Gisela Mayer

Wir müssen Mitgefühl lernen, wie wir Sprache lernen müssen.

Gisela Mayer über über den Tod ihrer Tochter Nina beim Amoklauf von Winnenden, den Täter Tim Kretschmer und einen Mangel an Empathiefähigkeit in der Gesellschaft

Gisela Mayer

© Hans Scherhaufer

Frau Mayer, Sie schreiben in Ihrem Buch: „Seit dem Amoklauf vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht immer wieder von neuem erklären muss, dass ein Teil meines Lebens zu Ende ist, dass ein Teil von mir, von uns als Familie unwiederbringlich weg ist.“ Dann stirbt Ihre Tochter Nina quasi täglich in Ihren Empfindungen?
Mayer: Nein. Ich wehre mich mit meiner ganzen Lebenskraft ihren Tod zu akzeptieren – und weiß doch, dass ich diesen Kampf verlieren werde. Ich versuche mir das selbst klar zu machen.

In welchen Momenten ist sie Ihnen wieder besonders nahe?
Mayer: Im Alltag, bei vielen Dingen, die wir gemeinsam getan haben. Das sind ganz einfache, normale Dinge. Einkaufen zum Beispiel.

Denken Sie, der Tod Ihrer ältesten Tochter wäre durch einen Unfall oder eine schwere Krankheit weniger schmerzhaft gewesen?
Mayer: Das kann ich nicht sagen, da sie nicht bei einem Unfall gestorben ist. Ich kann nur sagen, dass es für mich ein unendlich schmerzhafter Gedanke ist, dass ihr Gewalt angetan wurde.

In welchen Momenten können Sie die Tragödie Winnenden vergessen?
Mayer: Vergessen nie, aber es gibt Momente, in denen alles weniger schmerzhaft ist – das ist dann, wenn ich meine jüngere Tochter lachen sehe. Das ist leider nur sehr selten der Fall.

Ist der Schmerz dann wieder besonders intensiv, wenn Sie nach solchen Momenten des Vergessens begreifen: "Stopp, meine Tochter ist ja tot!"?
Mayer: Schmerzhaft sind besonders schöne Momente, einfach weil ich weiß, wie sehr sie selbst diese Momente geliebt hat.

Sie schreiben über den Täter Tim Kretschmer: „Er konnte sich selbst nicht mehr spüren, deshalb hatte er kein Mitgefühl für andere.“ Über Ihre Tochter schreiben Sie: „Nina hatte so viel Liebe zu geben, sie war für die Schwachen und Benachteiligten da, hatte Geduld, …“ Wie können Sie sich erklären, dass sich zwei Kinder zu solch unterschiedlichen Menschen entwickeln?
Mayer: Ich denke, beide sind, als sie zur Welt kamen, zunächst offen gewesen für alles – wie alle Menschen. Die eine hat in ihrem Leben viel Liebe, Zuwendung und immer und immer wieder Anteilnahme an ihrem Leben bekommen – sie ist wirklich geliebt worden. Niemand weiß das besser als ich. – Der andere hat dies alles möglicherweise nicht bekommen. Und es ist nun einmal so: Um in vollem Sinne Mensch zu werden, braucht der Mensch den Menschen. Wir müssen Mitgefühl lernen, wie wir Sprache lernen müssen.

Sie prangern die Schamlosigkeit der Medien an, die Fassungslosigkeit heucheln würden und sich doch nur auflagensteigernd am Grauen der Tat weiden. Haben Sie die Berichterstattung nach dem 11. März 2009 so erlebt?
Mayer: Zum Teil. Es gibt Journalisten, die sehr klug und sensibel mit diesem furchtbaren Thema umgehen – und es gibt das Gegenteil. Das wäre nicht so schlimm, wenn man in dieser Situation nicht so verletzt und wehrlos wäre.

Jetzt suchen Sie als Pressesprecherin des Aktionsbündnis Winnenden, als gefragte Interviewpartnerin und als Buchautorin die Medien. Was hat sich verändert?
Mayer: Nicht viel. Ich habe stets das Gespräch mit guten Gesprächspartnern gesucht – und solche, denen es nur um Sensation geht, gemieden.

Sie sagen: „Was geschehen ist, ist die Schuld vieler, nicht die eines Einzelnen.“ Wie meinen Sie das?
Mayer: Vor 17 Jahren kam ein Kind zur Welt – kein Amokläufer. 17 Jahre später war dieses Kind ein Mensch geworden, der so voll Hass und Wut war und dieses Leben, das er hatte, nicht mehr wollte. So dass er sich für alles, was ihm angetan worden war, rächen wollte und sich und andere tötete. Die Frage ist, was in den vergangenen 17 Jahren geschehen ist. Diese Frage müssen diejenigen beantworten, die ihn in dieser Zeit begleitet haben.

Zitiert

Ich wehre mich mit meiner ganzen Lebenskraft den Tod meiner Tochter zu akzeptieren – und weiß doch, dass ich diesen Kampf verlieren werde.

Gisela Mayer

Wünschen Sie manchmal, Tim Kretschmer hätte überlebt, um ihn nach dem Warum fragen zu können?
Mayer: Hätte ich ein wissenschaftliches Interesse, würde ich es mir wünschen. Aber mein Kind ist tot und ich möchte mich nicht mit seinem Mörder unterhalten.

Nina wurde an ihrem 25. Geburtstag beerdigt. Warum haben Sie diesen Tag ausgewählt?
Mayer: Weil er die Katastrophe noch deutlicher macht. Sie hat die Welt nach 25 Jahren an dem Tag verlassen, an dem sie sie betreten hatte.

Sie haben nach dem Amoklauf begonnen Ninas gesamten Tagesablauf und den Tathergang zu rekonstruieren. Warum wollten Sie alles genau wissen?
Mayer: Ich habe meine Tochter ein Leben lang begleitet. Ich werde sie daher auch nicht in den letzten Sekunden verlassen – auch wenn dies erst nach einem Jahr möglich ist. – Aber ein Jahr ist nicht viel angesichts der Ewigkeit.

Sie haben in einem Jahr das Buch geschrieben und das Aktionsbündnis Winnenden mit gegründet. Hatten Sie überhaupt Zeit den eigentlichen Tod Ihres Kindes zu verarbeiten?
Mayer: Dazu brauche ich wesentlich länger als ein Jahr. Ob ich den Tod meiner Tochter überhaupt und inwiefern ich ihn verarbeiten kann, weiß ich heute noch nicht.

Was kommt bei Ihnen nach dem 11.März 2010?
Mayer: Der nächste Tag. Der 11. März 2010 ist kein besonderer Tag. An diesem Tag ist der Schmerz nicht kleiner oder größer als sonst, lediglich das Medieninteresse ist größer

Was ist der Hauptbeweggrund des Aktionsbündnis Winnenden?
Mayer: Die Tatsache, dass es sich bei Amok nicht um eine Naturkatastrophe, sondern um eine Menschenkatastrophe handelt. Daraus erwächst die Verpflichtung zu handeln.

Sie haben sich sehr auf das Verbot gewaltverherrlichender Spiele versteift. Denken Sie ein Verbot solcher Spiele könnte einen erneuten Amoklauf verhindern?
Mayer: Wir versuchen in diesem Bereich effektiven Jugendschutz durchzusetzen, ähnlich wie dies im Hinblick auf Alkohol und Nikotin die Praxis ist. Selbstverständlich wind wir davon überzeugt, dass dies einer von vielen Beiträgen zur Herabsetzung der Wahrscheinlichkeit erneuter Amokläufe ist.

Sie schreiben: „Im letzten Jahrzehnt hat sich eine gewisse Kälte breitgemacht, ein Mangel an Empathiefähigkeit, der sich durch die Gesellschaft als Ganzes zieht.“  Ist Ihnen  diese sogenannte Kälte in der Gesellschaft auch schon vor Ninas Tod aufgefallen?
Mayer: Ja, das Buch ist das Resultat von 20 Jahren Erfahrung, Beobachtung und Lehrtätigkeit.

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