Wolfgang Thierse

Politiker können Journalisten nicht als ihre Dienstleister betrachten.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse über die Darstellungsform Interview, die Autorisierung und deren Vor- und Nachteile

Wolfgang Thierse

© spdfraktion.de

Herr Thierse, welche Vorteile sehen Sie in der Darstellungsform Interview?
Thierse: Der entscheidende Vorteil ist, dass man damit seine eigene Meinung wiedergeben kann und nicht etwa angewiesen ist auf die Vermittlungs- oder Darstellungskünste und die sprachliche Meisterschaft des Journalisten. Da in Deutschland autorisierte Wortlaut-Interviews üblich sind, steht dann auch nur genau das im Interview, was ich dort gesagt haben will. Und nicht etwa das, was der Journalist sich einbildet, was ich gesagt hätte.

Sind Interviews auch ein Mittel, um die Selbstdarstellung von Politikern zu fördern?
Thierse: Ja natürlich, in bestimmter Weise. Aber Zeitungsinterviews sind kein großes Instrument der Selbstdarstellung. Da hat man nur das gedruckte Wort und bestenfalls noch eine Fotographie dabei, weil die Zeitung ja nicht nur eine Bleiwüste abdrucken möchte. Zur Selbstdarstellung ist das Fernsehen viel wichtiger, oder der öffentliche Auftritt auf großen Veranstaltungen.

Gibt es Journalisten oder Medien, denen Sie kein Interview geben würden? Wovon machen Sie das abhängig?
Thierse: Zunächst einmal mache ich es abhängig vom Thema. Es gibt viele Themen, zu denen ich mich nicht öffentlich äußern muss. Ich habe vielleicht eine Meinung dazu, aber die halte ich nicht für begründet genug oder fühle mich nicht sachkundig genug. Ich finde Politiker peinlich, die sich immer äußern, egal zu welchem Thema sie befragt werden – nur, damit sie überhaupt im Fernsehen oder in den Zeitungen auftauchen. Das ist nicht mein Stil. Und dann ist es natürlich auch vom Medium und vom Journalisten abhängig, ob man ein Interview gerne macht oder lieber nicht.

Möchten Sie die Interviewfragen vorab bekommen?
Thierse: Im Allgemeinen nicht. Ich bin ja kein Anfänger mehr, der vor Nervosität zittert, wenn ein Journalist kommt und mich etwas fragt. Es gibt aber gelegentlich Situationen, in denen die Anfrage so allgemein ist, dass man sagt: „Na ja, also ein bisschen genauer sollte es eingegrenzt sein. Worüber wollen wir denn reden?“ Und vor allem bei großen Interviews, zum Beispiel bei den berühmten Wochenendinterviews der Zeitungen, die eine halbe oder gar ganze Seite ausmachen: Da fragt man noch mal, worum es denn gehen soll, damit man sich ein bisschen innerlich darauf einstellen und vorbereiten kann.

Autorisieren Sie Interviews grundsätzlich, bevor sie abgedruckt werden?
Thierse: Normalerweise ja. Bei ausführlichen, wichtigen Interviews ist das ja auch üblich bei uns. Wenn es nur ganz kurze Sachen sind, und ich den Journalisten hinreichend gut kenne, dann sage ich auch: „Ich vertraue Ihnen, Sie werden das schon richtig darstellen.“ Dann muss ich ihn aber für seriös halten und wissen, dass er mich nicht in die „Pfanne hauen“ und irgendeinen künstlichen Konflikt inszenieren will.

Was verstehen Sie genau unter dem Begriff Autorisierung?
Thierse: Im Mündlichen ist man meistens ausführlicher und gelegentlich redundanter. Man redet ja nicht immer druckreif. Gelegentlich ist mir das gelungen zur Freude der Journalisten, so dass sie mir sagten, sie bräuchten gar nichts arbeiten. Aber der Journalist redigiert doch meistens ein Interview. Aus zwanzig Fragen werden vielleicht vier Fragen ausgewählt und ein guter Journalist kann die Antworten richtig zusammenkürzen und daraus vernünftige Sätze machen. Diesen Interviewtext bekommt man dann vorgelegt, um zu sagen: Stimmen diese Sätze? Ist das deine Meinung? Ist es das, was du sagen wolltest?

Und wenn es nicht das ist, was Sie sagen wollten: Ändern Sie dann den Interviewtext?
Thierse: Ja, aber ich gehöre nicht zu denen, die sehr viel verändern – manchmal vielleicht ein ungeschicktes Wort oder wenn etwas zu scharf oder zu schwach formuliert ist. Ich achte auch darauf, dass meine Antworten nicht länger werden, weil ich weiß, in welcher Not Journalisten sind. Sie haben nur eine bestimmte Zeilenzahl und begrenzten Raum in der Zeitung. Da will man sie auch nicht in Schwierigkeiten bringen.

Was ist für Sie der wichtigste Grund zur Autorisierung?
Thierse: Damit man nicht der Willkür, der Einseitigkeit oder Beschränktheit von Journalisten ausgeliefert ist. Denn der Leser hat doch einen Anspruch darauf, dass er genau das erfährt, was der Politiker gesagt hat beziehungsweise sagen wollte. Es geht um die Meinung des Politikers und nicht um die Meinung des Journalisten zu der Aussage des Politikers. Es ist also auch eine Sache der wechselseitigen Fairness.

Sehen Sie auch Nachteile in der Autorisierung?
Thierse: Nein, keinerlei Nachteile. Im Gegenteil. Denn schauen Sie sich doch mal die Probleme bei Fernsehinterviews an. Ich meine nicht solche Fernsehinterviews, die live ausgestrahlt werden. Da kann ja nichts redigiert werden. Da ist der Politiker sowieso vollständig verantwortlich. Ich meine solche Interviews, die zum Beispiel für Politische Magazine gegeben werden. Ich habe beobachtet, dass Politiker das zunehmend ungern machen. Aus einem einfachen Grund: Mir werden auf dem Gang ins Parlament überraschend drei oder vier Fragen von einem Journalisten gestellt, auf die ich in etwa mit zehn Sätzen antworte. Und dann erscheint ein halber Satz davon in irgendeinem Fernsehbeitrag: Ein halber Satz, der, weil er aus dem Zusammenhang gerissen ist, möglicherweise etwas ganz anderes bedeutet, als das, was ich gesagt habe. Und diese Art von Willkür die Journalisten da ausüben können, die verfälscht – nicht immer, aber möglicherweise – das, was Politiker sagen. Genau um dieses zu verhindern, halte ich die Autorisierung bei Zeitungsinterviews für sehr gut und für notwendig.

Was haben Journalisten von der Autorisierung?
Thierse: Die Autorisierung baut Misstrauen ab. Sie ist gut für das Klima zwischen Journalisten und Politikern, weil damit klar ist, dass fair miteinander umgegangen wird. Der Journalist kann nicht willkürlich mit dem umgehen, was der Politiker gesagt hat. Und der Politiker seinerseits respektiert, dass er den Interviewtext des Journalisten nicht hundertprozentig ändern kann. Das schafft eine Atmosphäre der Fairness und auch des Vertrauens. Man weiß, dass man am Schluss die letzte Verantwortung darüber hat, was wirklich erscheint. Das soll man natürlich nicht missbrauchen und das Interview bis zur Unkenntlichkeit verändern.

Welche Vorteile haben Journalisten noch von der Autorisierung?
Thierse: Sie haben die Gewissheit, dass Politiker sich nicht schlecht behandelt fühlen, und dass sie so auch weiterhin Zugang zu diesen Politikern haben und Informationen von ihnen bekommen.

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Da in Deutschland autorisierte Wortlaut-Interviews üblich sind, steht dann auch nur genau das im Interview, was ich dort gesagt haben will.

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Sie haben schon gesagt, dass der ursprüngliche Interviewtext meistens gekürzt werden muss. Welche Änderungen von Seiten des Journalisten halten Sie für gerechtfertigt?
Thierse: So abstrakt ist das nicht zu beantworten. Bei manchen Kürzungen merkt man, dass der Journalist den eigentlichen Punkt gar nicht begriffen hat – die Pointe, um die es mir geht. Also versuche ich sie dann noch hineinzuformulieren, indem ich einen Satz verändere oder einen Halbsatz ergänze. Es ist ja auch ein Spiel: Der Journalist hat bestimmte Themen, die er für wichtig hält. Der Politiker findet möglicherweise etwas anderes wichtig und versucht in seinen Antworten, diese anderen Themen mit unterzubringen, wenn es geht. Es kommt auch vor, dass Journalisten etwas verschärfen. Dann versucht man, das durch ein Adjektiv oder einen Halbsatz ein bisschen abzuschwächen.

Welche Veränderungen von Journalisten finden Sie nicht richtig?
Thierse: Wenn ein Journalist aus einem erklärenden Interview eine Attacke macht, verschärft und zuspitzt. Das tun Journalisten ja, damit sie zitiert werden. Es gibt natürlich auch Politiker, die diese Verschärfung und Inszenierung wollen. Aber die Regel ist eher, dass Journalisten selber Konflikte inszenieren, indem sie Politikeräußerungen verkürzen, zu einer Überschrift oder einer Agenturmeldung machen. Von vielen erklärenden, relativen Sätzen bleibt dann nur noch einer übrig: Attacke gegen den Kanzler oder die Kanzlerin. Dabei hat man ja im Nebensatz noch einen zusätzlichen Aspekt genannt, der die Position relativiert. Und dann gibt es dieses Unwesen gewisser Zeitungen, Abgeordnete unter Vorspielung falscher Tatsachen anzurufen, damit sie bestimmte Aussagen von ihnen bekommen.

Was meinen Sie damit genau?
Thierse: Einige Boulevard-Zeitungen leben davon, dass sie Konflikte inszenieren wie beispielsweise „Streit in der SPD“. Die gehen zu Abgeordneten und sagen „Der hat das und das gesagt – wie finden Sie denn das?“ Und wenn derjenige nicht erfahren genug ist und darauf antwortet, steht es am nächsten Tag in der Zeitung. Das sind Inszenierungen, die ich für problematisch halte, und die Autorisierung ist ein Mittel, das zu bremsen.

Wie groß ist im Normalfall der Unterschied zwischen der Interviewfassung des Journalisten und Ihrer autorisierten Fassung?
Thierse: Das ist ganz unterschiedlich. Aber ich gehöre, wie gesagt, nicht zu denen, die viel verändern und stehe zu dem, was ich gesagt habe. Ich respektiere, dass Journalisten möglicherweise nicht alles unterkriegen und kürzen müssen, auch wenn man sich gelegentlich ärgert. Ich finde da sollten Politiker auch fair gegenüber Journalisten sein und nicht ein Interview vollständig verändern. Das ist peinlich, lästig und verärgert Journalisten.

Sie sagten, Sie würden zu dem stehen, was Sie gesagt haben. Das heißt, Sie würden auch keine Antwort streichen, wenn sie Ihnen im Nachhinein unpassend erscheint?
Thierse: Ja, man kann dann bestenfalls noch eine Relativierung einbringen, damit es nicht ganz so scharf klingt. Aber ich äußere mich ja auch als Person relativ selten scharf. Das ist nicht meine Art.

Und im umgekehrten Fall: Wenn Sie vergessen haben, etwas Wichtiges zu sagen, würden Sie das hinzufügen?
Thierse: Ja, aber das ist eher die Ausnahme. Im Allgemeinen leben Politiker ja in dem Gefühl, dass sie immer viel zu kurz zu Worte kommen. Mir geht es aber vor allem darum, mich einigermaßen differenziert äußern zu können. Meine Meinung ist ja auch differenziert. Ich mag es nicht, wenn das, was man sagt, auf ein paar Schlagworte und Hauptsätze reduziert wird. Ich finde, das verfälscht den politischen Prozess und die eigene politische Meinung. Aber der Journalismus tendiert generell natürlich zur Vereinfachung, zur Skandalisierung, zur Personalisierung und zum Konflikt. Da gibt es natürlich eine ständige Spannung zwischen Politikern und Journalisten.

Würden Sie bei der Autorisierung auch Fragen antasten?
Thierse: Das ist auch die Ausnahme. Wenn ich eine Frage für deplatziert halte, dann sage ich doch schon beim Interview, dass ich darauf nicht antworten möchte. Aber wenn ich sie zugelassen und darauf geantwortet habe, dann muss ich sie gelten lassen. Und selbst wenn einer eine unverschämte Frage stellt oder in der Frage eine Behauptung aufstellt, die man für falsch hält, dann kann man das in der Antwort sofort in Ordnung bringen.

Sie haben gesagt, dass Sie Ihre Interviews jetzt selbst autorisieren. Welche Erfahrungen haben Sie mit Pressesprechern gemacht? Was machen Pressesprecher bei der Autorisierung anders als Politiker?
Thierse: Das weiß ich nicht. Pressesprecher sind ja ihren Vorgesetzten verpflichtet. Sie müssen das, was sie an Korrekturvorschlägen haben, vorlegen. So war das bei mir. Ich habe mir diese Vorschläge dann angeguckt und gesagt: „Ja, das ist besser formuliert“ oder „Das ist aber Quatsch.“ An dieser Stelle bringe ich in Erinnerung, dass ich schließlich Germanist bin, also hoffentlich etwas von der deutschen Sprache verstehe. Und ich glaube, dass ich ihrer etwas mehr mächtig bin als manche Politiker und als die meisten Journalisten – wenn Sie mir diesen leicht arroganten Satz erlauben. Sie merken, dass ich darunter leide, dass die deutsche Zeitungs- und Journalistensprache ziemlich verkommen ist. Aber das gilt für beide: Journalisten und Politiker sitzen da in demselben Boot.

Im November 2003 hat die taz ein Interview mit dem SPD-Politiker Olaf Scholz veröffentlicht, bei dem ein Großteil der Fragen und Antworten geschwärzt waren, die die Pressesprecherin von Scholz so nicht freigeben wollte. Damit wollte die taz auf die Autorisierung öffentlich aufmerksam machen. Gleichzeitig wurde ein Aktionstag von mehreren Zeitungen veranstaltet. Was hat sich seitdem verändert?
Thierse: Das weiß ich nicht. Das kann ich nicht beurteilen, denn so genau beobachte ich das nicht. Solche Fälle hat es ja immer gegeben: Ich erinnere mich an ein anderes Interview mit Rolf Schwanitz, dem damaligen Staatsminister beim Bundeskanzler. Das war nach der Autorisierung vollkommen verändert, und da hat die Redaktion es nicht abgedruckt. Es gab auch mal mit Oskar Lafontaine ein großes Theater, weil der ein Interview vollkommen geändert hat. Da waren Journalisten sauer und das verstehe ich. Solche Ärgernisse gibt es immer wieder, und es ist gar nicht schlecht, dass sie bekannt werden. Dann disziplinieren sich Politiker hoffentlich und stehen zu dem, was sie gesagt haben. So ein Konflikt reinigt die Atmosphäre und erinnert Politiker daran, dass sie Journalisten nicht als ihre reinen Dienstleister betrachten können. Sie sind Partner.

Hatten Sie jemals Probleme mit der Autorisierung eines Interviews?
Thierse: Nicht wirklich, nein. Manchmal handelt man um ein oder zwei Sätze. Oder am Schluss steht weniger im Interview als das, was man autorisiert hat. Das ist öfters der Fall. Die Journalisten versichern einem dann immer, dass die Chefredaktion oder der Abteilungsleiter das noch mal geändert haben. Man ärgert sich dann einen Moment darüber und überlegt, ob man dieser Zeitung beim nächsten mal wieder ein Interview gibt oder lieber einer anderen.

Haben Sie schon mal ein Interview gegeben, das dann nicht erschienen ist?
Thierse: Gelegentlich kommt es vor, dass aus langen Gesprächen nichts wird. Und man erfährt nie die Gründe. Es gibt ja auch so was wie Feigheit von Journalisten. Da sagen dann die Vorgesetzten, dass sie den Thierse nicht haben wollen. Das kenne ich. Darüber ärgert man sich, weil es ja eigentlich auch die eigene Lebenszeit kostet und man dann denkt, dass Journalisten mit einem deutschen Parlamentspräsidenten so nicht umgehen sollten. Aber Journalisten fühlen sich gelegentlich schon als die Herren der politischen Kommunikation.

Sind Sie damit zufrieden, wie die Autorisierung von Interviews in Deutschland gehandhabt wird?
Thierse: Ja, ich denke, dass das eine gute Praxis ist. Ich weiß, dass es zum Beispiel in den angloamerikanischen Ländern ganz anders ist. Da macht man das Interview und der Journalist hat das Recht, daraus zu machen, was er will. Das führt übrigens dazu, dass Politiker sich viel vorsichtiger äußern müssen, weil alles gegen sie verwandt werden kann. Da sieht man, dass diese englische Praxis nicht nur Vorteile hat. Für Journalisten ist es leichter, die schreiben das hin, was sie für das Interview wichtig finden und unterliegen keiner Kontrolle. Aber das ist keine bessere Situation. Wenn in Deutschland etwas in der Zeitung steht, kann man immer davon ausgehen, dass der Politiker dazu steht.

Können Sie sich vorstellen, dass man bestimmte Regeln aufstellt, um Probleme zu verhindern, die in Einzelfällen auftauchen?
Thierse: Ach, nein. Die Regeln muss man nicht schriftlich formulieren. Das sind Regeln der Fairness: Der Journalist darf nicht den Versuch machen, etwas ganz anderes zu formulieren, als der Interviewte gesagt hat. Je blöder und weitschweifiger ein Politiker redet, umso mehr Arbeit hat der Journalist. Deswegen gibt es auch Politiker, die Journalisten nicht gerne interviewen, weil sie wissen: Och, der quatscht so viel, und ich habe die Arbeit, daraus vernünftige Sätze zu machen. Da sind andere wahrscheinlich beliebter. Aber am Schluss entscheiden natürlich immer der Rang eines Politikers, und ob er etwas zu dem Thema sagen kann.

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