben, das der Bush-Doktrin "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich" zu folgen scheint: "Embedded Journalists" hier und "conspiracy reporters" dort. Wie verhält sich Hollywood, ja Amerikas Bevölkerung zur Medien, Berichterstattung und Wahrheit?
Prochnow: Wie sich Amerikas Bevölkerung insgesamt verhält, dafür kann ich nicht sprechen. Natürlich treffen Sie auf unterschiedliche Auffassungen, je nachdem, ob und welche Nachrichten Sie bekommen mögen. Grundsätzlich sind die Amerikaner vielleicht weniger vielfältig informiert wie die Europäer, doch Sie spüren auch genau, wenn Ihnen ein X für ein U vorgemacht wird. Meinungsumfragen scheinen da kaum repräsentativ, glaube ich.
Aber: Ich hoffe, ich hoffe sehr, dass, nicht auch zuletzt durch Michael Moore parallel zur Orwellschen Abschottung und Überwachung eine Welle der Wahrheitssuche, der Neugier und des Wissensdursts eingesetzt hat. Ich bewundere Michael Moore sehr, finde seine Arbeit zu "Bowling for Columbine" unglaublich respektabel, habe auch sein Buch "Stupid White Men" gelesen und finde es fantastisch, dass Moores Arbeit auch hier in Deutschland zu solch einem großartigen Erfolg geführt hat. Das hätte man sich kurz nach dem Erscheinen kaum vorstellen können, doch das Bedürfnis der Menschen nach Wissen ist offenbar – und Gott sei Dank – größer als die Angst, dadurch Ärger zu bekommen. Sein Oscar und die Schmährufe gegenüber Bush sind völlig berechtigt. Diese Wahlen damals … die Art und Weise, wie Bush an die Macht gekommen ist, ja geschoben wurde, mit diesen Wahlzetteln und das Alles, das finde ich entsetzlich. Ich glaube, dass mit einem Präsidenten Al Gore eine bessere Alternative aus Washington gekommen wäre. Die Welt sähe heute anders aus.

Wie weit meinen Sie, herrscht derzeit ein Interesse an politischer oder historischer Aufklärung in der Bevölkerung, sowohl in den USA als auch in Europa?
Prochnow: Ich spüre ganz allgemein ein Interesse dahingehend, dass Menschen sich vor allem seit dem Irakfeldzug zunehmend von den Politikern, aber auch von den Medien unterinformiert fühlen: Die vermeintlichen Kriegsgründe, die Kelly-Affäre und das alles, das führt zu einem Bedarf an Informationen. Trotz der PR-Maschine der Kriegführenden Länder gehen die Menschen dahin, kaufen sich Bücher über den Islam, lesen Zeitungen und stöbern im Internet. Ich denke, man muss etwas tun, damit diejenigen, die die Macht von den Bürgern verliehen bekommen haben, diese auch wieder respektieren. Im Fernsehen, zumindest in den USA, erhalten Sie kaum noch nennenswerte Informationen, das ist ein einziges Rumgezappe, auch bei mir. (Lacht) Ich denke, jeder sollte einen eigenen Standpunkt vertreten dürfen, gerade in eine demokratischen Gesellschaft, egal, wo. Es ist daher absurd, zu behaupten, Leute wie Sarandon, ihr Ehemann Tim Robbins, ach, auch ein wunderbarer Schauspieler und Bürgerrechtler, Sutherland oder Clooney seien Nestbeschmutzer: Das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf freie Rede ist fest in der Verfassung der USA verankert, da sollte man dieses Recht auch gebrauchen, natürlich vorausgesetzt, man fügt anderen keinen Schaden zu. Natürlich bekamen und bekommen diese Leute, die gegen die vorherrschende Meinung antreten, Beispiel Todesstrafe oder früher die McCarthy-Ausschüsse, Schwierigkeiten, mitunter sogar, ihren Beruf auszuüben. Wobei es schwierig ist, Oscar-Preisträger an ihrer Arbeit zu behindern, denn das Gesetz der Nachfrage bestimmt auch den Medienmarkt.

Ihre Kollegen George Clooney, Susan Sarandon, Dustin Hoffman und viele andere opponierten während der diesjährigen Berlinale mit ihren Statements deutlich gegen die US-Invasionspolitik. Wie wurde das Verhalten dieser Filmstars in den USA kommentiert?
Prochnow: Also, gerade Susan Sarandon leistet ja bereits seit Jahren eine außerordentliche Arbeit in vielen sozialen Bereichen. Meinen größten Respekt für diese Frau! Sie ist eine unglaublich tapfere, beherzte und engagierte Kämpferin, weshalb sie neben Komplimenten aber auch viel Gegenwind bekommt. Unterm Strich erntet Sie in jedem Fall Respekt. Gut, Clooney, Hoffman, herzliche Persönlichkeiten, deren Engagement für Gerechtigkeit in Hollywood bekannt ist. Ihre Haltung zur Berlinale wurde unterschiedlich aufgenommen. Normalerweise liegt Berlin für US-Medien viel zu weit weg, doch im Zusammenhang mit der Verweigerungshaltung Deutscher, Franzosen und Russen gegen einen Militäreinsatz im Irak bekam der Standort "Berlinale" plötzlich Interesse. Gegner forderten, Schauspieler bekämen viel Geld von den Studios und sollten sich in der Öffentlichkeit zurücknehmen. Ich denke, WEIL sie ihren Erfolg dem Publikum verdanken, sollten Sie sich auch mit ihrer Stimme an das Publikum wenden. Was Sie auch tun.

Die Produzenten von "Baltic Storm" kämpften auch gegen viele Widerstände …
Prochnow: … und sie setzten sich durch. Der Drang nach Wahrheit kann enorme Kräfte geben. Wahnsinn, was Jutta (Rabe) durch ihren Willen, diesen Film zu realisieren, alles bewirkt hat. Mut verleiht Kräfte.

Glauben Sie, dass der Film Baltic Storm eher heute als 1994 an Aktualität besitzt?
Prochnow: (wird ernst) Also, grundsätzlich finde ich als Staatsbürger es empörend, wenn Wahrheiten unter den Tisch gekehrt werden, gleich, wo und aus welchem Grund. Politiker oder allgemein Menschen, die die Macht ausüben und den Menschen, die sie wählen, nicht die Wahrheit(en) erzählen, bieten Grund genug dafür, abgewählt zu werden.
Es ist erschreckend, wie weit sich der Begriff "Volksvertreter" vom Volk, wenigstens vom Wahlvolk, entfernt hat. Diese Menschen sollten die Macht nicht weiter ausüben können. Von daher besitzt der Film "Baltic Storm", ob vor oder nach 1994 eine permanente und dringliche Aktualität .Leider. Und hier in unserem Falle ist eben eine Möglichkeit entstanden, einen politischen Film zu machen, was ich sehr begrüßt habe und wo ich mich wirklich sehr engagiert habe, ein möglichst gutes Produkt zu liefern.

20 Jahre nach dem großen Leinwanderfolg von "Das Boot", in welchem Sie die Hauptrolle des KaLeu spielen, zeigen sich einige Parallelen zu Baltic Storm: Wieder ereignet sich ein Drama auf See, wieder können die Menschen den Wahnsinn, in den Sie hinein geraten, nicht völlig begreifen – wie hat Wolfgang Petersen auf Baltic Storm reagiert?
Prochnow: (zögert) Hmm, ja, ich habe Wolfgang davon erzählt, aber ich denke, er ist gerade ganz woanders unterwegs. Vielleicht war ihm auch das Projekt zu klein. Er zeigte jedenfalls kein besonderes Interesse an dem Film. Zumindest im Moment nicht.

Ist "Baltic Storm" eher ein Dokumentar-Thriller, als ein Spielfilm?
Prochnow: Na, ja, "Baltic Storm" basiert ja weitestgehend auf Fakten, daher war kaum Raum für Fiktion möglich, wenngleich er genügend eigenen Interpretationsspielraum zulässt. Die Faktenlage war anhand der Recherchen von Jutta Rabe und ihrem Team bereits so feinmaschig, dass die Dramaturgie des Filmes bereits vorlag. Gleichwohl, das betonen auch die Produzenten, ist es nach wie vor ein Spielfilm.

"Bowling for Columbine" war trotz des Dokumentarfilm-Formats ein Straßenfeger in den USA. Das Thema zählte, nicht die Form. Mit Buena Vista hat der Spielfilm"Baltic Storm" einen erfolgreichen Verleih: Wie prognostizieren Sie die Aussichten auf dem US-Markt?
Prochnow: Ach, ich fürchte, trotz Buena Vista – die sind prima, das ist richtig – wird es nicht einfach, mit "Baltic Storm" durch die USA zu kommen: Der Erfolg von "Columbine" liegt vor allem an der Präsentation eines amerikanischen Themas in Amerika durch einen amerikanischen Regisseur. Baltic Storm ist jedoch größtenteils europäisch, sowohl thematisch als auch personell, trotz der großartigen Leistung von Donald Sutherland, aber da reagieren die Amerikaner weniger interessiert, Europa ist sekundär – natürlich hoffe ich das Gegenteil.

Regisseur Reuben Leder sagte über Sie, Sie hätten ihr Herzblut in den Film gegeben.
Prochnow: (lächelt) Sagt er das? Nun, es stimmt, ich wollte unbedingt bei diesem Film dabei sein. Noch als es um die Besetzungsvorschläge ging, meinte ich zu Jutta Rabe (der Autorin und Produzentin), dass ich, egal um welchen Part es sich beträfe, bei "Baltic Storm" mitmachen wolle. Egal, welche Gage Sie mir bieten konnten. Natürlich habe ich mich dann gefreut, als ich schliesslich die Rolle des schwedischen Anwalts Erik Westermark darstellen konnte.

Ihre Rolle Erik Westermark, der schwedische Anwalt in "Baltic Storm", glaubt nicht an die offiziellen Informationen, er sucht nach seinem Sohn, lässt sich nicht aufhalten, obwohl er verletzbar und erschüttert ist. Hat er Parallelen zu Ihnen?
Prochnow: (Pause. Er antwortet mit leiser Stimme) Ja, sehr, sehr, das kann man wohl sagen. Glaube ist wichtig, er kann Berge versetzen …

Sie wollten unbedingt bei "Baltic Storm" mitwirken. Hatten Sie zunächst das Drehbuch gelesen oder bekamen Sie schon vorab Kenntnis über die Recherchen zur "Estonia" -Katastrophe von Autorin und Produzentin Jutta Rabe? Wie kamen Sie in Kontakt mit ihr?
Prochnow: Nun, mit Jutta Rabe habe ich bereits vor den Arbeiten zum Film gearbeitet. Sie hatte ja bereits einige Dokumentarfilme zur Estonia-Katastrophe gedreht. Dann erzählte Sie mir von dem Projekt und ich war ganz entsetzt, was Sie von den Fakten rund um den Untergang der Fähre "Estonia" berichtete:
Dass Taucher Explosionslöcher aufwiesen, dass das Schiff selbst mit defekter Bugklappe noch wenigstens 5 Stunden hätte fahren und nicht hätte in dieser Geschwindigkeit sinken können, dass gerettete Menschen spurlos verschwanden, dass man sie während der Recherchen mit Leib und Leben bedroht hatte … ja, die schwedische Küstenwache ein Forschungsschiff beinah versenkt hätte … all dies zusammen – ich war geschockt, wirklich geschockt und entschied mich, einen Beitrag zur Wahrheitssuche zu leisten, wenigstens ein Stückchen, wenn es auch nur mein Beitrag als Schauspieler ist. Da sind Familien von über 800 Getöteten, nicht geborgen werden dürfen (in nur 60 Meter Tiefe), Angehörige, die Antworten verlangen und nach bald zehn Jahren noch nicht erhalten haben. Das ist skandalös! Empörend!

Sowohl die Dreharbeiten zu "Baltic Storm" als auch die Vorrecherche scheinen nicht unproblematische gewesen zu sein. Vor allem Autorin Jutta Rabe erhielt diverse Drohungen, während Sie zur Estonia ermittelte. Was haben Sie konkret an Resonanz zu diesem Thema erlebt?
Prochnow: Ich persönlich nicht so viel, wie vor allem Jutta Rabe, die ja sogar Morddrohungen gegen ihre Familie bekam, auch direkt in diesem Zusammenhang von irgendwelchen Schlägern angegriffen wurde. Dann die ganze Politik vor allem des schwedischen Staates, die Recherchen und auch die Arbeit am Film zu behindern, was soweit ging, dass ihrerseits Rabe samt den Angehörigen versucht hat, den schwedischen Staat wegen Mordes anzuzeigen, was im Übrigen rechtlich nicht möglich war, da der schwedische Staat in Schweden nicht angezeigt werden kann. Dafür fehlt ein entsprechendes Gesetz. Darüber hinaus argumentierten die zuständigen Behörden mit dem NATO-Dienstgeheimnis, was höher zu bewerten ist, als nationale – territoriale Angelegenheiten. Völlige Blockade. So weit ging das schon! Die Angehörigen wollen jedoch weiterkämpfen und definitiv die 852 Toten vom Meeresgrund bergen.

Fast zehn Jahre sind seit dem Untergang der Estonia vergangen. 852 Menschen kamen in der kalten Ostsee um. Dennoch scheint "Baltic Storm" das bislang einzige größere mediale Ereignis zu sein, das ein reges öffentliches Interesse an den Hintergründen zu dieser Katastrophe weckt. Wie gingen die Menschen in Estland, Finnland und Schweden mit der Verfilmung dieses Stoffes um? Glauben Sie, dass durch die Verfilmung des Stoffs etwas Licht ins Dunkel gebracht wird?
Prochnow: Das hoffen wir alle, vor allem die Angehörigenverbände, sehr. Schliesslich ist die Entscheidung, diesen Film zu machen, ja erst entstanden, nachdem so viel Aussagenmaterial von Leuten, die nicht logen, entstanden, so dass die Produzenten und Autoren einen Stoff hatten, den sie schließlich zum Hemd verweben konnten. Auch deshalb, weil die Menschen, also Überlebende, Angehörige, Experten für Nautik, Sprengstoff und Schiffsbau und dergleichen mehr, ganz offensichtlich Angst hatten und haben, ihre Aussagen mit ihrem Namen zu unterschreiben und in die Kamera zu sprechen. Jutta Rabe fasste daraufhin den Entschluss, dass man einen Spielfilm drehen müsse, da man mit den dokumentarischen Aspekten nicht mehr weiter komme.
Die Besetzung der Rollen folgte auch diesem aufklärerischen Ansatz: Donald Sutherland, Greta Scacchi, Jürgen Tarrach, Dieter Laser, Michael Schreiner, Ivo Varres, Axel Milberg und all die vielen anderen: Politisch motivierte Schauspieler, allesamt, ein großartiges Team, wirklich. Um die Zeugen und deren Aussagen zu schützen, wurden teilweise die Familienverhältnisse verdreht: Da wird die Frau des 2. Kapitäns, der nach seiner Rettung verschwindet, eben im Film zur Mutter. Solche Griffe. Die Rolle des estnischen 2. Kapitäns wird übrigens von dem estnischen Schauspieler Rein Oja gedeckt. Sehr überzeugend, großartig! So ergab sich anhand der vielen Beteiligten Zeugen insgesamt ein vielschichtiges Drehbuch, das personell keine Stereotypen produzierte, auch der ehemalige Stasi-Offizier, gespielt von Dieter Laser, ist nicht der tumbe Stasi-Offizier, sondern offenbart an seinem Charakter die Sollbruchstelle der Wirren nach dem Mauerfall.

Wie war die Zusammenarbeit mit Donald Sutherland?
Prochnow: Das Team war begeistert, als es erfuhr, dass einer der größten Schauspieler der Gegenwart sich entschied, dieser Geschichte, die seiner Meinung nach unbedingt erzählt werden muss, durch seine Präsenz zu weltweiter Aufmerksamkeit zu verhelfen. Donald ist ein unglaublicher Profi. Er stieg in Goslar aus dem Auto, nach fast 24 Stunden Reise von Kanada über Paris nach Hannover und in den Harz und wollte sofort mit der Arbeit beginnen. Er war hoch motiviert, wurde innerhalb kürzester Zeit Teil von Baltic Storm und gab eine ungeheuer positive Kraft und Energie, die sich auf alle übertrug. Ich denke, dass diese Energie auch spürbar wird, wenn man sich den Film ansieht.

Die Produzenten des Films haben erhebliche Medienschelte in den schwedischen und norwegischen Medien erhalten, ja die schwedische Regierung setzte sogar die Uraufführung des Filmes in Schweden für die Hinterbliebenen ab, wogegen die dänische, estnische und finnische Presse vorwiegend Lob über die Arbeit zu "Baltic Storm" fanden. Wie erklären Sie sich diese unterschiedliche Resonanz?
Prochnow: Na, da wiegeln halt die ab, die am meisten zu verbergen haben, denke ich. Im Übrigen schaden die aber mit ihrer Blockadehaltung vor allem sich selbst, denn nun bekommt neben der Katastrophe des Estonia-Untergangs auch der Film Baltic Storm seine Resonanz, sein Gewicht. Es wird ja nun versucht, eine Zementglocke über das Wrack mit all seinen Spuren und menschlichen Überresten zu gießen, einfach unglaublich ist das!

Sind gefährdete Personen rund um die Estonia-Katastrophe, ob Journalisten, Zeugen etc. durch diesen Film etwas mehr in den Genuss eines Schutzes durch die Öffentlichkeit gekommen?
Prochnow: Na, zumindest haben diese Menschen jetzt eine lautere Stimme bekommen, die sich schwerer überfahren lässt. Ich weiß es nicht, aber ich denke, dass schon alleine dadurch, dass der Film eine größere Medienplattform erhält, diese Menschen endlich etwas Kraft aus anderer Richtung bekommen. Das meinte ich ja mit kleinen Beiträgen: Falls diese Menschen wenigstens die Sicherheit erfahren, dass Ihnen einen Stimme geschenkt wird, ist schon einiges erreicht.

Welchen Stellenwert in ihrem Leben räumen Sie "Baltic Storm" ein?
Prochnow: Das ist der für mich persönlich beste und wichtigste Film seit "Das Boot" und damit ein Höhepunkt, auf jeden Fall und ganz ehrlich, das will ich nicht als Eigenwerbung verstanden wissen, sondern als Überzeugung!

Haben Sie in der Zwischenzeit etwas Neues von den Verschollenen wie dem Kapitän Kallas erfahren können?
Prochnow: Tja, – sehen Sie den Film!

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