Volker Beck

Wichtig ist, dass man seine Seele nicht verkauft.

Der Grünen-Politiker Volker Beck verlässt mit Ende der Legislaturperiode den Bundestag. Im Interview spricht er über die kommende Bundestagswahl, die Rolle der Grünen, politische Lager und den Sinn von Fraktionsdisziplin.

Volker Beck

© Angelika Kohlmeier

[Wichtiger Hinweis: Das folgende Interview fand im März 2017 statt.]

Herr Beck, Sie werden dem Bundestag nach der Bundestagswahl 2017 voraussichtlich nicht mehr angehören. Bei der Kampfkandidatur um Listenplatz 12 unterlagen Sie Friedrich Ostendorff mit 66 zu 188 Stimmen. Die TAZ kommentierte das mit „Spinnen die Grünen?“. Was denken Sie, spinnen die Grünen?
Ich kandidiere nicht mehr, daher ist das ziemlich sicher. Bei Wahlen und Kandidaturen gibt es Auswahlen – Mandate gehören nicht dem Kandidaten oder dem Abgeordneten, sondern sie gehören der Partei. Ich habe der Partei ein Angebot gemacht, sie hat sich anders entschieden und nun ist gut. Das ist Demokratie: Wer kandidiert kann auch verlieren.

Fühlen Sie sich für die Ermittlungen gegen Sie abgestraft?
Nein, die Diskussion, ob ich wieder auf die Landesliste kam, die gab es ja schon im Jahr 2015. Es gab neue Kandidaten aus meinem Regionalverband, die ich auch unterstützt habe und es gab von mir das Angebot, trotzdem auf der Liste auf einen Platz zu gehen mit Aussicht auf Einzug in den Bundestag. Das hat die Partei nicht gewollt, der Regionalproporz war da wichtiger. Nun muss die Partei mit anderen Leuten für möglichst viele Stimmen werben.

Könnte es auch sein, dass Sie etwaige Koalitionspläne mit der CDU stören?
Ich stehe für bestimmte Inhalte und mein Angebot haben viele Menschen draußen in der Gesellschaft unterstützt. Die Partei hat sich da für andere Gesichtspunkte entschieden. Warum, das müssen Sie die Leute fragen, die sich so entschieden haben.
Von mir ist bekannt, dass ich für meine Inhalte stehe, dass ich ein harter Verhandler bin, dass man mich nicht für ’n Appel und ’n Ei einkaufen kann. Ich setze darauf, dass das andere auch so halten. Ich denke aber, dass man das die Entscheidung gegen mich nicht als Aussage über Koalitionsstrategien überhöhen sollte.

Wohin führt Ihr Weg, wenn er in der Politik nicht weitergeht?
Erstmal führt er zu einer Auszeit, zu einer Zeit der Besinnung und Neuorientierung. Ich bin jetzt erstmal noch Abgeordneter bis Oktober und ich werde mein Mandat, solange ich Abgeordneter bin, ordentlich machen. Danach werde ich mir die nötige Zeit für einen Perspektivwechsel nehmen.

Zitiert

Die Grünen sind wichtig, wenn es darum geht, die Freiheitsrechte gegen eine populistische Sicherheitspolitik von Union wie SPD im Inneren zu verteidigen.

Volker Beck

Wer wäre Ihrer Ansicht nach im Moment der passende Koalitionspartner für die Grünen?
Die größten programmatischen Schnittmengen haben wir traditionell mit den Sozialdemokraten. Bei Herrn Seehofer sehe ich nicht viele Anknüpfungspunkte, außer, dass wir gemeinsam dafür einstehen, dass die Bundesrepublik ein demokratischer Rechtsstaat bleibt. Schon die Vorstellungen, was das genau bedeutet, gehen hier weit auseinander.
Aber ich sehe auch viele Probleme bei der Linkspartei, was ein klares Bekenntnis für die Europäische Union angeht. Auch beim Einstehen für die außenpolitische Verantwortung, die Deutschland in Europa und der Weltgemeinschaft hat, sehe ich erheblich Defizite und Klärungsbedarf, da muss die Linke sich bewegen, wenn sie einen Gestaltungsanspruch erheben will und als Koalitionspartner in Frage kommen möchte.

Kann man bei rot-rot-grün eigentlich von einem politischen Lager sprechen? Wie würde man die Grünen einordnen?
Ich erkenne bei gesellschafts- und sozialpolitischen Fragen, sowie bei Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit immer Gemeinsamkeiten von SPD, Linken und den Grünen. In der Außen- und Verteidigungspolitik gibt es dagegen einen massiven Graben zwischen SPD und Grünen auf der einen und den Linken auf der anderen Seite.
Am Ende geht es darum, was wir durchsetzen wollen. Wollen wir mehr soziale Gerechtigkeit schaffen? Wollen wir Armut bekämpfen? Wollen wir Bürger mit hohem Einkommen oder großem Vermögen stärker in die Verantwortung nehmen, unser Gemeinwesen und die sozialen Sicherungssysteme zu finanzieren, oder wollen wir das nicht?
Die Grünen sind wichtig, wenn es darum geht, die Freiheitsrechte gegen eine populistische Sicherheitspolitik von Union wie SPD im Inneren zu verteidigen. Da braucht es Grüne als bürgerrechtliches Korrektiv, da müssen wir zeigen, dass wir die Partei des Rechtsstaatsliberalismus sein wollen. Sicherheit muss man rechtsstaatlich machen und da, wo Sicherheit nur draufsteht, in Wirklichkeit aber Freiheitsbeschränkungen drin sind, machen wir nicht mit.

Die Grünen liegen in aktuellen Umfragen unter 10 Prozent. Wie bedeutend sind die Grünen in Deutschland noch?
Ich denke, wenn wir klarmachen, was unsere Rolle ist, und auch alle gemeinsam offensiv zu dieser Rolle stehen, dann sind wir die Partei von Emanzipation, Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und einer nachhaltigen Entwicklung dieses Planeten, die diese Welt an die nächste Generation in einem lebensfähigen und lebenswerten Zustand übergeben will. Insofern halte ich die Partei und ihre Inhalte – unabhängig von aktuellen Umfragewerten – für unverzichtbar. Vielleicht braucht es ein bisschen mehr Mut, dieses Profil zu schärfen
.

Wenn die Grünen eine Marke sind, was ist dann der Markenkern und was sind heute die Alleinstellungsmerkmale?
Ein Alleinstellungsmerkmal könnte zum Beispiel die rechtsstaatliche und bürgerrechtliche Positionierung sein.
Es ist ja so, dass wir durch die Erfolge der letzten Jahrzehnte beim Thema Ökologie der Marktführer sind – aber wir sind nicht das einzige Angebot im Regal. Es gibt andere Angebote, allerdings mit weniger Inhalt. Das Produkt mit der höchsten Programmkonzentration sind immer noch Bündnis 90/Die Grünen.

PR-Agenturen gehören heute zum Politikalltag. Sind Sie damit jemals ‚warm‘ geworden?
Natürlich braucht man Agenturen, ich habe auch schon im NGO-Bereich mit Agenturen gearbeitet. Kommunikation muss man professionell machen, damit eine Kampagne aus einem Guss ist und das spezifische Image, für welches man sich politisch entschieden hat, transportiert wird. Dafür braucht man Profis. Wir haben Profis in unseren Presseabteilungen, bei Fraktionen wie bei Partei, aber im Wahlkampf läuft die Kommunikation ja auch über werbliche Mittel. Über Mittel wie Plakate, Share-Pics und Give-Aways versucht man beim Bürger ins Gespräch zu kommen und Aufmerksamkeit zu erzielen. Da verlässt man sich eben nicht nur auf die sonst dominierenden Kommunikationskanäle wie Reden, Pressemitteilungen und Interviews.

Haben Sie, wenn es um Ihre Person ging, auch schon mal Krisen-PR-Berater in Anspruch genommen?
Nein.

In der Union streiten sich CDU und CSU um eine Obergrenze, bei den Grünen verläuft der Graben zwischen Realos und dem linken Flügel der Partei. Hier geht es zum Beispiel um die Vermögenssteuer. Wie stehen Sie dazu?
Ich bin da ganz auf der Grundlage des Beschlusses vom Bundesparteitag im letzten Jahr: Wir wollen die großen Vermögen und Einkommen stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen. Denn diejenigen, die viel haben, die haben auch in der Vergangenheit davon profitiert, dass wir eine gut ausgebildete Arbeitnehmerschaft, sozialen Frieden und eine funktionierende Infrastruktur haben.
Mich treibt die Sorge um, dass wir in den letzten Jahren – insbesondere unter der Regierung von Frau Merkel – stark von der Substanz gelebt haben, was die Infrastruktur angeht. Dass wir nicht genügend Geld in Bildung und Integration investiert haben, um unser Land auf einem modernen und dynamischen Niveau zu halten. Wenn ich sehe, dass bei uns in Köln jetzt alle Brücken renoviert werden müssten, dann zeigt das, dass wir viele Sachen zu spät angehen. Wir müssen Deutschland fitmachen für das 21. Jahrhundert. Was Breitbandanschluss und Internet angeht sind wir in Deutschland, zum Beispiel im Vergleich mit Ländern wie Israel, erstaunlich rückständig. Wir können da mehr, aber das ist nicht zum Nulltarif zu haben. Und dann ist die Frage: Wer kann etwas mehr dazu beitragen, dass wir schneller vorankommen und nicht unsere Infrastruktur auf Verschleiß fahren?

Gab in Ihrer Zeit als Abgeordneter Abstimmungen im Bundestag bei denen Sie Ihre Entscheidung im Nachhinein bereuen?
In Koalitionen gibt es immer Dinge, die man nur gemacht hat, weil es eine Koalition gibt und eine Koalition ein Geben und Nehmen ist. Ich würde nicht sagen, dass ich etwas Unverantwortliches auf den Weg gebracht habe, aber bei vielen Sachen war das nicht zu 100 Prozent meine Position. Was etwa die Reform der Agenda 2010 betrifft, haben wir von Anfang an gesagt: Die Sätze sind zu niedrig. Und wir hatten Zweifel, ob den Arbeitnehmern genügend Angebote gemacht werden, die dann dieses Sanktionsregime rechtfertigen. Es hat sich gezeigt, dass die Reform den Menschen nicht das gebracht hat, was sie versprochen hat. Deshalb gibt es jetzt Nachbesserungsbedarf. Nicht ein zurück auf „Los“, aber eine Korrektur nach vorne.

Wie war es bei der Entscheidung im Oktober 1998 als auch die Grünen im Bundestag dem Nato-Einsatz im Kosovo zustimmte?
Ich hatte vorher schon immer zu Protokoll gegeben, dass ich zwar die Politik der Bundesregierung, die den Zerfall des jugoslawischen Staates beschleunigt hat, für verkehrt und unverantwortlich gehalten habe, aber dass ich es in der Situation für nötig gehalten habe, dass man durch ein eigenes Engagement versucht, das Töten und den Krieg einzudämmen bzw. zu stoppen.

Allgemein gefragt: Wie stehen Sie zur Fraktionsdisziplin? Wie erklären Sie einem enttäuschten Wähler, dass die Parteilinie manchmal wichtiger ist als die Meinung eines Abgeordneten?
Politik ist immer ein Versuch von Mehrheitsbildung. Politik ist nicht Religion, wo es auf das lupenreine Bekenntnis ankommt. Verschiedene Gesichtspunkte müssen in Kompromissen zusammengebracht werden. Das ist auch der Sinn der repräsentativen Demokratie: Nicht jede Frage einzeln hin und her zu entscheiden, sondern sich auf Zeit auf bestimmte gemeinsame Politik mit gemeinsamen Projekten verständigen. Wichtig ist, dass man dabei nicht seine Seele verkauft, sondern dass man zu jedem Beschluss inhaltlich stehen kann, auch wenn man vielleicht manche Sache aus eigenem Antrieb nicht auf den Weg gebracht hätte.

Fraktionsdisziplin ist also sinnvoll?
Es gibt ja oft die Behauptung es gäbe Fraktionszwang und es gäbe irgendwo eine Satzung für Fraktionsdisziplin – das ist natürlich Quatsch! Am Ende ist jeder Abgeordnete bei der Entscheidung nur seinem Gewissen verpflichtet. Und zu der Gewissensentscheidung gehört dazu, ob ich die politische Gestaltung der Partei, für die ich angetreten bin, versuche nach vorne zu bringen oder ob mein Gewissen mir etwas anderes aufgibt. Politik ist immer ein Prozess durch Interpretation zu Relevanz und Einfluss. Man darf dabei seinen programmatischen Kompass nicht aus dem Blick verlieren.

In der rot-grünen Agenda 2010 unter Schröder waren die Versorgungsleistungen für Arbeitslose ein zentraler Punkt. Kanzlerkandidat Martin Schulz kritisiert die Reformen nun scharf und will die Bezugsdauer von ALG I wieder verlängern. Wie blicken Sie auf die Agenda 2010 zurück?
Ich fand bei der Agenda 2010 erst einmal richtig, dass man die Ausgrenzung von Sozialhilfeempfängern im System beseitigt hat und dass man jene, die nach den alten Regeln dem Arbeitsmarkt nicht voll zur Verfügung standen, mit reingeholt hat, sie zu ALG II-Empfängern gemacht hat. Für diese Gruppe bedeutete es eine Verbesserung der Leistung, gleichzeitig hat man ihnen Zugang zur Arbeitsmarktförderung, zu Qualifizierungsmaßnahmen gegeben. Das war ein wichtiger integrationspolitischer Schritt.
Nicht so gelungen war die Leistungshöhe. Wir haben damals gesagt, dass wir mehr wollen, konnten uns damit aber nicht durchsetzen. In der zweiten Wahlperiode der rot-grünen Koalition haben wir für einen Mindestlohn geworben, damals waren die Gewerkschaften und die SPD noch dagegen.

Durchsucht man das Internet z.B. nach Blogbeiträgen, in denen Ex-Grüne ihre Austrittsgründe beschreiben, so findet man etwa den Beweggrund: „Die Grünen haben sich im Bundestag mehrheitlich zu den letzten Asylrechtsverschärfungen enthalten und im Bundesrat mehrheitlich zugestimmt“. Sind die Austritte von Mitgliedern ein gerechtfertigter Preis für diese grünen Positionen?
Ich habe mich bei diesen Abstimmungen anders verhalten. Ich fand manche Entscheidungen nicht ganz richtig und ich habe zum Beispiel bei allen Abstimmungen über sichere Herkunftsstaaten immer mit „Nein“ gestimmt, auch da wo sich die Mehrheit meiner Fraktion enthalten hat. Für mich ist das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten generell falsch. Bei den Ländern, um die es dort ging, in diesem Fall um die Balkan-Länder, war es aufgrund der Menschenrechtslage – insbesondere der Roma – nicht gerechtfertigt.

Die Grünen in Baden-Württemberg unter Winfried Kretschmann sind dafür, die die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, Sie lehnen dieses Vorhaben ab. Wieso sollte Deutschland seine Bürger ohne Bedenken in den Urlaub nach Tunesien und Marokko reisen lassen, Staatsangehörige aber nicht dorthin zurückschicken können?
Ihre Frage verwechselt das Rechtskonstrukt Sichere Herkunftsstaaten mit humanitären Abschiebehindernissen z.B. aufgrund eines Bürgerkrieges. Das sind zwei unterschiedliche Rechtsfragen.

Sie sind religionspolitischer Sprecher der Grünen. Muss man für dieses Amt selbst religiös sein?
Nein. Es geht ja darum, die Glaubensfreiheit von Anderen zu gewähren. Dafür man muss an die Werte der Verfassung glauben, an den Diskriminierungsschutz, daran, dass niemand aufgrund seiner religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Man muss an die Religionsfreiheit mit ihren Dimensionen der positiven, individuellen, kollektiven als auch der negativen Glaubensfreiheit glauben. Man kann, das ist zumindest unsere Position als Fraktion und Partei, auch dem Deutschen Religionsverfassungsrecht, das auf Kooperation und weltanschauliche Neutralität setzt, etwas abgewinnen.

Sind Sie religiös? Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Bibel beschreiben?
Ich bin religiös. Die Bibel ist für mich das großartigste Buch, sowohl literarisch als auch in seiner Lebensweisheit. Ich kann ihr auch spirituell etwas abgewinnen.

Wie bewerten Sie es, dass sich sowohl Gegner als auch Befürworter der Gleichstellung von Homosexuellen auf die Bibel, also auf ein und dasselbe Buch, berufen? Liegen die einen falsch und die anderen richtig?
Alle, die diese Debatte mit der Bibel führen, liegen daneben. Man sollte nicht in der Politik mit der Bibel nach anderen Leuten werfen, sondern sie kann einem selbst eine ethische Orientierung bieten. In der Bibel steht keine Gebrauchsanweisung, wie wir die säkulare Gesetzgebung machen sollten. Deshalb halte ich diese Art von biblizistischer Heranziehung heiliger Schriften, egal ob es die Bibel oder der Koran ist, für unterkomplex und schlechte Theologie.

Im Interview mit Planet Interview von 2008 sagten Sie zu den Aussichten auf eine reguläre Ehe für Homosexuelle, dass diese über kurz oder lang kommen werde. Wie schätzen Sie Lage heute ein? (Anm.: Das Interview fand im März 2017 statt)
Ich hoffe das immer noch und ich würde mir wünschen, dass die SPD so klar und selbstbewusst ist, dass sie zu ihren Überzeugungen steht und dass wir die Ehe für Homosexuelle angesichts einer Unterstützung von 83 Prozent in der Bevölkerung im deutschen Bundestag noch vor der Sommerpause in freier Abstimmung beschließen. Die Dienstwagen der SPD sind angesichts der breiten Zustimmung sicher nicht gefährdet.

Deutschland feiert 2017 Reformationsjubiläum. Die staatliche Unterstützung der Luther-Dekade beläuft sich Schätzungen zufolge auf ca. 250 Millionen Euro (Quelle: Forschungsgruppe Weltanschauungen). Sind solch große Summen aus Steuergeldern gerechtfertigt? Schließlich ist ein Drittel der Bevölkerung konfessionslos.
Beim Reformationsjubiläum geht es nicht darum, dass die evangelische Kirche eine Missionsveranstaltung ausruft, sondern es geht um eine historische Zäsur in unserem Land, die unsere Geistesgeschichte tief geprägt hat – im Guten wie im Schlechten. Es war ein großer Aufbruch aus der selbstgewählten Unmündigkeit einer rein katholischen Gedankenwelt. Mit allen Problemen, die Freiheit und Verantwortung haben, war es einerseits eine Befreiung und andererseits auch eine Engführung.

Luther als Person ist eine hochproblematische Figur, mit seinem Verhältnis zur Obrigkeit, zu sozialen, aufständigen Bewegungen, zum Judentum und dergleichen. Gleichzeitig hat er den Menschen mit seiner Übersetzung der Bibel – er war nicht der erste, aber der populärste – die Möglichkeit gegeben, sich in religiösen Fragen stärker selbst ein Urteil zu bilden. Und das hat dann geistesgeschichtliche Folgen gehabt. Wenn er nicht da gewesen wäre, wäre in dieser Zeit vielleicht jemand Anderem diese Bedeutung zugewachsen, Luther war ja auch nicht der einzige Reformator.
Dass sich ein Land an so ein historisches und geistig umwälzendes Großereignis erinnert, und darüber diskutiert „Was hat es bewirkt?“, „Was ist daran zu kritisieren?“, „Was hat es befreit?“, „Was ist davon zeitbedingt und muss verworfen werden?“, ist eine durchaus relevante kulturelle Auseinandersetzung. An einer solchen Selbstreflexion darf sich der Staat auch schon mal beteiligen.

Das Reformations-Jubiläum ist stark auf Martin Luther fokussiert. Seine Schattenseiten – Antisemitismus, abwertige Schriften zu Frauen, Bauern etc. – sind bekannt. Wird bei der Zelebrierung Luthers heute übertrieben?
Ich finde man sollte ihn nicht feiern, Luther war nicht Jesus, Moses oder Abraham. Dafür hat er zu viele Schattenseiten, als dass man dies vorbehaltslos ohne Geschichtsklitterung verantwortlich tun könnte. Aber er repräsentiert einen Wendepunkt in der Geistesgeschichte und nach allen vorigen innerkirchlichen katholischen Reformen, von den Zisterziensern bis zu den Bettelorden und der Integration der Armutsbewegung, war es sozusagen der erste Bruch der Einheitlichkeit der römisch-katholischen Gedankenwelt.

Viele der Flüchtlinge, die aus arabischen Staaten zu uns gekommen sind, sind in einem antisemitischen Umfeld aufgewachsen. Wie berechtigt ist die Angst der hier lebenden Juden, dass die Flüchtlinge den Antisemitismus aus ihren Herkunftsländern mitbringen?
Antisemitismus ist nicht das Problem der Opfer des Antisemitismus. Antisemitismus stellt immer die demokratischen Grundlagen einer Gesellschaft infrage. Es ist klar, dass in vielen arabischen Ländern der Antisemitismus und der Antizionismus zur Staatsdoktrin gehört. Doch Flüchtlinge von dort sollte man nicht über einen Kamm scheren. Sie sind ja oft selbst Opfer eines Systems geworden, das antisemitisch oder in anderen Punkten antifreiheitlich und brutal ist. Deshalb ist die Flucht, der Aufbruch auch eine Chance für eine Neuorientierung. Diese Chance sollten wir nutzen und gemeinsam auch mit Demokraten und Demokratinnen, die zu uns geflohen sind, daran arbeiten, dass man sich eine Kritik an diesen Ideologien erarbeitet und sich eine demokratische Grundhaltung aneignet.
Mir passiert in diesem Bereich zu wenig, die Politik redet nur über Integrationskurse als Heilmittel gegen alles – das ist in diesem Zusammenhang aber zu kurz gedacht. Wir sind ja auch nicht durch einen 6-monatigen Politikgrundkurs zu Demokraten und Demokratinnen geworden. Sondern das hat sich jeder in einem längeren Prozess angeeignet und erarbeitet. Wichtig ist auch, demokratisch orientierte Flüchtlinge als Wertevermittler mit einzubeziehen.

Die Debatte um eine Obergrenze ist zwar keine der Grünen. Dennoch die Frage: Wie viele Millionen Flüchtlinge wäre Ihrer Ansicht nach Deutschland imstande aufzunehmen?
Das ist eine unsinnige Frage! Es geht ja immer um die Frage: Zu welchen Bedingungen? Wenn man gegen eine Obergrenze ist, heißt das nicht, dass man Nichts tun will, um die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Bloß muss man das humanitär machen. Wo können wir andere Länder unterstützen, damit Menschen nicht zwingend eine Region verlassen müssen, weil etwa die Lebensmittelrationen zu gering sind? Man muss auch darauf achten, dass die Völkergemeinschaft insgesamt ihre Verantwortung für die Flüchtlingsaufnahme wahrnimmt.
Aber wer vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit flieht, muss Schutz bekommen.

Sie würden also keine konkrete Zahl nennen.
Nein. Die Genfer Flüchtlingskonvention und auch der Artikel 16 in unserem Grundgesetz verdanken ihre Entstehung dem Versagen der Völkergemeinschaft angesichts der Verfolgung der Juden durch die Nazis
. Nicht nur die Nazis haben das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen, andere Länder haben auch die Juden, die es geschafft haben, aus dem Herrschaftsbereich der Nazis rauszukommen, nicht aufgenommen. Ich erinnere an die Schweiz, ich erinnere an die Irrfahrt des Passagierschiffs St. Louis, das aus den USA und Kuba wieder zurückgeschickt wurde und dann mit 1000 Juden an Bord in Antwerpen an Land gegangen ist, von denen viele von den Nazis ermordet wurden. Ich erinnere an die Konferenz von Evian 1938, wo man sich bei der Frage „Wer nimmt wie viele auf?“ nicht einigen konnte. Das Ganze endete damit, dass die Juden und Jüdinnen nirgendwohin fliehen konnten. Das darf nie wieder passieren. Damals hat man auch über Obergrenzen gesprochen, so z.B. das britische Weißbuch für Palästina, und niemand wollte sie aufnehmen. Man hätte damals vielleicht hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Menschen retten können, wenn man rechtzeitig gesagt hätte, wir nehmen alle Flüchtlinge auf und kümmern uns darum, dass die irgendwo unterkommen. Ein solches humanitäres Versagen darf sich nicht wiederholen.

[Hinweis: Volker Beck hat dieses Interview autorisiert. Zwei Antworten wurden nicht freigegeben, auf die Fragen „Ist für die Grünen, mit der Werbeagentur „Ziemlich Beste Antworten“(ZBA) im Rücken, auch auf Bundesebene die CDU der passende Koalitionspartner?“ und „Wenn die SPD von sozialer Gerechtigkeit spricht, ist das für Sie noch glaubwürdig?“.]

2 Kommentare zu “Wichtig ist, dass man seine Seele nicht verkauft.”

  1. Stefanie Zi. |

    Hey Volker.
    Ich möchte bitte ein Autogramm.

    Antworten
  2. Volker Leimann |

    „Wichtig ist, dass man seine Seele nicht verkauft.“

    Dieser Satz von Beck trieft vor verlogener Heuchelei
    und von Unfähigkeit zur Selbstreflexion.

    Antworten

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