Günter Wallraff

Das sitzt tiefer, als man annimmt

Günter Wallraff über seine Rolle als Schwarzafrikaner in Deutschland, Nachwirkungen seiner Arbeit und die Idee für seine letzte Reportage

Günter Wallraff

© X-Verleih

Herr Wallraff, im deutschen Kinothriller „Das Experiment“ trägt der Protagonist Tarek eine Brille mit integrierter Kamera. Glauben Sie, solche Kamerabrillen könnten eines Tages den Investigativ-Journalismus revolutionieren?
Günter Wallraff: An sich nicht. Da steckt die Gefahr drin, dass man falsche Bereiche tangiert. Bei mir hört die Methode da auf, wo der Privat- und erst recht der Intimbereich beginnt. Wir haben für fast alle Szenen im Film „Schwarz auf Weiß“ im Nachhinein eine Genehmigung eingeholt, sonst wäre er auch drei bis viermal so lang geworden. Für jede gezeigte Szene gibt es mehrere andere, wo wir die Genehmigung nicht bekommen haben. Und bei denen, die wir für sehr wichtig hielten, aber keine Genehmigung bekamen, haben wir die Personen verfremdet.

„Die meisten schauen nicht so genau hin“, schreiben Sie in Ihrer Reportage über die Verwandlung zum Schwarzafrikaner. Wie oft mussten Sie einen Dreh abbrechen, weil Sie doch jemand erkannt hat?
Wallraff: Das war einmal der Fall, da hat ein Mann mich an meiner Stimme, nicht am Aussehen erkannt. Er hat es mir auf den Kopf zugesagt, „Herr Wallraff, ich kenne Sie.“ Für eine andere Rolle, die auch im neuen Buch drin ist, habe ich daraus Konsequenzen gezogen. Da habe ich einen Unternehmer gespielt und mir eine Halskrause besorgt, um einen Halswirbelbruch vorzutäuschen. Der Kehlkopf sollte dabei in Mitleidenschaft gezogen sein und dadurch konnte ich nur (imitiert tonlose Stimme) mit total verzerrter und verquetschter Stimme reden.
Ansonsten war ich der schwarze Deutsche. Es war nur diese dunkle Millimeter-Schicht der Haut, die Kontaktlinsen und die Haare, die mich verändert haben. Ansonsten bin ich nicht anders aufgetreten, als ich sonst auftrete. Freundlich, zuvorkommend, und trotzdem wurde mir ganz anders, man wurde ja auch immer gleich geduzt.

Auf der Frankfurter Buchmesse sagten Sie, Kwami Ogonno aus Somalia sei Ihre „differenzierteste Rolle“. Können Sie das näher erklären?
Wallraff: Ich liebe es ja sonst immer, vom passiven Beobachter zum mehr aktiven bis hin zum Provozierenden überzugehen. Und hier war ich ganz zurückgenommen, habe eigentlich nur kommen lassen. Ich habe in Alltagssituationen Menschen reagieren lassen und selbst kaum agiert. Ich war einfach nur da, das reichte oft schon, um heftigste Reaktionen, Ressentiments und Anfeindungen zu erleben.

Gab es Grenzerfahrungen, wo Sie die Rolle von Kwami Ogonno so forciert haben, dass Sie kurz davor standen, aus der Rolle zu fallen?
Wallraff: Wenn ich einmal in einer Rolle drin bin, wenn ich das geschafft habe, dann riskiere ich auch einiges. Allerdings, im Film gibt es die Szene im Zug voller Fußballfans, da bin ich insofern aus der Rolle gefallen, als dass ich da nicht der zurückhaltende Schwarze war, sondern etwas erwidert habe. Der Fußballfan sagte: „Weiß ist deutsch, Junge.“ Ich fragte: „Was ist denn deutsch? Sage es mir, erklär es.“ Er streckte mir das Hinterteil entgegen, sagte: „Hier mein Arsch“, und ich erwiderte: „Das glaube ich dir. Du bist am Arsch.“ Das ist sonst nicht meine Art, aber das musste sein, schon für das eigene Selbstbewusstsein, was ja sowieso immer beschädigt wurde.

Worin liegt der Reiz, auf die Beobachter-Perspektive zu verzichten?
Wallraff: Das ist ein Kindheitstraum! Kinder können das, die spielen das, ohne sich verkleiden zu müssen. Das ist einfach eine Wohltat, aus einer angestammten Rolle, die einem inzwischen von der Gesellschaft auch abverlangt wird, auszubrechen und sich zu anonymisieren. Das ist eine andere Welt, besonders wenn Sie sich in dem Schonbereich befinden, als Privilegierter, Prominenter, da verhält man sich Ihnen gegenüber sowieso ganz anders.

Ist diese tiefsitzende Angst des Deutschen vor fremd aussehenden Mitmenschen das letzte unausgesprochene Tabu in einer vermeintlich liberaler werdenden, multikulturellen Gesellschaft?
Wallraff: Ich weiß es nicht. Das sitzt tiefer, als man es gemeinhin annimmt. Es ist zum Teil auch verdeckt, verdruckst, verklemmt. Manchmal ist man froh, wenn man hört, warum sie einen ablehnen, aber oft sagen sie es nicht. Man spürt, dass man nicht willkommen ist, dass man nicht dazugehört. Ich glaube, es hat einen Überbau und auch tiefer liegende Wurzeln.

„Schwarze werden zuerst nur über ihre Hautfarbe wahrgenommen“, sagen Sie im Film. Ist das Ihr Fazit für die Reportage?
Wallraff: Ja, das war eigentlich eine immer wiederkehrende Formel. Selbst wenn jemand positiv reagierte, meinte er sie als Schutzbefohlenen oft wie ein Kind behandeln zu müssen, dem man sagt, wo es langgeht. Das war allenthalben zu spüren, aufdringlich und nervend.

Zitiert

Ich war einfach nur da - das reichte oft schon, um heftigste Reaktionen, Ressentiments und Anfeindungen zu erleben.

Günter Wallraff

Ist es nicht manchmal anstrengend, der Enthüller der Nation zu sein? Hätten Sie nicht mal Lust auf „normalen“ Journalismus, so was wie Interviews führen, Artikel schreiben?
Wallraff: In meinem neuen Buch sind nicht nur Rollenreportagen. Da sind auch Berichte über Datenmissbrauch bei der Deutschen Bahn, über Anwälte des Schreckens, über Starbucks und so weiter, wo mir Insider ihre Erfahrungen mitteilen, sogar leitende Angestellte der Deutschen Bahn…

…aber könnten Sie sich vorstellen, nochmal irgendwo in einer Redaktion zu sitzen?
Wallraff: Nein, um Gottes Willen, das war für mich immer der Horror! Ich war ja zu allererst beim Satiremagazin „Pardon“, da habe ich nie am Schreibtisch gesessen! Ich habe mich immer vor Ort getummelt, bei „Konkret“ genau so. Das ist meine Möglichkeit, mir Realität anzueignen. Ich war immer schon ein schlechter Schüler in abstrakten Fächern und musste es sinnlich erfahren, da kann ich auch dazulernen. Aus einem Manko habe ich so vielleicht meine Produktivkraft entwickelt, meine Möglichkeit mich einzubringen. Und vielleicht habe ich diese Fähigkeit auch entwickelt, weil ich als Vierjähriger aus wirtschaftlicher Not heraus ein halbes Jahr lang in ein Waisenhaus abgeschoben wurde und heute noch die Erinnerung eingebrannt habe, wie man die eigene Kleidung abgenommen, und dafür diese abgewaschenen Sachen der anderen Kinder bekam. Man verlor so seine Identität.

Abgesehen vom medialen Diskurs anlässlich Ihrer Enthüllungen, gibt es tatsächliche Veränderungen, die anlässlich Ihrer Reportagen eingetreten sind und auf die Sie stolz sind?
Wallraff: Ja. Zunächst mal Bewusstseinsveränderungen. Es ist ja ein bewusstseinsverändernder Stoff mit dem ich arbeite. Da habe ich unzählige Beispiele, Briefe, Begegnungen, wo Menschen aufgrund der Lektüre, aufgrund meines Vorgehens selbst Zivilcourage bewiesen haben und sich für andere eingesetzt haben, sich sozialer verhalten haben, das ist auf jeden Fall ein Erfolg. Es gibt aber auch ganz praktische, konkrete Verbesserungen, wie in der Obdachlosen-Geschichte. In Frankfurt am Main gibt es diese Containersiedlungen für Obdachlose, die ich beschrieben habe, wo wir uns wie in Schubfächern fühlten. Nachdem ich das veröffentlicht habe, hat die Stadt Frankfurt zuerst dementiert, dann allerdings nachgegeben. Sie haben ein Gremium geschaffen, wo ein Obdachloser, der mich beraten und auch begleitet hat, mitarbeitet, neben namhaften Architekten und meiner Wenigkeit. Dadurch ist jetzt erreicht worden, von der Stadt selbst ausgehend, dass diese Containersiedlung abgerissen wird und menschenwürdige Behausungen dahin kommen. Es könnte ein Pilotprojekt sein, für andere Städte.

Verfolgen Sie solche Nachwirkungen selbst, oder wird Ihnen das zugetragen?
Wallraff: Unterschiedlich. Bei der Reportage über die Brotfabrik, die ausschließlich für Lidl produziert, da war der Druck der Öffentlichkeit groß, die mussten nachgeben und haben die Löhne um 24 Prozent erhöht. Das waren vorher Hungerlöhne. Bestimmte Sicherheitsmängel wurden behoben, es hat sich ein Betriebsrat gegründet und die Kameraüberwachung wurde abgebaut, auch weil Lidl wohl sein Image beschädigt sah. Inzwischen ist das aber wieder rückläufig. Man sollte auch nicht so tun, als ob man damit jetzt ständig überall Sachen nachhaltig verändert.
Die Callcenter-Szene hat gelitten, nachdem ich in mehreren Bereichen als Callcenter-Agent unterwegs war und den ganzen Betrug aufgedeckt habe, da stehen jetzt zwei Etagen leer. Durch Gespräche mit der damaligen Justizministerin, durch Aktivitäten mit den Verbraucherverbänden gibt es jetzt erschwerende Gesetze, höhere Bußgelder, die Nummern dürfen nicht mehr unterdrückt werden und die Frist für das Widerrufsrecht wurde verlängert. Das Gewerbe ist zwar immer noch aggressiv zugange, aber die Verbraucher sind nun etwas besser geschützt. Und es hat sich herumgesprochen, so dass häufiger aufgelegt wird.

Das Internet bietet eine Vielzahl neuer Sprachrohre, wie Twitter, Youtube, Facebook. Ist das ein Fluch oder ein Segen für die Zukunft, im Bezug auf die Aufdeckung von Unrecht, die Demokratisierung und die Pressefreiheit?
Wallraff: Ich habe das Internet von Anfang an als eine Chance angesehen, dass Unrecht, egal wo es auf der Welt stattfindet, bekannt wird. Die Vorteile überwiegen für mich, die Nachteile kennen wir alle, es gibt da auch Wahnwelten, die entstehen (lacht), Verschwörungsideologien und Verwirrspiele. Es müsste eigentlich in den Schulen ein Fach geben, wo unterrichtet wird, wie man seriöse Informationen von Gerüchtemacherei unterscheiden kann. Insgesamt sehe ich es als Vorteil an, von den Gewaltspielen mal abgesehen.

Gibt es noch Themenbereiche, Personenfelder oder Berufe in die Sie gerne noch verdeckt eintauchen möchten?
Wallraff: Aber jede Menge, da reichen drei Leben nicht aus! Solange die Kräfte reichen, bin ich da auch noch unterwegs. Bei mir wachsen die Themen im Kopf. Auch die Schwarzen-Rolle ist lange Zeit vorbereitet worden, ich hatte das vorher in einem anderen Zusammenhang vor: Ich wollte als Bootsflüchtling rüberkommen, habe aber keinen Schlepper gefunden, den ich einweihen konnte, der bereit war dichtzuhalten. Man muss sehen, wir leben in Kastengesellschaften, in geschlossenen Gesellschaftsbereichen, die teilweise stark unter sich bleiben.

Was tritt wohl zuerst ein: Der Zeitpunkt, an dem Sie körperlich die Undercover-Recherche nicht mehr durchführen können, oder der Zeitpunkt, an dem Sie tatsächlich jeder erkennt?
Wallraff: (Lacht) Der Böll hat das schon vor Urzeiten gesagt, 1978 war das, in einem Vorwort zur schwedischen Ausgabe von „13 unerwünschte Reportagen: „Ich habe nur einen Einwand gegen Wallraffs Methode: Er wird sie nicht mehr lange anwenden können, weil er zu bekannt wird.“ Das Erkennen ist aber weniger das Problem, eher wie lange die Kräfte reichen. Obwohl, die letzte Rolle könnte im Alters- oder Pflegeheim stattfinden, da herrschen teilweise gruselige Zustände. (Überlegt) Das könnte meine letzte Rolle sein, aber vielleicht auch unfreiwillig, denn als Dementer können sie ja nichts mehr aufdecken. Ich habe auch vor, meine Autobiographie in Angriff zu nehmen, wenn ich diese Rollentechniken nicht mehr ausführen kann, aber das sollte dann erst nach meinem Tod erscheinen, denn das wird dann auch eine „Selbstenthüllung“ sein.

Ein Kommentar zu “Das sitzt tiefer, als man annimmt”

  1. Klein |

    Günter Wallraff: bitte helfen Sie mir bei diesem Thema Penny-Markt die Angestellten müssen mindestens vierzig bis fünfzig Stunden umsonst im Monat arbeiten oder müssen von der Nachtschicht sofort in die Frühschicht und keiner nimmt darauf hört sich und man kann dagegen anscheinend nix machen sonst wird man entlassen oder versetzt bitte helfen sie mir kann nicht mehr ansehen wie meine Freundin darunter leidet

    Antworten

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.