Ritesh Batra

Bollywood könnte ich gar nicht.

Der indische Regisseur Ritesh Batra hat mit "Lunchbox" einen Film über die Dabbawallas gedreht, die in Mumbai die arbeitende Bevölkerung seit über hundert Jahren mit warmen Mahlzeiten versorgen. Ralf Krämer sprach mit ihm über scharfes und versalzenes Essen, magischen Realismus, wichtige Handschrift und sein fehlendes Bollywood-Talent.

Ritesh Batra

© Claudia Rorarius

Ritesh Batra, Ihr Film „Lunchbox“ basiert auf dem weltweit einzigartigen Lieferservice der Dabbawallas, die seit über 100 Jahren in Mumbai die arbeitende Bevölkerung in der Mittagspause mit frischem Essen versorgen. Was ist das besondere an diesem System?
Ritesh Batra: Ich habe vor einigen Jahren an einem Dokumentarfilm über die Dabbawallas gearbeitet. Ich habe ihren Alltag und das logistische System kennengelernt. Jeden Tag holen sie bis zu 200.000 Lunchboxen in speziellen Großküchen oder zuhause bei den Ehefrauen ab, liefern sie an die Empfänger und transportieren dann auch die leer gegessenen Boxen wieder zurück. Statistisch gesehen unterläuft ihnen nur bei jeder sechsmillionsten Lieferung ein Zustellungsfehler.

Sie erzählen nun von einer Brieffreundschaft, die sich zwischen Ila, einer unglücklich verheirateten Frau und dem älteren Witwer Saajan entwickelt, weil Ilas Essen irrtümlich an Saajan geliefert wird. Das ist also eine sehr unwahrscheinliche Geschichte.
Batra: Genau das hat mich gereizt, auf dieser unwahrscheinlichen Fehlerquote ein modernes Märchen aufzubauen. Ich möchte ja, dass man den Fehler als schicksalshafte Fügung begreift. Oder wie es in dem Film heißt: „Der falsche Zug kann einen zum richtigen Ziel bringen“.

Lunchbox PlakatWenn Sie jetzt eine Lunchbox Ihrer Wahl bestellen könnten, was wäre da drin?
Batra: (Lacht) Auberginen. Ich mag Auberginen in allen Varianten. Sie passen zu jeder Stimmungslage oder Gelegenheit.

Also war raffiniertes Essen nicht unbedingt das, was Sie an der Geschichte von „Lunchbox“ persönlich interessiert hat?
Batra: Essen ist in meinem Leben schon sehr wichtig. Ich koche sehr gerne. Meine Frau ist Mexikanerin, wir stammen beide aus Ländern mit einer reichen, hoch entwickelten kulinarischen Tradition. Abgesehen von meinem persönlichen Geschmack liebe ich es, wie verschieden Essen sein kann. Im Film wird das Essen ja zum Symbol verschiedener Gefühlszustände. Wir haben uns viele Gedanken über die Gerichte gemacht, die Ila zubereitet. Das sind zunächst sehr anspruchsvolle Sachen, sie investiert viel Zeit in das Kochen, weil sie sich damit von ihren Problemen ablenken kann und weil sie auch glaubt, dass das Essen die Krise lösen kann, in der ihre Ehe steckt. Ironischerweise bringt sie das mit diesem neuen Mann, Saajan zusammen. Ihre Beziehung verläuft nur über das Essen.

Das zweite Essen, das Ila für Saajan kocht, kritisiert dieser als „zu salzig“. In Deutschland sagt man, wenn das Essen versalzen ist, ist der Koch verliebt. Ist das in Indien auch so?
Batra: Nein. Das Essen ist ihm einfach zu salzig, das hat keine weitere Bedeutung.

Und ist die Banane, in die er nach einem scharfen Essen beißt, auch kein Phallus-Symbol?
Batra: (Lacht) Doch, das könnte sein. Das Schöne beim Filmemachen ist eben, dass jeder ihn auf seine Weise sieht. Alles was ich mit dem Film sagen wollte, steckt in ihm drin. Und alles, was darüber hinaus geht, liegt in der Phantasie des Zuschauers.

Hat Sie einmal eine Zuschauerreaktion besonders überrascht?
Batra: Generell ist interessant, wie unterschiedlich die Menschen das Ende des Films interpretieren. Für manche ist es ein Happy End. Manche finden es traurig. Die Menschen verbinden es eben mit ihrem eigenen Leben und entsprechend unterschiedlich ist ihre Interpretation.

Zitiert

Man muss nicht alle Träume wahr werden lassen, es kann reichen, sie einfach weiter zu träumen.

Ritesh Batra

Sie bringen durch die vertauschte Lunchbox auch Menschen mit sehr verschiedenen kulturellen Hintergründen zusammen.
Batra: Ja, es war mir wichtig zu zeigen, wie viele unterschiedliche Mumbais es in Mumbai tatsächlich gibt, auch wenn die Religion der Protagonisten nicht im Vordergrund steht. Die unterschiedlichen Religionen verstärken lediglich die kulturellen Differenzen der drei Hauptfiguren. Das lässt sich in Details besser zeigen und verstehen als durch große Gesten, zum Beispiel durch die unterschiedlichen geschmacklichen Vorlieben: Saajan kommt aus Bandra, einem Viertel in Mumbai, in dem ich auch selbst aufgewachsen bin. Dort isst man in aller Regel nicht so scharf wie etwa in den muslimischen Vierteln der Stadt.

Ein besonders filmisches Detail Ihres Films ist, dass Sie zeigen, wie Ila und Saajan oft kurz hintereinander die gleichen Gesten machen, obwohl Sie sich nicht wirklich kennen und Kilometer voneinander entfernt sind. Glauben Sie an so eine geistige Verbindung?
Batra: Ich denke, wir sind alle miteinander verbunden. Ich schrieb diese Geschichte auch in der Überzeugung, dass manche Menschen einfach füreinander bestimmt sind. Man kann nur hoffen, dass sie sich auch finden. Aber manchmal reicht es auch, einfach das Bewusstsein dafür wach zu halten, dass man nicht allein auf der Welt ist. Man muss nicht alle Träume wahr werden lassen, es kann reichen, sie einfach weiter zu träumen.

Weiterhin fällt auf, dass es in „Lunchbox“ sprachlich fließende Übergänge zwischen Hindi und Englisch gibt.
Batra: Das ist in Indien ganz normal. Zuhause spricht man Hindi und in der Schule oder auf der Arbeit spricht man Englisch. Wir wollten da ganz spezifisch sein und so nah und wahrhaftig an den Charakteren wie möglich.

Stört es Sie da nicht, wenn Ihr Film zum Beispiel in Deutschland in der Regel in einsprachigen Synchronfassungen läuft?
Batra: Das sind Entscheidungen, die man dem lokalen Markt überlassen muss. Ich habe keine Ahnung davon, wie man in Deutschland Filme wahrnimmt. Natürlich würde ich es vorziehen, wenn mein Film in der Originalfassung gezeigt wird. Das wird in einigen wenigen Städten in Deutschland ja auch so sein. Aber auf der anderen Seite ist es mir wichtiger, möglichst viele Menschen zu erreichen.

Ila und Saajan tauschen über ihre Lunchbox kleine handgeschriebene Briefe aus. Hätte der Film genauso funktioniert, wenn sich die beiden in einem anonymen Chat im Internet kennen gelernt hätten?
Batra: Es sind schon zwei Menschen, die aus der Zeit gefallen sind. Modernität ist ihnen nicht wichtig. Sie hängen ja auch noch in Erinnerung an der Vergangenheit fest, an einer Zeit, in der sie glücklich waren. Mir war es wichtig, dass sie richtige Briefe schreiben. Zudem ist ein wichtiger Aspekt an so einem Kennenlernen, dass der andere einem erstmal fremd bleibt. Und weil zwischen Nachricht und Antwort hier mindestens ein halber Tag liegt, haben beide auch viel Zeit, sich Gedanken zu machen, wie der andere wohl auf ihre Nachricht reagieren mag. Der Film handelt eben auch von ihrer Fantasiewelt, von Projektionen, nicht nur von dem oberflächlichen Plot.

Angesichts der zunehmenden Einführung digitaler Unterschriften könnte man davon ausgehen, dass der Mensch über kurz oder lang ganz verlernen wird, mit der Hand zu schreiben. Er wird nur noch tippen oder diktieren.
Batra: Das wäre definitiv ein kultureller Verlust. Ich schreibe Briefe immer noch mit der Hand. Natürlich nicht jeden, aber ich würde darauf niemals verzichten wollen.

„Lunchbox“ widerspricht einigen Klischees, die über Indien verbreitet sind. Zunächst hat er mit Bollywood nichts zu tun.
Batra: Ja, das liegt aber auch daran dass ich gar kein Talent dafür habe, einen Bollywood-Film zu machen. Ich könnte das gar nicht. „Lunchbox“ ist ein Film für das internationale Publikum, aber er lief auch in Indien sehr gut in den Kinos, was für mich überraschend war. Er spricht Menschen an, die Kino nicht nur als Flucht vor der Realität verstehen, sondern ihr eigenes Leben gerne auf der Leinwand sehen wollen.

Allerdings gibt es eine kleine Verbeugung vor dem erfolgreichen indischen Genre-Kino. In einem Bus, der durch Mumbai fährt, singen ein paar Kinder einen Bollywood-Song, um sich etwas Geld zu verdienen. Kurz darauf hört Ila dieses Lied im Radio.
Batra: Auch da geht es darum, wahrhaftig im Bezug auf die Geschichte und die Charaktere zu sein. Bollywood-Filme spielen ja im Leben vieler Menschen eine wichtige Rolle. Musik und Gesang können einem Charakter Tiefe verleihen, aber das muss eben von ihnen kommen und nicht als eine äußere Form gesetzt werden, die dann einfach erfüllt werden muss. So ein magischer Realismus ist mir persönlich lieber, als das kommerzielle Bollywood-Kino.

© Claudia Rorarius

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Zum anderen gilt Indien mittlerweile wirtschaftlich als Land des Fortschritts. Trotzdem heißt es in Ihrem Film „Talent wird in Indien nicht gewürdigt“. Ist das ein autobiografisches Statement?
Batra: Es war zunächst nicht unbedingt so gemeint. Aber auch ich musste feststellen, dass gerade in der Filmwirtschaft bei uns immer noch eine Mentalität des Kalten Krieges herrscht. „Lunchbox“ ist außerhalb des indischen Studiosystems entstanden. Er wurde unabhängig von Produzenten aus Indien, Deutschland und Frankreich finanziert. Ich wurde in Indien unterstützt, bis der Film plötzlich ein internationaler Erfolg wurde. Plötzlich hieß es: „Dein Film lief im Westen gut – Du bist ein Verräter!“ Ich glaube nicht, dass diese Haltung in der Gesellschaft sehr verbreitet ist, aber im Establishment tut man sich zum Teil sehr schwer damit zu akzeptieren, dass sich die Zeiten geändert haben. „Lunchbox“ wurde wohl auch aufgrund seines Erfolges im Ausland nicht für den Oscar vorgeschlagen, obwohl er wahrscheinlich realistische Chancen gehabt hätte, auch auf dieser Bühne Werbung für das indische Kino zu machen.

Hat Ihr Erfolg als Filmemacher Sie also zu einem Außenseiter gemacht?
Batra: Ich würde mich noch nicht als einen erfolgreichen Filmemacher bezeichnen. Ich habe ja erst einen Film gemacht und ich fühle mich angesichts seines Erfolges wirklich gesegnet. Der Hass des Establishments ist allerdings trotzdem nicht leicht zu ertragen.

Denken Sie eigentlich, dass Rajeev, Ilas Mann, der den ganzen Film über das falsche Essen bekommt und nebenbei eine Affäre hat, mit dieser anderen Frau eine glückliche Beziehung führt?
Batra: Ich glaube schon, dass er mit seiner Affäre glücklich ist. Es ist Ilas Problem, dass sie sich zu lange nicht um ihr eigenes Glück bemüht hat und dachte, sie müsste nur ihren Mann glücklich machen, um selbst wieder glücklich zu werden.

Nakul Vaid, der diesen Rajeev spielt, hat eine undankbare Rolle. Er ist oft im Bild, aber meistens nur angeschnitten oder er ist in sein Handy vertieft. Das macht er allerdings sehr gut.
Batra: (Lacht) Ja, der Schauspieler ist wirklich großartig und hat in seiner sehr zurückgezogenen Art den Film sehr geprägt. Wir haben viel Zeit bei den Proben miteinander verbracht. Da haben wir auch die glücklichen Zeiten dieses Paares für uns nachgespielt, damit man den beiden auch im Film anmerkt, dass sie eine gemeinsame glückliche Vergangenheit haben. Wir haben das nur geprobt und improvisiert, aber nicht gedreht. Das wäre eben die Geschichte eines anderen Films.

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