Gentleman

Musik ist ein unaufdringlicher Weg, sein Gedankengut mit Anderen zu teilen.

Tilmann Otto alias Gentleman über das Album „Diversity“, die deutsche Reggae-Polizei und das Altersspektrum seiner Hörer

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© Olaf Hein

Gentleman, dein in diesem Jahr erschienenes Album heißt „Diversity“.usikalische Vielfalt ist prinzipiell sicherlich eine gute Sache, dennoch kann man dadurch auch Gefahr laufen, eine Platte zu verwässern. Wie bist du diesem Problem entgegengetreten?
Gentleman: Ich habe die Songs zu jeder Zeit gespürt, und solange das der Fall ist, verwässert auch nichts. Ich sehe mich auf der Platte selbst als roten Faden und musste daher nicht in Genres denken, wie es die hiesige Reggae-Polizei oft tut. Auf dem Album spiele ich zum Beispiel mit einigen Europopsounds und musste mir deshalb bereits anhören, dass ich doch bitte bei den Roots bleiben und nicht so ein Großraum-Disco-Gedöns machen soll. Dabei sind das genau die Einflüsse, die man derzeit auf Jamaika hört. In Deutschland haben die Leute leider viel zu oft Berührungsängste mit anderen Genres, zu häufig Scheuklappen auf und sind zu kopflastig. Musik ist aber eben keine Kopf-, sondern eine Herzensangelegenheit. Das haben hier leider immer noch nicht alle begriffen.

Steht sich die hiesige Reggae-Szene damit selbst im Weg?
Gentleman: Na klar, denn vieles darf einfach nicht gemacht werden. Irgendwann führt das zwangsläufig zu einem Stillstand. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern habe ich manchmal das Gefühl, dass hier häufig der richtige Spirit fehlt. Aber eigentlich möchte ich in Bezug auf die Reggae-Szene gar keine regionalen Grenzen mehr ziehen, denn Reggae ist international. Diesen Anspruch hat die Musik, und daher kommt auch ihre Kraft. Es geht ums große Ganze.

Zu deinem letzten Album hattest du angemerkt, dass du keinen Bock mehr auf Oberflächlichkeiten hast und lieber noch mehr in die Tiefe gehen möchtest. Nun gibt es auf „Diversity“ allerdings auch ein paar eher leichte Nummern.
Gentleman: Heute sehe ich das auch anders. Nicht jeder Song muss eine Message haben. Manchmal stehen andere Dinge im Vordergrund. Musik soll bewegen, egal ob körperlich oder geistig. Denn was nützt dir der tollste Text der Welt, wenn dir das musikalische Grundgerüst und die Melodie fehlen, damit die Leute dir zuhören?

Viele Musikstile sind an bestimmte Altersgruppen gebunden: Jazz ist eher was für die Älteren, Rap tendenziell eher etwas für die Jüngeren. Ist Reggae für dich eine alterslose Musik?
Gentleman: Absolut. Auf meinen Konzerten kommen mittlerweile Väter mit ihren Söhnen und ich bekomme Briefe von Jugendlichen, die meine Musik über ihre Eltern kennengelernt haben. Die Vielfalt, und da sind wir wieder bei meinem Albumtitel „Diversity“, ist im Reggae so ausgeprägt wie in kaum einer anderen Musik. Denn ob es Dancehall, Dub, Lovers Rock oder Roots ist, ob es oberflächliche Lyrics sind oder Texte mit dem tiefsten Spirit von Leuten wie Bob Marley, Dennis Brown oder Jacob Miller – das fällt alles unter das Dach des Reggaes und deshalb ist dieses Genre so spannend und generationsübergreifend. Ich kenne auch keine Musik mit einem so hohen Wahrheitsgehalt und einer solchen Zeitlosigkeit. Das ist wirklich einzigartig. Kleine Kids, der Großvater oder die ausgelernte Bäckereifachverkäuferin – alle stehen auf Reggae.

Seit Ewigkeiten versuchst du bereits, mal einen Song mit Patrice aufzunehmen – für dieses Album hat es nun endlich geklappt. Wie habt ihr das diesmal bewerkstelligt bekommen?
Gentleman: Daran arbeiten wir tatsächlich schon seit zehn Jahren. Das hatte sich mittlerweile schon zu einer Art Running Gag zwischen uns entwickelt. Bei diesem Album war mir aber klar: Dieses Mal muss es endlich klappen. Während der Albumproduktion saß ich eines Tages in der Millionenmetropole Kingston im Berufsverkehr an einer Kreuzung hinten im Auto, sah aus dem Fenster und merkte plötzlich, dass Patrice direkt im Auto neben mir sitzt! Das war ein vollkommen absurder Moment, aber ein erneuter Beweis dafür, dass es im Leben eben keine Zufälle, sondern nur Fügungen gibt – und aufgrund dieses außergewöhnlichen Zusammentreffens nun eben auch endlich unseren ersten gemeinsamen Song.

Du hast auf der Platte auch mit vielen anderen Künstlern wie Tanya Stephens, Sugar Minott und Christopher Martin zusammengearbeitet. Im Zuge solcher Kollaborationen wird die Kommunikation übers Internet zunehmend wichtiger. Du stehst diesem Umstand jedoch eigentlich eher kritisch gegenüber.
Gentleman: Ich nutze die Vorteile des Internets natürlich auch, aber man darf dabei den Bezug zur Realität nicht verlieren. Man muss die Flut an Informationen richtig zu filtern wissen, und hier spreche ich auch in meiner Rolle als Vater. Zu meiner Jugendzeit gab es eben nur drei Fernsehprogramme, die Herausforderungen durch die Informationsflut sind heutzutage ganz andere. Ich sehe auch das kommunikative Miteinander mit besorgniserregenden Augen, weil der intensive Austausch durch das ständige Mitteilen von Lappalien auf der Strecke bleibt. In Cafés sitzen die Leute doch bloß noch alleine vor ihren Blackberrys und Laptops und pflegen ihre sozialen Kontakte via Myspace und Facebook, anstatt sich gegenseitig in die Augen zu schauen und sich zu unterhalten. Eine gewisse Skepsis gegenüber solchen Entwicklungen ist daher durchaus angebracht.

Was tust du denn konkret, um deinem 9-jährigen Sohn das nötige Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit den Neuen Medien mit auf den Weg zu geben?
Gentleman: Ich zeige ihm vor allem Alternativen auf, gehe mit ihm zum Beispiel in den Wald und baue ein Baumhaus. Natürlich kann man meine Jugend nicht mit seiner vergleichen, aber ich war früher lieber draußen als vor der Glotze. Oft ist das Abtauchen in virtuelle Welten ja eine Flucht aufgrund von Langeweile und Perspektivlosigkeit. Ich versuche einfach, für meinen Sohn da zu sein, an seinem Leben teilzuhaben und seine Kreativität zu fördern. Und wenn man das schafft, gibt es für Eskapismus auch keinen Grund mehr.

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Im Vergleich zu vielen anderen Ländern habe ich manchmal das Gefühl, dass in Deutschland häufig der richtige Spirit fehlt.

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Nun bist du als Musiker aber auch viel unterwegs. Wie schwierig ist es da für dich, in angemessener Form für deinen Sohn da zu sein?
Gentleman: Das ist sehr schwierig und genau der Knackpunkt. Zeit wird dadurch ungemein wertvoll. Das ist Luxus. Aber man muss sich eben Gedanken machen und dafür sorgen, dass man die Zeit mit seinen Kindern dafür intensiver verbringt.

Du bist ein sehr spiritueller Mensch, glaubst an Gott, jedoch nicht an Religion. Wieso diese Trennung?
Gentleman: Gott ist meiner Ansicht nach nur eines von vielen Modellen für das Gute im Menschen, und daran glaube ich. Aber man braucht sich ja nur einmal die Nachrichten anzuschauen um zu sehen, was organisierte Religion alles anrichten kann – ohne dabei jemandem zu nahe treten zu wollen. Natürlich geben Religionen auch vielen Leuten halt, aber sie sind genauso der Grund für einen Israel/Palästina-Konflikt oder Selbstmordattentäter, die nach Jungfrauen schreiend in Hochhäuser fliegen. Wenn man mit sich selbst im Einklang ist, dann muss Religion nichts Schlechtes sein. Aber Religion bedeutet für viele Menschen eben auch, mit erhobenem Zeigefinger missionieren zu wollen und fanatisch zu sein. Ich persönlich kann da für mich nichts herausziehen, obwohl jede Religion wahrscheinlich einen guten Kern hat. Aber das ganze Drumherum birgt einfach zu viele Gefahren.

Dein Vater ist Pastor. Wie steht der denn dazu?
Gentleman: Er kann meine Gedankengänge durchaus nachvollziehen, ist in seinem Glauben aber genauso gefestigt wie ich in meinem. Letztlich muss eben immer noch jeder selbst entscheiden, woran er glaubt. Ich habe für mich schon sehr früh herausgefunden, dass die Kirche kein Ort ist, an dem ich mich Gott nahe fühle. Dort war es immer kalt, man musste auf harten Bänken sitzen und Texte singen, in denen es darum ging, dass man verdammt wird, wenn man nicht an Jesus glaubt. Das war mir immer ein bisschen zu krass.

Du versuchst, den Leuten über deine Musik Kraft zu geben. Fällt dir das beim Blick in die Zeitung manchmal schwer?
Gentleman: Eigentlich teile ich mich den Menschen bloß mit. Doch wenn man darüber spricht, werden die tagtäglichen Probleme bereits viel erträglicher. Ich selbst habe ja auch keine Lösungen parat. Doch Musik ist eben ein wunderbarer und unaufdringlicher Weg, sein Gedankengut mit Anderen zu teilen. Am schlimmsten ist es immer, wenn es einem selbst nicht gut geht, um einen herum jedoch die Spaßgesellschaft tobt. Dann fühlt man sich ausgegrenzt und allein.

Ist diese Flucht vor den Alltagsproblemen hinein in die Spaßgesellschaft für dich denn nachvollziehbar?
Gentleman: Natürlich. Trotzdem geht mir das als sensibler Mensch auf den Wecker, wenn die Menschen sich bereits weigern hinzusehen. Dabei kann man in seinem eigenen Umfeld bereits viel verändern und Dinge anders, und damit eben oft auch besser machen. Letztlich teilen wir alle dieselbe Freude und dasselbe Leid, und wenn wir uns dessen bewusst sind, wird es einfacher – denn viele kleine Teile ergeben ein großes.

Hinweis: Für SPIESSER.de haben wir im Juli 2010 ein Video-Interview mit Gentleman produziert.

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