Aktham Suliman

Der Krieg ist vorbei, die meisten Medien ziehen ab – wir bleiben!

Aktham Suliman , Deutschland-Korrespondent für Al Jazeera TV über die Tätigkeit seines Senders, Exklusiv-Bilder aus dem Irak und die Meinung der arabischen Öffentlichkeit zum 'alten Europa'

Herr Suliman, was berichten Sie aktuell vom politischen Berlin für Ihre Zuschauer?
Suliman: Nun, zurzeit leider nicht so viel an Nachrichten, was die internationale Bedeutung betrifft: Die neu geschaffenen Tatsachen im Irak setzten die Rolle der deutschen Regierung etwas zurück Das muss man leider so sehen. Dagegen berichteten wir von der letzten OPEC-Konferenz in Wien, der ersten nach dem Irak-Krieg. Auch die Entführung des Bremer Linienbusses quer durch Norddeutschland durch einen jungen Libanesen spielte eine Rolle in der Berichterstattung. Darüber hinaus sendeten wir einen Beitrag über die Situation der Exil-Iraker in der Bundesrepublik, die sich mit der entscheidenden Frage beschäftigen, ob sie in den Irak zurückkehren wollen oder nicht.

Anknüpfend an Ihre Aussage zur derzeitigen Rolle der von den USA desavouierten Bundesregierung: Welche Präsenz wird der deutschen Politik seitens der arabischen Medienlandschaft eingeräumt?
Suliman: Nun, das ist gerade etwas schwierig: Ein Nachrichtensender lebt von Nachrichten. Momentan dringt wenig aus dem Kanzleramt nach draußen, was einen bedeutenden Nachrichtenwert für die arabischen Medien und Öffentlichkeit hätte. Die so genannte Road-Map beispielsweise, also der auch von Außenminister Fischer mitgetragene Friedensplan für den Nahen Osten, wird nun deutlich von den USA bestimmt, die Rolle Deutschlands tritt dabei in den Hintergrund. Die Regierung Schröder nahm mit Ihrer Position gegen einen Militäreinsatz vor dem Irak-Krieg eine weit deutlichere Präsenz im Programm von Al Jazeera ein. Natürlich begleiteten wir das Thema Irakkrieg von hier aus und berichteten beispielsweise über die Friedensdemonstrationen wie in Leipzig oder Berlin, sowie über die Problematik zwischen Kurden und Türken, die sich nicht nur im Norden des Irak, sondern in ihren Volksgruppen auch in Deutschland gegenüberstehen.

Wie kam es zu der Entscheidung Ihres Senders, ein ständiges Büro in Deutschland zu eröffnen?
Suliman: Eindeutig aufgrund der wachsenden Bedeutung Berlins in der Weltpolitik: Erst Vereinigungsprozess, dann Regierungsumzug, jetzt Sicherheitsrat. Dazu liegen benachbarte Hauptstädte wie Warschau, Prag, Budapest nicht weit weg und werden durch unser Büro mit abgedeckt. Im März besuchten wir beispielsweise das Trainingscamp irakischer Oppositioneller in Ungarn. Unsere Korrespondenten sind nicht nur für einen Ort zuständig, sondern für die Nachrichten und ziehen weiter und weiter, bis sie an die Quelle kommen — wie die Beduinen (lacht).

Können Ihre Reporter durch die gemeinsame arabische Sprache mehr Informationen im Irak beziehen als Kollegen anderer Sender?
Suliman: Ja, ganz eindeutig. Wir kennen dazu die Mentalität, die Gebräuche, die Kultur, besitzen auch eine geografische Nähe, was zu leichterer Interaktion zwischen Hauptredaktion und Korrespondenten führt und können viel mehr in die Tiefe gehen. Das ist ein Vorteil.

Was die Exklusivbilder von der Front im Irak wie bereits in Afghanistan betrifft, ist Al Jazeera TV oft im Vorteil gegenüber großen Sendern wie CNN oder BBC, denen Sie die Beiträge verkaufen. Wie gelangen Sie stets an die vorderste Linie?
Suliman: Als Nachrichtensender, der außer Bilderverkauf und Werbung kaum Einnahmequellen hat, muss natürlich auf anständige und gehaltvolle Nachrichten- und Bildqualität geachtet werden. Wann immer ein Land langfristig wichtig zu werden schien, haben wir dort unser Personal aufgestockt. Die lange aufgebauten Kenntnisse vor Ort sind uns dann nützlich, sobald sich die Nachrichtenlage ändert und, wie aktuell, ein Land wie der Irak in den Focus rückt. Beispiel Afghanistan: Vor den Anschlägen in den USA waren nur CNN und AL Jazeera als Sender dort vertreten. Keiner konnte die Ereignisse des 11.September vorausahnen, doch wer etwas überlegte, wusste, dass das Taliban-Regime einen Konfliktherd darstellte. Im Irak haben wir lange vor Kriegsausbruch unser Personal nach und nach aufgestockt. Derzeit sind wir der einzige ständig in China vertretene arabische Nachrichtensender! Weitsicht ist wichtig!

Al Jazeera gilt als unbequem, trotz oder wegen seiner Objektivität. Gleichwohl werfen Ihnen einige Politiker, jüngst Donald Rumsfeld, Verstöße gegen die "Moral der Berichterstattung", ja sogar Parteinahme für die irakischen Truppen vor — wie begegnen Sie diesem Urteil?
Suliman: Zunächst einmal verbuchen wir diese Äußerung zu den anderen Vorurteilen, mit denen wir konfrontiert werden, wie: "antiarabisch, islamistisch, antiwestlich, proamerikanisch, zionistisch, antiisraelisch…ja, und nun wurden uns Verletzungen der Genfer Konventionen vorgeworfen. Es ist interessant, wenn ein Kriegsbeteiligter wie der US-Verteidigungsminister von "Ethik" spricht. Generell zeigen solche Äußerungen, dass unser Sender eine größere Bedeutung erlangt hat, denn sonst würden sich nicht so viele Entscheidungsträger zu solchen Urteilen hinreißen lassen. Ein Reporter legt den Finger auf die Wunde, das ist vielleicht unbequem, doch er verursacht nicht die Wunde.

Wie weit versuchten sowohl ehemalige die irakische als auch die amerikanische Regierung Ihren Sender zu beeinflussen?
Suliman: Konfliktparteien konkurrieren um die Macht der Bilder. Ob in unserem Programm zuerst der irakische Verteidigungsminister sprach oder der US-Generalstabschef: Stets fühlte sich eine Seite benachteiligt, besonders in einem Krieg. Da wir ein großes Publikum ansprechen und immer alle gegensätzlichen Standpunkte zeigen möchten, bemühte sich sowohl irakisches als auch amerikanisches Militär stets, Bildauswahl und Wortwahl zu ihren Gunsten zu formen. Wir werden in der Regel eher mit Informationen, unabhängig von ihrem Gehaltswert, beliefert als davon abgeschnitten.

Beeinflusst die Berichterstattung Al Jazeeras die Medienlandschaft der arabischen bzw. islamischen Welt?
Suliman: Al Jazeera hat schon beeinflusst. Nachhaltig! Nachdem sich unser Format in der arabischsprachigen Medienwelt durchgesetzt hatte, zogen private TV-Sender wie jüngst Al- Arabiya aus Dubai nach. Sogar die staatlichen Sender haben sich bewegt, zeigen nach und nach auch andere Meinungen als die Ihrer Regierungen, bringen bessere Bildqualität und Programmvielfalt. Al Jazeera hat gezeigt, dass sich Qualitäts-TV und günstiges Produzieren nicht ausschließen. Ägyptens Präsident Mubarak rief einmal sichtlich erstaunt, als er die relativ übersichtliche Produktionsetage in Doha besichtigte: "Was, aus dieser Streichholzschachtel kommt so viel Ärger?" Technik ist nicht alles. Es ist beachtlich, wie sehr sich die arabischsprachige Fernsehlandschaft seit Mitte der Neunziger Jahre entwickelt hat.

Viele Menschen sprachen vor Kriegsausbruch bereits von einer neuen Partnerschaft Paris-Berlin-Moskau: Wie sehen Al Jazeera TV, die arabische Presse und Öffentlichkeit allgemein die ablehnende Haltung zum Krieg seitens der "alten" Europäer?
Suliman: Ich sehe zunächst eher eine gemeinsame Reaktionslinie: Der wachsende Dialog zwischen den genannten Regierungen ist Folge des zunehmend einseitigen Verhältnisses Washingtons zu seinen transatlantischen Partnern. Von einem Paradigmenwechsel oder gar einer "Achse" können wir noch nicht sprechen, trotz der ursprünglich gemeinsamen Positionen zum Irak-Krieg. Es fehlt eine gemeinsame initiative. Gleichwohl wird der Emanzipationsprozess des "alten" Europa gegenüber den USA in der arabischen Öffentlichkeit sehr aufmerksam verfolgt: Hardlinern fällt es nun viel schwerer, den Westen als eine bedrohliche Einheit darzustellen. Ein weltpolitisch gewichtigeres Europa wäre wünschenswert, doch zeigte Washingtons Parade mit dem Brief der "willigen Acht" kurz vor Kriegsausbruch, dass noch zu viele Trennlinien und Interessenskonflikte ein gemeinsames Europa behindern.

Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft des Iraks und seiner Bevölkerung aus?
Suliman: Oh, das ist sehr spekulativ . Ich denke, die Militär-Präsenz der USA wird länger andauern. Hier werden neue Probleme geschaffen, trotz Saddams Entmachtung, denn die Menschen begreifen die "alliierten" Streitkräfte als Invasoren, als Besatzungsmacht. Die USA setzten erst Pentagon-Mann Jay Garner an die Spitze des irakischen Wiederaufbaus, dann den Diplomaten Paul Bremer. Das Volk tobt erzürnt auf der Strasse, die Ordnungsmacht reagiert mit Gewehrfeuer. Kein guter Anfang. Wieder einmal wird von außen bestimmt, was die Iraker zu tun und zu lassen haben. Die irakische Bevölkerung ist bereits sehr marginalisiert, erfährt seit Jahrhunderten einen hohen Druck von außen (Osmanische und Britische Kolonialzeit) und konnte sich kaum selbstständig entfalten. Die Diktatur endet, doch kein Politiker hat bisher eine ausgewogene Nachkriegsordnung vorgelegt, geschweige denn über die langfristige Entwicklung des Irak gesprochen. Wer auch immer den Irak in absehbarer Zukunft regieren wird: Das zerrissene Vertrauen der irakischen Bevölkerung wird nicht so leicht zu gewinnen sein.

Eine Zwischenbilanz: Glauben Sie, dass die gemeinsame Verweigerungshaltung Deutschlands, Frankreichs und Russlands einen Riss oder eher eine Konsolidierung im Fundament des europäischen Hauses geschaffen hat?
Suliman: (seufzt) Oh, das europäische Haus, na ja…also auf der einen Seite muss man schon sagen, was man meint, auch als Staat. Bedeutend war, dass Deutschland und Frankreich sich innerhalb der Europäischen Union und innerhalb der NATO artikuliert haben — auch zusammen mit Russland innerhalb Europas. Es war wichtig, dies zu registrieren. Ob diese Haltung dem politischen Europa jetzt einen Schaden zugefügt hat, wage ich nicht zu beurteilen. Klar, auf der einen Seite waren die Unterschiede in der EU deutlich sichtbar, doch auf der anderen Seite: Was hätte die Welt von einer EU, die die Debatte oder die Meinungsunterschiede in sich versteckt, statt sie zu zeigen und davon zu leben?

War es respektive der Bedeutung europäischer Außenpolitik ein Fehler Deutschlands und Frankreichs, sich nicht aktiv am Krieg im Irak zu beteiligen?
Suliman: Nein, sich nicht in einen Krieg einzumischen, halte ich, zumindest bei diesem Krieg, zunächst nicht für einen Fehler, sondern für eine richtige Entscheidung. Dass die USA nun ihre alliierten Partner, die sich nicht an ihrem Irak-Einsatz beteiligten, für diese Haltung straft, ist natürlich ein Nebeneffekt, den man wahrscheinlich in Kauf nehmen muss. Da wird noch einige Zeit bis zur Normalität der Beziehungen vergehen, aber dass ist wirklich noch alles hin zu kriegen. Es gilt nun, den Blick nach vorne zu richten und die Keile der transatlantischen Beziehungen nicht willkürlich tiefer zu treiben.

Das Medienecho über den Irak hat nach der Eroberung Bagdads deutlich nachgelassen. Was berichten Ihre Reporter vom alltäglichen Leben, von den Menschen und ihren Herausforderungen im Zweistromland?
Suliman: Das ist der Unterschied zu anderen Medien: Wir bleiben dabei, den Irak als eines unserer Schwerpunkt-Themen weiter zu fokussieren, denn nach dem Ende der Militäroperationen geht die neue Geschichte des Landes ja jetzt erst richtig los. Wir senden weiter live aus dem Irak, zeigen beispielsweise Diskussionsrunden und Debatten mit irakischen Politikern, Intellektuellen, Geistigen und Stammesführern. Die Entwicklung des Iraks ist für die arabische Welt enorm wichtig und der Diskurs über dessen Neu-Orientierung ist allgegenwärtig. Wir produzieren eine Sendung, die sich speziell mit dem Hintergrund der jüngeren Geschichte des Irak beschäftigt, wir senden eine weitere Reportage, die die aktuelle Alltagssituation im Irak analysiert und beispielsweise vom Schwarzmarkt und Waffenhandel in Bagdad berichtet oder auch dem Trophäengeschäft von Hussein-Requisiten wie Statuen, Parteiabzeichen und dergleichen mehr … ja, Al Jazeera entschied sich, nach dem Ende der Kampfhandlungen noch genauer, noch intensiver und noch präsenter vom und im Irak zu berichten: Wer wurde verhaftet und warum? Was denkt die Bevölkerung? Was ist mit dem Ölhandel? Wie zeigt sich das Leben auf der Straße?. Der Krieg ist vorbei, die meisten Medien ziehen ab — wir bleiben!

Wie äußert sich die Stimmung in der irakischen Bevölkerung nach dem Sturz Saddam Husseins? Können Sie trotz der vielen unterschiedlichen Positionen einen Querschnitt der öffentlichen Meinung wiedergeben?
Suliman: Ich glaube schon, dadurch dass man viel sieht und hört, natürlich kann und darf jemand davon ausgehen, die gesamte Meinung der irakischen Öffentlichkeit in einem Wort zu transportieren, dafür ist die Situation viel zu komplex: Auf der einen Seite werden die Truppen der Briten und Amerikaner eindeutig als Besatzungsmacht, als fremde Armee empfunden, auf der anderen Seite herrscht auch Freude darüber, dass Saddam und sein Regime hinfort sind, das muss man auch ganz klar sagen. Die Erleichterung, die Angst der Diktatur abgeschüttelt zu haben ist groß, ja. Doch die Iraker folgen in der Betrachtung der Summe der Ereignisse einem Gesamt-Diskurs in der arabischen Welt: Die Freude über das Ende der Diktatur bedeutet nun nicht, dass die USA alles tun und lassen dürfen, was Ihnen gefällt, dieser Preis wäre Ihnen zu hoch. Die Iraker wollen, dass die Besatzungsarmeen das Land verlassen. Die Unsicherheit darüber, wie die USA voran gehen werden und wie das Land gesteuert wird, durchsetzt die Aufbruchsstimmung. Wir haben ein Land mit 25 Millionen Einwohnern, das immer noch nicht weiß, wohin es sich entwickelt. Wie sieht es tatsächlich aus mit den Freien Wahlen? Wo steht das Land in zwei oder vier Jahren? Was passiert mit der Ölförderung? Wieso dauert es so lange, bis die Grundversorgung wieder hergestellt ist, obwohl die Ölfelder sofort gesichert wurden? Wohin verschwanden all die geraubten Kunstschätze? Wer bestimmt die Zivilverwaltung? Viele Fragen, die eines signalisieren: Ratlosigkeit! Analog dazu äußern sich die Exil-Iraker, beispielsweise in Deutschland: Es herrscht eine allgemeine Erleichterung über das Ende des Regimes, dessen grausame Diktatur auch nie zur Debatte stand, doch alle fragen sich: Lohnt sich für sie eine Rückkehr?

US-Präsident Bush verglich in seiner Siegesansprache die Situation des Neuen Irak mit der Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg: Bald schon würden die Iraker die engsten Freunde der USA in der arabischen Welt werden, so seine Prognose. Wird er Recht behalten?
Suliman: Nein, ich vermute nicht; die Iraker wollen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und möchten die USA so bald wie möglich wieder nach Hause bitten. Daran ändert auch die Freude über Saddams Ende nichts. Dieser Vergleich Deutschland — Irak ist mehr als fraglich, auch, wenn beide Länder von diktatorischen Regimes geführt und von den USA besiegt wurden. Alleine der historische Kontext ist unterschiedlich: Deutschland ist ein mehrheitlich christlich geprägtes, europäisches Land, der Irak ist ein arabisches, mehrheitlich islamisches Land im Nahen Osten. Alphabet, Gebräuche, Alltag — alles ist unterschiedlich in beiden Ländern. Die USA haben trotz ihrer Rolle als damaliger Kriegsgegner viel mehr Gemeinsamkeiten mit den Deutschen als mit den Irakern. Dazu war die Rolle Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganz Andere: Sowohl der Osten als auch der Westen wurden sofort in ihr jeweiliges politisch-wirtschaftliches System integriert. Deutschland, zumindest der Westen, profitierte von seiner demokratischen Umgebung, nicht umgekehrt, wie jetzt im Irak, der nun ein westlich-demokratisches Wertesystem in die gesamte Region ausstrahlen soll. Ein besetztes Land, das sowohl Regierungen als auch Bevölkerung der Nachbarländer signalisiert: "Hier geht’s lang". Das verursacht dieselbe Angst, die Deutschland kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges bei seinen Nachbarn weckte: Inmitten einer Weltregion werden Tatsachen durch Militär geschaffen.

Wie weit ist es vertretbar, eine demokratische Staatsordnung mit militärischer Gewalt, vor allem seitens externer Intervention, durchzusetzen?
Suliman: Also, legal, das heißt, vom Standpunkt des Völkerrechts her ist so eine Aktion nicht zu rechtfertigen, doch in der Politik geht man natürlich immer von der realen Situation aus: "Was lässt sich machen? Was ist schon da? Wie profitiere ich?" Wenn so ein Krieg erst einmal ausgebrochen und beendet worden ist, nützt all dies Spekulieren leider nichts, man muss sich der Situation stellen und sich fragen, wie man sie am besten bewältigt und wie es weiter geht.

Der frühere UNO-Waffeninspekteur Scott Ritter verglich den US-Einmarsch in den Irak mit dem Polenfeldzug Hitlers, sowohl militärisch als auch moralisch. Ist er damit zu weit gegangen?
Suliman: Darf man überhaupt so weit gehen wie die Amerikaner (lacht)? Nun, also dieser Vergleich zielt, wie so viele historische Vergleiche, auf Polarisation, auf Standpunktdefinition ab, klar! Militärisch wäre dies vielleicht vergleichbar, Stichwort: "Blitzkrieg". Politisch wäre diese Aussage nur vom Prinzip der Hegemonialpolitik vergleichbar, denn Polen und Deutschland haben und hatten eine gemeinsame Grenze, eine gemeinsame europäische Geschichte. Nicht so die USA und der Irak. Deutschland ist nicht in Polen einmarschiert, um ein Regime zu Gunsten einer Demokratie auszuwechseln. Polen stellte für Hitler vielmehr eine Durchmarschstation dar, denn er hatte ja weitere Kriegsziele. Der Irak dagegen ist für die USA schon von besonderer Bedeutung, sowohl strategisch als auch wirtschaftlich und ist viel mehr eine Operationsbasis, als es damals Polen für die NS-Diktatur war.

Die Alliierten Streitkräfte haben nach anfänglichen Schwierigkeiten einen raschen Sieg gegen die ursprünglich so gefürchtete irakische Armee errungen. Waren die Verbündeten so stark oder waren die Soldaten Saddams so schwach?
Suliman: Beides! Also, man muss natürlich sagen, dass die Verbündeten ein sehr kraftvolles und starkes Militärpotential besitzen, was sie auch wirksam eingesetzt haben. Das betrifft nicht nur die Truppenstärke und Ausbildung der Soldaten, sondern auch das Kriegsmaterial wie intelligente Bomben, kompakte Artillerie und allumfassende Überwachung des Boden- und Luftraumes sowie insbesondere die Operationsstrategie. Eine konventionell operierende Armee wie die des Irak war erst überrascht und dann überrannt worden. Auf der anderen Seite war die Armee des Irak durch das Jahrelange Embargo und den Folgen des ersten Golfkrieges bereits erheblich geschwächt, viel mehr, als die meisten Beobachter glaubten. Sie konnte den Invasoren nichts Wirksames entgegensetzen. Ein Teil der arabischen Öffentlichkeit vergleicht die Ereignisse im Irak mit der Situation von 1967: Die Menschen verteidigen kein diktatorisches Regime! Deswegen ist die Idee der Demokratisierung grundsätzlich wertvoll. Aber das Vorgehen der USA konnotiert den Begriff Demokratie mit militärischen Erfolgen: In der Öffentlichkeit entsteht so der Eindruck, dass Gewalt an sich nichts Schlimmes darstellt. Lediglich zu hinterfragen sei, wer Gewalt anwendet! Eine fatale Kausalität, denn diese Formel nutzt jede Seite aus, die den (Clausewitzschen) Satz "Krieg ist Weiterführung der Politik mit anderen Mitteln" für sich reklamiert — und damit befinden wir uns mitten in Israel und Palästina!". Dürfen sich nur demokratische Länder verteidigen? Dürfen nur demokratische Länder angreifen? Das erklärt, weshalb Länder wie Nordkorea ermutigt werden, aufzurüsten. Sie werden in ihrer Politik bestätig, denn die USA beweisen es: "Wer abrüstet, verliert!" Diese Logik spielt eher den Fundamentalisten den Ball zu und birgt mehr Gefahr als Sicherheit!

Das Horrorszenario der langen Häuserkämpfe blieb zum Glück für die Bewohner Bagdads aus. Gibt es Theorien zu einem Geheimabkommen zwischen Alliierten und irakischer Führung hinsichtlich des überraschend schnellen Falls der irakischen Hauptstadt?
Suliman: Da gibt es in der Tat zwei Erklärungsansätze, die in den Medien diskutiert werden: Entweder, die USA haben mit Saddam einen Deal gemacht und ihm signalisiert: "Das Spiel ist zu Ende. Beenden wir sinnloses Töten!", oder aber sie haben ihn umgangen und sich direkt an seine Militärführung gewendet und erklärt, dass das Kriegsziel nicht die Zerstörung des Iraks sei, sondern die Entmachtung von Saddam Hussein und seiner Familie. Was auch immer zutreffen mag — dass da etwas gelaufen ist, bezweifelt kaum jemand, der diesen Krieg verfolgt hat: Zuerst werden die Alliierten, besonders bei der Eroberung des Bagdader Flughafens, in schwere Kämpfe verwickelt und plötzlich löst sich die gesamte irakische Armee auf, Offiziere verschwinden, Soldaten desertieren in Scharen und die Millionenstadt Bagdad fällt binnen weniger Tage. Während der Flughafen umkämpft wurde, landete dort eine US-Maschine. Kurz nach Ende der Kampfhandlungen dort flog diese wieder davon. Wurden ranghohe irakische Militärs zur Kapitulation bewegt und zu ihrem eigenen Schutz, zum Erstellen einer Neuen Identität aus Bagdad ausgeflogen? Die Flughafenereignisse unterstützen diesen zweiten Ansatz. Unterstützend für den ersten Ansatz dagegen ist das Verschwinden Saddams: Wer weiß, wo sich Saddam befindet oder ob er noch lebt? Er kann weder nach Iran, Syrien oder in die Türkei entkommen, niemand gewährt ihm Asyl, doch keiner hat ihn gesehen. Das ist schon eigenartig. Dazu ist es militärisch nicht zu erklären, dass eine Millionenstadt wie Bagdad derart schnell besetzt wird, ja quasi im Spaziergang eingenommen wird, denn der größte Trumpf der irakischen Militärs wäre ein lange zehrender und zermürbender Häuserkampf gewesen, in welchen sie die alliierten Soldaten verwickelt hätten. Militärexperten haben sich die Bilder vom Einmarsch der Alliierten Truppen angesehen und erklärt, dass sie Art und Weise, wie die Kanonen der Panzer aufgerichtet waren, nämlich nach innen und nach hinten gewandt, darlegte, dass keine ernsten Kampfhandlungen der Verteidiger mehr zu erwarten waren. Ein Abkommen ist mit Sicherheit zustande gekommen. Die Fragen lauten nur: wann, wie und mit wem?

Offizieller Kriegsgrund waren die Massenvernichtungswaffen in Händen des Irak. Spektakuläre Funde blieben jedoch bisher aus. Kürzlich erhob der UNO-Waffeninspekteur und Chef der internationalen Atomenergiebehörde, Mohamed El-Baradei, schwere Vorwürfe gegen die US-Militäradministration: Atomanlagen im Irak wurden nach dem Krieg nicht gesichert: Es kam zu massiven Plünderungen. El-Baradei äußerte die Sorge, dass angereichertes Material in falsche Hände gelang. Ist die Bedrohung so genannter "schmutziger Bomben" ausgerechnet jetzt also größer, als vor dem Krieg?
Suliman: Nun, es kommt darauf an: Wenn der Irak tatsächlich über derartige Waffen oder Materialien verfügte, so bargen die geplünderten Anlagen in der Tat eine Gefahr, natürlich. Wenn es solche Waffen und Materialien nicht oder kaum gegeben hat, wäre die Bedrohung gering. Die Tatsache, dass es offenbar keine höheren Befehle gegeben hat, diese Anlagen zu sichern, weckt allerdings die Vermutung, dass die US-Administration insgeheim davon ausging, dass der Irak längst nicht mehr über gefährliche Waffen verfügte. Bis jetzt, wir haben mittlerweile Mai, wurden keine markanten ABC-Waffenbestände gefunden, trotz intensiver Suche. Russlands Präsident Wladimir Putin stellte während des Gipfeltreffens mit dem britischen Premier Tony Blair öffentlich die Frage, wohin denn nun Saddam und sein Waffenarsenal entschwunden seien und verband dies mit der notwendigen Frage nach der Legitimationsgrundlage dieses Krieges.

Wird der Irak, wie von der Türkei befürchtet, in drei Sektoren zerfallen — Kurden im Norden, Sunniten im Zentrum und Schiiten im Süden?
Suliman: Verwaltungstechnisch wird er ja schon in drei Zonen geteilt, doch letztendlich wird, so denke ich, die Einheit des Irak in seinen aktuellen Grenzen erhalten bleiben. Die irakische Bevölkerung und auch die kommenden irakischen Politiker werden die territoriale Integrität nicht aufgeben. Gemessen an den Folgen hätte niemand, ausgenommen vielleicht einige kurdische Führer, ernsthaft Interesse an einer Aufteilung des Irak. Unter Umständen ergibt sich die Form eines föderativen Systems, eines Bundesstaates, das wäre denkbar und wird sich zeigen. Aber eine komplette Zerteilung des Irak halte ich für dahin gestellt. Der Irak ist bereits schwach und unter Kontrolle, da braucht man nicht zusätzlich teilen.

US-Verteidigungsminister Rumsfeld flog nach Kriegsende frohgelaunt nach Bagdad, sein Kabinettskollege im Außenamt Powell flog kurz darauf schlechtgelaunt nach Damaskus: Welchem Druck seitens der USA ist die syrische Regierung derzeit ausgesetzt?
Suliman: Colin Powell hat ganz klar formuliert, was die USA von Syriens Präsident Assad fordern: Unter anderem die Schließung der Büros palästinensischer Organisationen, Entwaffnung der Hisbollah-Milizen im Südlibanon, Rückkehr der libanesischen Armee in den Süden, Verweigerung des Asyls für von den USA als gefährlich betrachteten Personen. Der Besuch von Powell war einmal mehr der Versuch, den Forderungen der USA mächtig Nachdruck zu verleihen. Die syrische Regierung hat dem, was die Amerikaner verlangen, eigentlich nichts entgegenzusetzen. Syrien ist ohnehin ein kleines Land, hat niemals die Militär- oder Wirtschaftskraft eines Irak besessen. Nun sind die USA als Supermacht sogar nebenan … ein neuer Mitspieler am Tisch, der aber die Spielregeln bestimmt, an denen sich alle zu halten haben. Ich denke, Assad wird Bush entgegen kommen müssen. Die syrische Regierung wird allerdings einige der Forderungen selbst bei bestem Willen kaum umsetzen können, beispielsweise die Entmachtung der Hisbollah-Milizen und wird daher die US-Administration drängen, einen Kompromiss für alle Seiten zu erarbeiten, der auch in die neue "Road Map of Peace" integriert werden könnte. Assad muss nach innen und nach außen die Zeit überbrücken. Die Zeit erlaubt keine Fehler!

Sie sagen, die Zeit erlaubt keine Fehler. Wie weit kann Präsident Assad nachgeben, ohne sich den Zorn seiner Regierung oder gar seines Volkes aufzuladen?
Suliman: Na ja, also als Baschar Al-Assad nach dem Tode seines Vaters Hafis an die Macht kam, hatte er zunächst eine sehr bedachte und berechnete Politik der Öffnung gestartet. Diese Politik geriet später ins Stocken und man spricht in Syrien bereits wieder von der "alten Garde", die das Regierungszepter in der Hand hält. Jetzt stellt sich die Frage, ob und wie Baschar mit der systematischen Öffnung des Landes weiter fährt, was natürlich wünschenswert wäre, ohne jedoch dabei nach Außen den Eindruck zu vermitteln, dass er so nur aufgrund des Willens der USA handele. Das wäre völlig kontraproduktiv . Das Schneiden alter Zöpfe erfordert behutsames Vorgehen. Aber: Mehr Öffnung nach innen, im Sinne von mehr Freiheiten, wird es so oder so geben. Das wollen sowohl Assad als auch die Bevölkerung, die ohnehin von einem offenen und freiheitsliebenden Charakter geprägt ist.

Wäre ein Angriff der USA auf Syrien also nicht zu befürchten?
Suliman: Nein, davon gehen sowohl Medien als auch politisch Beteiligte nicht mehr aus. Zunächst hatte man gerade in Syrien Angst vor weiterem militärischen Erfolgshunger der USA, doch die Machtdemonstration im Irak verlief so eindeutig, dass …

… die Politik der Finnlandisierung …
Suliman: …verstanden wird, genau! Außerdem sind beide Länder trotz historischer Gemeinsamkeiten völlig unterschiedlich. Syrien besitzt kein Öl, ist komplett von Partnern der USA umkreist, ist finanzschwach und mit einer Regierung versehen, die weit rationaler, pragmatischer und kompromissorientierter handelt, als die ehemalige Junta im Irak. Zusätzlich ist Syrien politisch nicht so isoliert wie der Irak es zum Schluss war, genießt Respekt in der arabischen Welt im Gegensatz zu Saddams Irak und ist derzeit Mitglied im UNO-Sicherheitsrat. Militärisch gesehen wäre Syrien bestimmt ein leichtes Opfer, das macht es politisch umso stärker.

Ist mit der militärischen Präsenz von Briten und Amerikanern ein Druckmittel im Nahen Osten entstanden, um endlich den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern zu forcieren?
Suliman: Auch das glaube ich kaum, zumindest, wenn wir von wirklichem Frieden sprechen wollen, der auch in den Herzen der Menschen und nicht nur in den Vertragsentwürfen von Politikern seinen Platz finden soll. Diese Region braucht nicht noch mehr Militär, es ist ohnehin schon eine solche Militärmaschinerie im Nahen Osten aufgefahren, da brauchen wir keine weiteren Waffen. Gewalt hat bis jetzt nur weitere Gewalt verursacht. Was die Menschen im Nahen Osten brauchen, ist ein tatsächlicher Friede, der sich von Innen heraus entwickelt. Tatsächlicher Friede kann nur auf Vertrauen aufbauen und wird sich selbst bei positiv verlaufenden Verhandlungen nur langsam entwickeln können. Auf keinen Fall wird man einen dauerhaften Frieden erreichen, wenn jemand, egal wer, fordert: "Unterschreib!". Beide Seiten brauchen anstelle von Waffen viel mehr gegenseitige Akzeptanz, Respekt und Pragmatismus. Die psychologischen Barrieren müssen überwunden werden. Nur in der Mitte kann man sich treffen. Der Palästinenserstaat ist eine von allen Seiten beschlossene und akzeptierte Sache, die Frage geht nur um das Wie. Aber wie auch immer: Die Palästinenser wollen endlich genau so leben, wie die Araber in anderen Staaten auch, sie wollen studieren, arbeiten, reisen und endlich in die Staatengemeinschaft integriert werden. Die Israelis wollen auch ohne Angst leben. Eigentlich wollen alle dasselbe. Respektive Friedensvertrag: Wichtig ist vor allem das Gefühl, berücksichtigt zu werden, zu erfahren "Ich bin da", ich werde nicht ignoriert. Das ist das eigentliche Wesen eines wie auch immer lautenden Vertrages, der die formelle Basis eines gemeinsamen Zieles bilden sollte: Den Willen zum Frieden.

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.