Günter Netzer

Dem deutschen Fußball fehlen Persönlichkeiten.

Fußball-Experte Günter Netzer über die Chancen der deutschen Mannschaft bei der EM, fehlende Superstars, neue Vermarktungsmöglichkeiten, TV-Partner Gerhard Delling und seinen hohen Respekt vor der Fernsehkamera

Günter Netzer

© SWR / Poling

Herr Netzer, was für Chancen hat die deutsche Mannschaft bei der Europameisterschaft?
Netzer: Die Leistungen der Mannschaft waren zuletzt ansprechend, obwohl während der Saison immer wieder Spieler ausgefallen sind. Es ist ein gutes Zeichen, dass man da nicht rumjammert. Nach dem Motto: „Da fehlt der Ballack, da fehlt der Frings“. Es muss aber trotzdem noch eine Steigerung geben, denn so reicht es nicht. Wenn die Atmosphäre der Europameisterschaft das Team erreicht, wird es allerdings zu einer Steigerung fähig sein und wachsen.

Sehen Sie eine Entwicklung bei der Mannschaft?
Netzer: Die Mannschaft hat sich ständig weiterentwickelt. Jürgen Klinsmann hat für eine großartige Atmosphäre gesorgt und die Mannschaft belebt. Joachim Löw hat schon bei der WM erstklassige Arbeit geleistet und war ein ganz wichtiger Fixpunkt. Und nun sieht man, dass er die Mannschaft als Alleinverantwortlicher weitergebracht hat. Neue Spieler sind gekommen, die Leistungen der jungen, aber schon etablierten hat sich verbessert und die Basis ist breiter geworden. Es können jetzt nicht nur 14 oder 15 Spieler bedenkenlos eingesetzt werden, sondern es sind schon viel mehr.

Könnte es damit sogar für den EM-Titel reichen?
Netzer: Die deutsche Mannschaft zählt für mich zu einem Favoritenkreis von drei bis vier Mannschaften. Aber mein Favorit auf den Titel ist Italien, weil die von der Entwicklung her am weitesten sind. Die haben alles: Eine Defensive, die funktioniert – Verteidigen können die Italiener schließlich schon von Geburt an. Dann haben sie erstklassig funktionierende Arbeiter in ihrem Team, die sich für nichts zu schade sind. Sie haben aber auch Persönlichkeiten, zum Beispiel Andrea Pirlo im Mittelfeld oder Luca Toni als überragenden Torjäger.

Fehlen der deutschen Mannschaft Persönlichkeiten?
Netzer: Ja. Ich würde sogar noch weiter gehen: Im deutschen Fußball generell fehlen Persönlichkeiten. Die sind uns in den letzten zehn Jahren ein bisschen verloren gegangen. Wir haben nicht mehr die großen Persönlichkeiten früherer Zeiten. Die müssen wiederkommen.

Woran liegt es, dass es die zurzeit nicht mehr gibt?
Netzer: Ich kann das nicht erklären. Jedenfalls ist es so.

Uneingeschränkt?
Netzer: In gewissem Maße gibt es natürlich schon Persönlichkeiten. Michael Ballack zum Beispiel.

Der aber eher ein zurückhaltender Typ ist.
Netzer: Das ist eben sein Charakter. Es ist nicht notwendig, dass er in der Öffentlichkeit das Zepter übernimmt und dort eine große Rolle spielt. Für mich gelten nur die fußballerischen Leistungen – und da haben wir Sorgen. Schauen Sie mal: Zu unserer Zeit haben wir in jeder Mannschaft drei Superstars gehabt. Bei Köln, Dortmund, Schalke – überall gab es überragende Persönlichkeiten. Bei Bayern und Gladbach sowieso. Das ist ein bisschen verloren gegangen in der letzten Zeit. Aber das kommt wieder. Da bin ich mir sicher.

Mit Ihrer Schweizer Sportrechte-Agentur Infront handeln Sie selbst mit Fernsehrechten für Großereignisse. In welcher Weise sehen Sie eine Gefahr in der Kommerzialisierung des Sports?
Netzer: Man darf es nicht übertreiben. Wir sind mit unseren Lizenzen fast am obersten Rand angekommen. Die Übertragungsrechte für die WM in Südafrika wurden für Europa für rund eine Milliarde Euro verkauft. Solche Beträge gab es noch nie und es gibt nur wenige Veranstaltungen, die überhaupt noch Steigerungspotenzial haben. Dazu zählen eben Fußball-Welt- oder Europameisterschaften. Eine gewisse Gefahr ist daher immer vorhanden, weil die Fernsehanstalten, die das Produkt „Fußball“ teuer einkaufen, es entsprechend vermarkten müssen, um das investierte Geld irgendwie wieder reinzuholen. Man darf aber auf keinen Fall den Fußball verändern und alles auf den Kopf stellen wollen. Der Fußball muss seine Ursprünglichkeit behalten und darf nicht zur Show verkommen. In seiner ursprünglichen Form ist der Fußball unschlagbar.

Gleichzeitig werden immer neue Vermarktungsmöglichkeiten gesucht. Wie stellen Sie sich die Berichterstattung in den Medien in den nächsten Jahren vor?
Netzer: Das Internet wird ganz sicher eine Rolle spielen. Es wird neue Vermarktungsmöglichkeiten bieten. Außerdem ist Pay-TV von enormer Bedeutung. Man sieht am Beispiel England, welche Gelder da akquiriert werden. Dort wird gut das Dreifache von dem erzielt, was Pay-TV in Deutschland einbringt.

Zitiert

Der Fußball muss seine Ursprünglichkeit behalten und darf nicht zur Show verkommen.

Günter Netzer

Deshalb können die deutschen Mannschaften in der Champions League ja auch nicht mithalten.
Netzer: Das ist genau der Punkt. Die englischen Top-Teams können sich jeden Spieler kaufen, den sie zur Verbesserung der Mannschaft brauchen. Die deutschen Mannschaften werden hinterherhinken, so lange wir in Sachen Vermarktung nicht auf die Beine kommen.

Sie stehen seit zehn Jahren zusammen mit Gerhard Delling als Kommentator der Fußballländerspiele vor der Kamera. Wie sieht Ihre Bilanz aus?
Netzer: Für mich gibt es zwei Bilanzen – eine persönliche Bilanz, die ich im tiefsten Inneren mit mir trage, und eine Bilanz für die Öffentlichkeit. Die Bilanz für die Öffentlichkeit ist, glaube ich, sehr erfreulich, weil die ARD mit uns eine Verpflichtung gemacht hat, die sich mehrfach bewährt hat. Und unser Auftreten entspricht nach wie vor dem Wunsch des Publikums. Zu meiner persönlichen Bilanz muss ich sagen, dass die Präsenz vor der Kamera für mich eine völlig neue Erfahrung gewesen ist. Ich bin ja kein geborener Fernsehmann. Für mich wäre es nicht anders machbar, als mit Gerhard Delling einen Partner an meiner Seite zu haben, dem ich einhundertprozentig vertrauen kann, bei dem ich mich wohl fühle und keine Sekunde befürchten muss, dass irgendetwas im Argen ist. Unsere gemeinsame Arbeit funktioniert nur auf einer intakten freundschaftlichen Basis.

Wieso ist Ihnen diese freundschaftliche Basis so wichtig?
Netzer: Ich muss mich auf meinen Partner verlassen können. Gerhard Delling verfügt als Fernsehprofi viel mehr über die Macht der Sprache als ich. Er kennt sich wirklich aus und hat keine Angst vor diesem Medium. Ich selbst habe immer noch hohen Respekt vor der Fernsehkamera und teilweise auch noch Lampenfieber. Gerhard Delling hat in all den Jahren seine kritische Einstellung nicht verändert. Seine Fragen hatten immer die richtige professionelle Basis. Unser Zusammenwirken hätte auf Dauer nicht funktioniert, wenn ich ihn als Fußball-Laien betrachten würde. Ich muss keine Angst vor Fragen haben, die völlig an der Sache vorbeigehen.

Zu Beginn Ihrer Zusammenarbeit stand Gerhard Delling noch am Anfang seiner Karriere. Sie galten nicht unbedingt als einfacher Interviewpartner. Wie kam die Konstellation Delling/Netzer überhaupt zustande?
Netzer: Das war ein Zufallsprodukt. Ich habe ihn mir gewünscht, da ich vorher beim NDR ein langes Gespräch mit ihm vor der Kamera hatte. Ich habe sofort gemerkt, dass er ein netter Kerl ist, aber gleichzeitig auch ein Profi und kritischer Journalist. Delling äußert keine Kritik nur um der Kritik willen, um sich selbst zu profilieren. Sie folgt bei ihm nur dann, wenn sie notwendig ist. Das war der alles entscheidende Punkt. Es gibt so viele Fernsehleute, die zu anderen Persönlichkeiten mutieren, wenn das rote Licht angeht, weil sie glauben, eine Show abziehen zu müssen. Das war bei ihm jedoch nie der Fall. Ich wäre auch der ungeeigneteste Mensch dafür, um mich in eine Show einbinden zu lassen. Zudem sind wir beide im Naturell sehr ähnlich. Er ist ein typischer Norddeutscher, der – wie ich – ruhig und trocken ist. Deswegen hat es funktioniert. Am Anfang gab es Diskussionen mit der ARD, weil es dort viele Moderatoren gab und man die am liebsten ständig gewechselt hätte. Für mich war aber von Vornherein klar, dass ich für meine Arbeit einen festen Partner brauche.

Haben Sie 1998 geglaubt, dass die Zusammenarbeit mit Delling so lange andauern würde?
Netzer: Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht und auch nicht nach jedem Jahr geschaut, wie die Quoten waren. Für mich war die Sprache der Straße immer ganz wichtig. Taxifahrer sind zum Beispiel ein Pegel für mich, da sie die Wahrheit sagen. Da kriegt man genau die Kritik, die man braucht. Und Frauen waren immer ganz wichtig. Mit ihrem fraulichen Instinkt sagen sie Sachen über den Fußball, die bemerkenswert sind und die ein typischer Fußballkenner nie sagen würde. Wenn ich mit Frauen spreche, höre ich oft: „Herr Netzer, wir sind Ihnen dankbar, denn wir sind keine Fußballfreaks, aber Sie erklären uns diesen Sport und wir verstehen Sie.“ Gibt es ein größeres Kompliment, als dass mich die Frauen verstehen?

Sie und Gerhard Delling haben kürzlich den Medienpreis für Sprachkultur der Gesellschaft für deutsche Sprache erhalten. In der Begründung hieß es: Auch Leute, die sich nicht für Fußball interessieren, hören bei Ihnen zu.
Netzer: Das ist schön zu hören, denn genau das war immer mein Ziel. Ich wollte nie mit meinen Fachkenntnissen protzen. Das war nie mein Streben, weil ich es bei anderen hasse, wenn sie mir eine Sache nicht erklären können. Wenn mir das also gut gelingt, bin ich hochzufrieden.

Wenn man sich die Fußballberichterstattung ansieht, hat man manchmal auch den Eindruck, dass sich der Fußball zu einer Wissenschaft entwickelt hat.
Netzer: Die Sprache hat sich enorm verbessert, aber ich würde es gar nicht kritisch anmerken wollen, dass wir zu meinen aktiven Zeiten ein niedrigeres Sprachniveau hatten. Das war damals absolut zeitgemäß. Man kann das Niveau damals nicht direkt mit dem heutigen vergleichen, ebenso wenig wie das fußballerische Niveau damals mit dem Niveau von heute. Wir haben in den Siebzigern auf höchstem Niveau Fußball gespielt und das sieht in der heutigen Zeit natürlich sehr langsam aus. Aber für die damalige Zeit war es eben das allerhöchste Niveau.

Wenn Sie in der Sendung etwas erklären: Tun Sie das eher für die Zuschauer oder für Gerhard Delling?
Netzer: (lacht) Delling ist immer noch nicht auf der Höhe des Geschehens, aber er ist absolut lernfähig. Wobei, manchmal ist er bockig, dann will er einfach nicht lernen und ist wie ein trotziges Kind. Dann stampft er mit dem Fuß auf und ich muss es ihm zum zehnten Mal erklären.

Bei der EM werden Gerhard Delling und Sie immer direkt an den Spielorten sein und dabei die Atmosphäre des Public Viewing einfangen. Sind Sie ein Fan von Public Viewing?
Netzer: Public Viewing kannte vor der Weltmeisterschaft 2006 kein Mensch. Wir besaßen als Agentur die Public Viewing-Rechte und haben dann gesehen, was für ein Interesse es daran gab. Nun ist es nicht mehr wegzudenken. Das ist feiern pur für die Menschen. Und es ist ein Ventil für die Fans, die nicht in die Stadien können.

Gerhard Delling hofft auf ein Endspiel Deutschland gegen Italien…
Netzer: (lacht) Da hat er sich wieder nicht vorinformiert. Denn die werden wahrscheinlich schon im Viertelfinale aufeinander treffen… (lacht).

Ein Kommentar zu “Dem deutschen Fußball fehlen Persönlichkeiten.”

  1. von von |

    Klasse Interview!

    Sehr spannendes und trotzdem unterhaltsames Interview. Man erfährt auch viel zwischen den Zeilen. Sehr interessant auch der Exkurs auf die Sprache selbst. Danke!

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