Maxim Biller

Ich schreibe, weil ich nicht anders kann.

Maxim Biller über Gründe des Schreibens, wie man gute Literatur entdeckt, seine "Moralischen Geschichten", Literaturkritiker, Fernsehgewohnheiten und warum er das Internet noch blöder findet, als Antisemiten

Maxim Biller

© Sharonna Barel

Herr Biller, geben Sie eigentlich gerne Interviews?
Biller: Früher mochte ich das eine Zeit lang gerne, dann fand ich es ok und inzwischen finde ich es extrem unangenehm. Ich finde, dass man als Autor schon so viel von seiner Seele preisgibt in den Texten, die man schreibt. Warum soll man dann auch noch drüber reden? Es macht auch keinen Spaß, zumindest, wenn man es ehrlich macht. Denn wieso sollte ich Ihnen erzählen, was wirklich in mir vorgeht? Das würden Sie auch nicht machen.

Für wen schreiben Sie?
Biller: Ich schreibe, weil ich nicht anders kann.

Und wenn Sie an Ihr Publikum…
Biller: Ich denke nicht an ein Publikum. Kein Künstler denkt an sein Publikum.

Also schreiben Sie Ihre Bücher so, wie Sie sie selbst gerne lesen würden.
Biller: Ich will sie auch nicht lesen.

Ist es denn ein Drang, ein Trieb auf Papier?
Biller: Das ist kein Trieb, "Trieb" ist ja auch so ein dramatisches Wort. Es geht halt nicht anders, wenn ich es nicht mache, dann fehlt mir etwas.

Literatur als Grundnahrungsmittel?
Biller: Sie versuchen jetzt ein schönes Wort dafür zu finden, was ja auch legitim ist. Aber ich sage Ihnen nur: ich kann nicht anders. Ich habe das mit Anfang 20 entdeckt, da war ich auf der Journalistenschule in München. Jeden Tag mussten wir irgendetwas schreiben. Und ich weiß noch ziemlich genau, es gab ein Wochenende, an dem habe ich eine Geschichte geschrieben, eine meiner ersten, relativ ernstzunehmenden Kurzgeschichten – wobei die auch nicht gut war. Jedenfalls, an diesem Wochenende, da war ich sehr bei mir … Aber sehen Sie? Warum muss ich Ihnen das erzählen? Sie sind ja nicht meine Therapeuten.

Vielleicht, weil es Ihre Leser interessiert?
Biller: Ich verstehe zwar, dass die sogenannte "Öffentlichkeit", also jene, die nicht schreiben sondern lesen, konsumieren oder zuhören ein Interesse an meiner Person haben. Aber die sollten nicht glauben, dass sie durch die Person irgendetwas über die Arbeit erfahren.

Nehmen wir mal zum Beispiel Ihre CD "Maxim Biller Tapes". Da singen Sie unter anderem: "Lost in Translation ist kein Film" – da interessiert es die Leute vielleicht, was hinter dieser Zeile steckt, oder ob es einfach nur dahingesagt ist.
Biller: Nichts ist dahingesagt. Ich will ja damit etwas sagen. Es gibt halt bestimmte Gesetze, wie man über die Welt spricht. Der eine macht das mit Fotos, der andere mit Texten, mit Liedern usw. Ich mache es nicht, weil ich ein Anliegen habe, die Welt zu verändern, besser oder schlechter zu machen. Sondern ich habe etwas gesehen und will davon erzählen. Und wenn ich das nicht tue, dann fehlt mir was.
Wenn Sie mich nun fragen, warum ich singe "Lost in Translation ist kein Film" – weil ich in dem Moment, als ich diesen Text geschrieben habe, an eine Frau dachte, die begeistert war von "Lost in Translation". Und ich war sauer auf sie. Denn sie fand den Film toll, weil er uns erlaubt, von der Liebe zu träumen, statt sie zu leben. Deshalb, habe ich gedacht, bin ich mit dieser Frau auch nie wirklich zusammen gewesen… Aber noch mal: warum soll ich Ihnen, und nicht meinem Therapeuten – den es nicht gibt – so etwas erzählen?

Viele Ihrer Bücher und Geschichten sind bereits Teil öffentlicher Diskussion gewesen, nicht zuletzt, weil sich manche Leser auch verletzt fühlten. Ein Beispiel wäre die Geschichte "Nachmannjuden" aus den "Tempojahren", wo Sie über die wiedergekehrten deutschen Juden schreiben, dass wahrscheinlich – wie nach einer Vergewaltigung – nur derjenige zurückkehrt, dem es wirklich gefallen hat. Da fragen sich natürlich einige Leser: warum schreibt er das so?
Biller: Den Text, von dem Sie sprechen, habe ich vor über zehn Jahren geschrieben. Und meine Art, über dieses Thema zu schreiben, verändert sich natürlich, weil die Zeit vorangeschritten ist. Heute mache ich mich eher darüber lustig, über die Spießigkeit der deutschen Juden und die Lügen, mit denen sie ihre Kinder großziehen, die Heuchelei, die doppelte Moral. Bei den deutschen Juden gibt es nämlich die eine Moral für ‚nach-draußen‘ und die andere für ‚nach-drinnen‘, das ist wahrscheinlich auch nicht viel anders, als, sagen wir, bei den Chinesen in New York. Und 1990, als ich diesen Text geschrieben habe, war das halt sehr virulent, wohingegen es inzwischen ein bisschen abgenommen hat, weil die deutschen Juden natürlich auch langsam merken, was mit ihnen los ist. Und der heilige Zorn, den ich eine Zeit lang praktiziert habe, hat sich für mich erschöpft. Weil erstens auf diese Art alles gesagt war, weil ich es zweites auch zu deutsch von mir fand, so zu sein und drittens, weil es eh immer besser ist, Witze zu machen. Deshalb bin ich auch glücklich darüber, dass ich seit einer Weile regelmäßig diese satirischen Kurzgeschichten schreibe, die manchmal in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als "Moralische Geschichten" erscheinen.

Ihre bisherigen "Moralischen Geschichten" haben Sie kürzlich in Buchform veröffentlicht und da tauchen u.a. jüdische Bundeskanzler, Verteidigungsminister, BigBrother-Gewinner usw. auf. In einem Interview haben Sie dazu einmal gesagt, die Gesellschaft bräuchte auch wieder jüdische Idioten. Glauben Sie, Deutschland wäre heute bereit für einen jüdischen Dieter Bohlen?
Biller: Woher soll ich das wissen? Bin ich Jesus? Ich finde das immer so wahnsinnig aberwitzig, da sind die Deutschen auch immer ein bisschen wie die Juden: die gehen zu jemandem, denken er ist der Rabbiner und wird ihnen schon alles erklären.
Ich denke über einen anderen Punkt nach, nämlich die Frage: wann wird Deutschland bereit sein, ein normales Verhältnis zu den Juden zu haben? Die Antwort ist: Nie, weil ich glaube, dass es noch nie irgendein Volk gegeben hat, dass ein normales Verhältnis zu den Juden gehabt hat. Zumindest nicht in den Ländern, die irgendwie zum Abendland in einer Verbindung stehen, die haben alle, von ihrer Geschichte her, eine bestimmte Beziehung zu den Juden. Und den Menschen, die in diesen Ländern leben, wird der Jude, dem sie begegnen, nie egal sein. Warum sollte das in einem Land, in dem man versucht hat, alle Juden umzubringen, total anders sein? Der Holocaust und die Beschäftigung der Deutschen damit hat erst mal dazu geführt, dass die Deutschen zu den Juden netter sind, als andere Völker. Aber ob das eines Tages wieder umkippt…

Wie erleben Sie denn heute Ressentiments?
Biller: So was interessiert mich nicht. Ich will jetzt nicht unhöflich sein, aber es interessiert mich auch gar nicht, auf diese Frage zu antworten.

Aber auch Sie dürften doch nicht ganz unberührt sein, beispielsweise von Verschwörungstheorien, wie sie im Internet kursieren, wo die Juden mal als heimliche Chefs der Weltbank oder als die eigentlichen Urheber des 11. September gehandelt werden.
Biller: Ich surfe überhaupt nicht im Internet. Wissen Sie, was ich noch blöder finde als Antisemiten? Das Internet. Alles, was mit elektronischen, mit Computern, Handy-Kameras und so zu tun hat, ist so absurd! Ich benutze alles. Nicht, dass Sie denken, ich würde all das nicht kennen. Eben weil ich es kenne, weiß ich, dass das so eine geniale Zeit-Totschlag-Maschine ist. Das ist das Opium für’s Volk.

Aber den Fernseher, der in Ihrem Wohnzimmer steht, benutzen Sie als Inspiration?
Biller: Ja. Fernsehen ist ganz etwas anderes.

Ach so.
Biller: Ja, ich gucke fern, seit ich fünf bin. In dieser Wohnung stehen zwei Fernseher, das meiste weiß ich aus dem Fernsehen und nicht aus Büchern.

Was haben Sie denn gelernt aus dem Fernsehen?
Biller: Alles. Geschichte, Politik, Kunst…
Das deutsche Fernsehen, mit dem ich groß geworden bin, war ja bis vor wie vielen Jahren wahnsinnig gut – bis das private Fernsehen kam und wirklich alles zu verändern begann. Damals gab es politischen Journalismus und ein Filmprogramm wie in einem Art-House-Kino. Was meinen Sie, was es früher für Filme um viertel nach acht gegeben hat? Heute laufen die frühestens um Mitternacht. Und dann gab es Diskussionen, Dokumentationen… Es gab natürlich auch schwachsinnige Unterhaltung, aber das musste man eh nicht gucken. Es gab Unmengen von Wissen, Kunst und Unterhaltung, hergestellt von wirklich intelligenten Menschen.

Gibt’s ja mittlerweile auch im Internet.
Biller: Ja, aber völlig ungeordnet. Und Leute, die glauben, "Google" sei so etwas, wie in einem Lexikon etwas nachzuschlagen, sind komplette Schwachköpfe! Weil zu irgendeinem Namen gibt es 500, 5000 oder 50000 Einträge. Du weißt aber nicht, welcher als erster kommt, du weißt nicht, welchen du dir durchlesen sollst, du weißt auch nicht, wer den Artikel geschrieben hat, und ob er wahr oder falsch ist – es gibt für so etwas keine Dokumentationsabteilung im Internet. Und es gibt auch niemanden, der den Ehrgeiz hat, das richtig zu machen.
Wenn es noch die Sowjetunion geben würde und den KGB, die hätten schon längst das Internet benutzt zur Desinformationspolitik, dafür ist das ein geniales Medium. Weil die Leute sagen immer nur: "Ich habe es ja im Internet gelesen" – woher weißt du aber, dass das stimmt, was du da liest?

Und wie viel Fernsehen gucken Sie, wenn man fragen darf?
Biller: Ich mache den Fernseher eigentlich immer so reflexartig um acht oder viertel nach acht an. Dann vegetiere ich davor meistens unglücklich dahin, bis um zehn oder halb elf plötzlich so eine Welle beginnt, wo ich beim Umschalten immer öfter auf Sendern hängen bleibe, die ich dann sehen will – aber dann bin ich meistens müde und muss schon wieder schlafen gehen.

Zitiert

Wann wird Deutschland bereit sein, ein normales Verhältnis zu den Juden zu haben? Die Antwort ist: Nie.

Maxim Biller

Aber Sie lesen schon mehr, als Sie fernsehen, oder?
Biller: Nein. Ich lese wenig. Ich lese nur dann etwas, wenn es wirklich toll ist. Beim Fernsehen gucke ich alles.

Sie haben einmal gesagt: 95% der Deutschen Literatur sei "Schlappschwanzliteratur". Wen würden Sie denn empfehlen?
Biller: Ich habe 1984 ein Interview mit Marcel Reich-Ranicki geführt, mein aller erstes Interview war das. Und da habe ich ihm dieselbe Frage gestellt. Da hat er gesagt, er hätte keine Zeit dafür, auch noch zu erfahren, wer unter den jungen Leuten gut ist. Damals fand ich das skandalös. Aber heute beginne ich, ihn zu verstehen.

Ist es denn so schwer, gute Literatur zu entdecken?
Biller: Man entdeckt gute Literatur beispielsweise, in dem man Klassiker liest, auch moderne Klassiker. Ich verehre zum Beispiel Hemingway. So wie jeder, der malt, Picasso verehren sollte, verehre ich Hemingway.
Und dann kommt es immer wieder vor, dass ich von einem Buch höre, dann lese ich das und vielleicht packt es mich. Meistens sind Bücher, von denen man von Freunden hört, die besseren und nicht die, von denen einem Kritiker erzählen. Wenn Sie aber Kritiker sind, was ich früher mal war, dann scannen Sie Saison für Saison die ganze neue Literatur, schreiben Kritiken, über dieses Buch, über jenes Buch. Im Prinzip ist aber nach einem halben Jahr des Abarbeitens in der Regel kein Buch wirklich so übrig geblieben in meinem Kopf, dass ich sagen kann: das ist so groß wie Hemingway. Da fragt man sich dann: warum sollte ich etwas gut finden und lesen, was unterhalb von Hemingway ist?
Ich bin auch zu faul, mich durch diese vielen Bücher zu lesen, die nur durchschnittlich sind. Viele lege ich nach 10-20 Seiten wieder weg. Sicherlich tue ich damit auch mal einem dieser Bücher Unrecht, weil ich gerade nicht in der Stimmung war, oder für dieses Buch gerade zu jung, zu alt, zu glücklich oder zu unglücklich war – man muss ja auch irgendwie disponiert sein. Aber in der Regel glaube ich schon, liege ich nicht falsch…

… und es bleibt bei den 95 Prozent?
Biller: Das ist doch generell so, in jeder Kunst: so wie es unter Ärzten nur fünf Prozent gute Ärzte gibt, gibt es einfach nur fünf Prozent gute Bücher. So ist meine Lebenserfahrung. Und in den letzten Jahren habe ich wirklich kaum etwas entdeckt. Ich bin zum Beispiel nach wie vor der Meinung, dass Christian Kracht einer der wichtigsten Autoren der neuen Generation ist. Und ich finde, einer der größten Meister der deutschen Sprache ist Rainald Goetz. Er ist allerdings Dichter, kein Schriftsteller.

Was halten Sie zum Beispiel von Feridun Zaimoglu?
Biller: "Abschaum" ist eines der besten deutschen Bücher der Nachkriegszeit. Manchmal benutzt er – wir sind übrigens Freunde – zu viele seltsame Worte. Und sonst… zum Beispiel Benjamin Lebert. Als der mit 15 Jahren diese kleinen Texte im jetzt!-Magazin geschrieben hat – da ist mir der Atem stehen geblieben. Das tut es inzwischen bei seinen neuen Texten nicht mehr. Aber darum geht es, dass einem der Atem stehen bleibt. Und wenn Sie Christian Kracht lesen, dann ist das auch so, das ist einfach ein großer Schriftsteller. Punkt. Das ist wie bei einem guten Song von Bob Dylan. Das merkt man sofort.

Wo Sie jetzt über Qualität von Büchern reden – wie beurteilen Sie die eigenen?
Biller: Unmöglich. Ausgeschlossen. Das kann ich doch nicht machen.

Sind Sie selbstkritisch?
Biller: Ich habe gestern diesen Schwachkopf von Oasis gehört, den älteren, wie er gesagt hat: "Wir sind die Größten, es gibt halt immer wieder mal die Größten und warum sollen die Größten nicht sagen, dass sie die Größten sind?" Wie unangenehm! Ich kann Ihnen nur sagen, welche meiner Texte ich mag, welche mir sympathisch sind. Und sicherlich am sympathischsten sind mir die Texte in meinem ersten Buch "Wenn ich einmal reich und tot bin". Dazu kommen noch die "Moralischen Geschichten" und die Texte von meiner Platte "Maxim Biller Tapes".

Wie ist das, wenn Sie Texte wie die "Moralischen Geschichten" in einer Zeitung veröffentlichen, haben Sie dann eine Deadline?
Biller: Nein, ich schreibe meistens ohne Deadline, das ist mir zu aufregend. Ich arbeite ja auch nicht mehr journalistisch. Alle Texte, die ich in den letzten Jahren für Zeitungen geschrieben habe, waren immer aus einem persönlichen Blickwinkel heraus. Ich erzähle von mir und von dem, was mir wichtig ist. Ich habe zum Beispiel für das Magazin "Cicero" ein paar Städte-Portraits geschrieben. Die sind nichts anderes als Teile einer Autobiografie, die ich nie schreiben werde. München, Tel Aviv, Prag, Hamburg, Berlin – da ging es nur darum, was ich in diesen Städten erlebt habe. Dass dadurch trotzdem Portraits dieser Städte entstehen ist halt ein angenehmer Nebeneffekt, der es auch Cicero ermöglicht, diesen Text überhaupt zu veröffentlichen.

Es geht also immer um die Verarbeitung der eigenen Persönlichkeit und Gefühlswelt?
Biller: Ja. Wobei, ich finde, das sollte langsam auch wieder aufhören. Aber wahrscheinlich ist das jetzt gerade das Ich-Jahrzehnt. Ich hatte halt meine "Tempo"-Jahre, das waren die 80er, die 90er waren sozusagen die deutschen Jahre, weshalb ja auch das "Deutschbuch" entstanden ist, wo ich mich wirklich an Deutschland abgearbeitet habe mit journalistischen Texten. Ich wollte den Spieß damals umdrehen: also, wenn die Deutschen immer so doof auf die anderen Völker gucken und verallgemeinern – dann verallgemeinern wir doch jetzt einmal die Deutschen.
Davon hatte ich dann irgendwann genug und heute lebe ich wie gesagt in dem Ich-Jahrzehnt. Allerdings hoffe ich, dass auch das bald zu Ende ist, weil dieses "ich lebe, ich gucke, ich schreibe" – das ist auf Dauer ermüdend .

Fühlen Sie sich wohl in Deutschland?
Biller: Wissen Sie, das ist eine von diesen Fragen, auf die man nicht ernsthaft antworten kann. Was soll ich Ihnen dazu sagen? Soll ich dieselbe Geschichte wie immer erzählen? Dass ich hierher gekommen bin und dachte, alle Menschen sind gleich, dann aber gemerkt habe, dass es doch nicht so ist, dass die Menschen mich anders sehen… Ja, ich gehöre halt nicht hierher und das ärgert die Deutschen. Mich ärgert das auch, aber trotzdem werden wir immer zusammenbleiben.

Und das Losgelöstsein von Ihrer eigentlichen, tschechischen Heimat – gibt Ihnen das heute noch Impulse bei Ihrer Arbeit?
Biller: Nein, es langweilt mich.
Ich war als Kind zehn Jahre in Prag zu Hause, dann 20 Jahre in München, als junger Erwachsener. Ich bin dann aus privaten Gründen nach Berlin gegangen und ich war seit zweieinhalb Jahren nicht mehr in München. Ich habe auch schon Bücher geschrieben, die von München gehandelt haben, eins davon habe ich in Berlin geschrieben, weil mir München gefehlt hat. Und vielleicht wird es mir wieder fehlen, vielleicht packt es mich in fünf Jahren so sehr, dass ich genau dazu etwas erzählen will.

Wie entscheiden Sie denn, worüber Sie als nächstes schreiben? Nach Ihrer aktuellen Befindlichkeit?
Biller: Der Mensch hat doch keine Befindlichkeit. Ein Mensch fühlt sich, oder er hat ein Gefühl.

Dann sagen wir eben "Gefühlslage".
Biller: Nein, ich habe auch keine "Gefühlslage", das ist auch so ein sehr deutsches Wort für Gefühle. Mit solchen technischen Worten, mit denen man dann Gefühle beschreibt, stellt man sich eigentlich ein bisschen neben sich. Das beschreibt nicht meine Art, zu fühlen.

Einmal abgesehen von solchen sprachlichen Details – fühlen Sie sich hierzulande verstanden?
Biller: Ich bin wahrscheinlich sehr anachronistisch, ich habe immer darauf bestanden, die Welt aus meiner Sicht zu sehen, was ganz normal ist für einen Schriftsteller. Ich habe hier aber nicht wirklich ein Publikum dafür. Es gibt auch nicht die Kritiker, die mich unterstützen könnten. Nehmen wir meinen Roman "Die Tochter": der handelt von einem Israeli, der im Libanonkrieg ein schreckliches Kriegsverbrechen begeht und der vor dieser Schuld nach Deutschland flieht. In Deutschland lebt er dann in München, einer Stadt, die eigentlich aus deutscher Sicht eine idyllische Stadt ist – aber diese Stadt ist für ihn furchtbar deprimierend und grau. Er verliebt sich in eine Deutsche, hofft, dass sie ihn vor allem Unglück rettet, dass sich seine Nerven beruhigen, doch das Gegenteil passiert und er lebt sozusagen im Sarg. – Welcher Deutsche soll sich mit diesem Buch identifizieren können? Unmöglich. Und das ist das, was bei Büchern immer vergessen wird. Wir denken immer nur: große Kunst setzt sich durch. Das kann in der Malerei oder in der Musik so sein, In der Literatur ist es so, dass sich der Leser beim Lesen immer sagen können muss: ja, genau, das erlebe ich auch, das ist auch mein Gefühl.

Sie sagen, es gibt in Deutschland keine Literaturkritiker, die Sie…
Biller: Es gibt in Deutschland sowieso nur sehr wenige Literaturkritiker. Da gibt es Reich-Ranicki, der ein großer Literaturkritiker ist, aber nie junge Literaturkritiker herangezogen hat, die genauso ein Format gehabt hätten, wie er. Dann halte ich zum Beispiel Volker Weidermann von der FAZ für einen großen Kritiker, genauso Joachim Kaiser, wenn er mal eine Literaturkritik schreibt. Und Joachim Lottmann ist ein toller Literaturkritiker, finde ich. Diese drei, vier erzählen von Literatur. Sie sind nicht Buchhalter einer Meinung, zu der sie sich auch noch nicht mal richtig durchringen wollen, weil sie Angst haben, irgendjemand zu verletzen, oder im Gegenteil, weil sie Angst haben, jemandem zu sehr zu loben.

Lesen Sie die Kritiken, die über Ihre Bücher geschrieben werden?
Biller: Ja. Alles andere wäre gelogen. Aber oft überfliege ich sie nur und ich vergesse vieles…

Gab es denn auch mal eine Kritik, die Sie bereichert hat, was Ihr eigenes Schreiben anbelangt?
Biller: Nein. Weil die negative Kritik lehne ich ab und die positive ist mir unangenehm.
Vielleicht doch: Matthias Altenburg hat in der "Woche" über "Die Tochter" geschrieben. Er hat dem Buch vorgeworfen, dass es zu viele Worte wären, zu viel von allem. Das hat ja auch fast 500 Seiten. Ich habe durch diese Kritik zwar nicht plötzlich begonnen, anders zu schreiben. Aber, dass ich nach "Die Tochter" angefangen habe, viel einfacher zu schreiben, ist vielleicht kein Zufall.

Sie haben sich mehrfach zur Diskussion um das Holocaust-Gedenken in Deutschland geäußert und sind in Texten auf das Verhältnis der Deutschen zum Holocaust eingegangen. Eine vielleicht nicht ganz einfache Frage: wie lebt es sich heute besser, als Mitglied des Opfervolks oder als Mitglied des Tätervolks?
Biller: Ist mir doch egal! (lange Pause) Sie würden das offenbar gerne wissen. Aber ich werde Ihnen nicht helfen, das herauszufinden. Es kann sein, dass es in fünf oder zehn Jahren anders ist, aber im Moment ist mir das egal. Und was im Feuilleton zum Thema Holocaust-Gedenken geschrieben wird, interessiert mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr, weil es derselbe Unsinn, dieselbe Wiederholung des immer wieder Gleichen ist. Ich habe dort erstens schon ganz lange keinen neuen Gedanken mehr gelesen, und zweitens auch selbst keinen mehr dazu gehabt. Was dieses Thema angeht, leben wir in einer Zeit der Stagnation.

Es gibt in dieser Diskussion auch immer wieder antijüdische Töne. Beängstigt Sie das?
Biller: Nein Ich habe diese Töne auch vor zehn Jahren schon wahrgenommen, aber Angst hat es mir sicherlich nicht gemacht. Ich habe Angst, nachts alleine durch den Wald zu gehen. Aber ich habe keine Angst vor einer Meinung als Menschen. Und in dem Moment, wo aus einer Meinung Taten werden, habe ich auch nicht mehr Angst. Dann weiß ich nur: jetzt muss ich zusehen, dass ich davonkomme. Diese Situation haben wir aber nicht. Die kann in einem Jahr eintreten, in fünf, zehn, fünfzig Jahren – oder nie. Ich habe immer wieder mitbekommen, dass es antisemitische Selbstbefreiungsversuche der Deutschen gegeben hat, und ich habe Mitte der 80er in meinen journalistischen Arbeiten diese Leute radikal angegriffen. Weil ich auch die Illusion hatte, dass hinter mir ein paar Andere stehen, dass ich nicht ganz allein mit dieser Meinung bin. Es gab ja immer wieder auch antisemitische Skandale, alles fing an – fälschlicherweise – mit Fassbinder.

Sie meinen "Der Müll, die Stadt und der Tod".
Biller: Richtig. Wobei ich glaube, dass das ein ganz tolles Theaterstück ist, in dem eine tragische Geschichte erzählt wird. Das Problem war nur die Typisierung der Namen, weil Fassbinder die eine Figur den "reichen Jude" nannte.
Aber eigentlich fing das mit den Skandalen nicht bei Fassbinder an, sondern mit Ernst Nolte und dem Historiker-Streit. Seitdem wollen sich die Deutschen befreien, seitdem gibt es immer wieder diesen Tabubruch von Rechts, seit Mitte der 80er Jahre.
So, und was hat das mit mir gemacht? Es hat mit mir deshalb nichts gemacht, weil ich immer im Auge hatte, dass alles unter Kontrolle ist. Ich erwarte aber keine Liebe von den Deutschen. Sie können eben nicht verstehen, was ein Roman wie "Die Tochter" wirklich erzählt. Sie können ein Buch wie "Faserland" von Christian Kracht verstehen. Weil da ein frustrierter, junger Wohlstandsdeutscher durch die Republik reist, tanzt, kotzt, Blödsinn redet… das ist ein großes Buch, und sein Held ist ihnen nah.

Man könnte aber auch sagen, Jimi Hendrix ist nur von schwarzen Amerikanern wirklich verstanden worden, aber trotzdem hat er auch die Kultur weißen Amerikaner beeinflusst. Haben Sie also nicht das Gefühl, dass auch Sie gebraucht werden, in einer Auseinandersetzung?
Biller: Eine meiner Lieblingsgeschichten in den "Moralischen Geschichten" ist der "Nachruf". Die handelt von diesem Schriftsteller, der von seinem Zeitungs-Kollegen gebeten wird, seinen eigenen Nachruf zu schreiben. Der findet es zwar lächerlich, macht es aber trotzdem und stirbt tatsächlich drei Tage später. Und plötzlich merken auf der Beerdigung alle, "Na ja, er war zwar unerträglich, aber jetzt wird er uns doch fehlen."
Ich habe keine Zweifel, dass der Spaß, den man mit mir hatte, den Leuten fehlen wird, wenn ich in 80 Jahren nicht mehr schreibe. Das ist das eine. Das andere ist: ich habe eine Zeit lang das Gefühl gehabt, dass wir alle Deutsche sind – alle, die es gut meinen mit diesem Land. Ich habe mich also lange Zeit mehr als Deutscher gefühlt, als ich es heute tue. Wir sind alle auf dieser Seite und wir haben zu tun mit denen auf der anderen Seite. Und die auf der anderen Seite können irgendwelchen rechtsradikalen 18-Jährigen sein, oder 70-jährige Nazis aus München, die irgendwelche Zeitungen finanzieren, oder einer von ihnen kann ein Redakteur einer etablierten liberalen Zeitung sein, der immer wieder diese seltsamen Texte schreibt. So, und gegen die kämpfte ich, als Journalist, nicht als Schriftsteller. Ich habe aber irgendwann das Gefühl bekommen: das ist Sisyphos-Arbeit. Vielleicht ist es, aufs Ganze betrachtet, gar nicht so sehr Sisyphos-Arbeit. Denn natürlich ist das Deutschland von heute irgendwie besser als das Deutschland von vor 70 Jahren, vielleicht ist es sogar auch besser als das Deutschland vor 15 Jahren.

Und vielleicht haben Sie sogar dazu beigetragen.
Biller: Vielleicht.
Ich habe eine Zeit lang eine Kolumne in Zeitungen gehabt und eine von ihnen hieß "Heiliger Holocaust" und handelte davon, dass die Deutschen sich für ihre Geschichte schämen, aber auch nicht wirklich die Möglichkeit haben, ihr Nationalbewusstsein zu definieren – im positiven Sinn, wie die Amerikaner, die Franzosen oder die Israelis. Also definieren sie sich seit Jahrzehnten negativ über den Holocaust. Und das halte ich für einen Fehler. Diese Kolumne hat dann innerhalb der "Zeit" für einen furchtbaren Wirbel gesorgt. Inzwischen ist das eine gängige Meinung. Nicht weil ich das damals geschrieben habe – um Gottes Willen. Sondern weil auch ein paar mehr Leute auf die Idee gekommen sind, die haben ja nicht alle meinen Text gelesen. Vielleicht hat der ein oder andere sogar meinen Text gelesen. Vielleicht bewirke ich also wirklich ein bisschen irgendetwas. Vielleicht bewirke ich am Ende mit den "Moralischen Geschichten" auch etwas. Da wäre ich natürlich glücklich, so wie Kishon seinerzeit mit seinen Büchern die Deutschen ein bisschen lockerer gemacht hat in ihrem Verhältnis zu den Israelis. Vielleicht kann ich mit den "Moralischen Geschichten" die Deutschen lockerer machen im Verhältnis zu den Juden.

Sie haben letztes Jahr die CD "Maxim Biller Tapes" veröffentlicht, auf der Sie völlig unerwartet Gitarre spielten und sangen. War das einfach so eine spontane Laune des Maxim Biller?
Biller: Nein. Ich habe schon immer Musik gemacht. Für mich. Und dann gab es Leute, die das gehört haben und so schön fanden, dass sie gesagt haben, wir sollten diese CD machen. Mir hat das dann auch unglaublich Spaß gemacht hat, das kann sich kaum jemand vorstellen. Nur als die CD erschienen ist, wurde es leider kurz ernst, ich habe es dann ein paar Wochen leider auch ernst genommen – das tue ich aber inzwischen nicht mehr. Und sollte ich jemals wieder eine CD machen, dann werden bis dahin bestimmt wieder 10 Jahre vergehen. Ich will ja nicht alle zwei Jahre eine CD rausbringen.

Ist so eine CD näher an Ihnen dran, als Ihre Bücher?
Biller: Ja, ich habe die geliebt, weil die so nah an mir dran war. Vor einer Lesung bin ich nie nervös, aber vor war ich drei Wochen lang todesnervös. Es hat mir dann aber tausend mal mehr Spaß gemacht hat, vor Leuten diese sechs, sieben Lieder zu singen, als in einer Buchhandlung zu lesen. Beim Singen war ich näher an mir selbst. Aber: wenn Sie mir sagen würden: du darfst entweder nicht mehr spielen oder nicht mehr schreiben – dann würde ich sagen, verzichte ich lieber auf das Spielen.

Maxim Biller: Moralische Geschichten. Paperback, KiWi 868, 240 Seiten. 9,90 Euro — ISBN: 3-462-03477-4

7 Kommentare zu “Ich schreibe, weil ich nicht anders kann.”

  1. Cornelius Dudenhöfer |

    „… die nicht schreiben sondern lesen …“

    Hier fehlt eines. Leute, habt ihr Maschinenbau studiert oder was?

    Antworten
  2. Cornelius Dudenhöfer |

    „… und warum er das Internet noch blöder findet, als Antisemiten.“

    Welcher Schwachkopf macht denn da ein Komma hin?

    Antworten
  3. Pet Shop Girl |

    Ich mag ihn

    Ich bin Türkin und finde Maxim Biller gut,weil ich mich gut in seine Gedankenwelt hineinversetzen kann.Es ist sehr merkwürdig als „Ethnisch-Nicht-Deutsche(r)“in diesem Land aufzuwachsen.Ob ich es positiv oder negativ finde,kann ich momentan garnicht beantworten.Erst als alte Frau werde ich rückblickend sagen können,wie ich Deutschland und die Deutschen einschätze.Im Augenblick schwanke ich(trotz perfekter Integration bzw.Assimilation) noch zwischen Hass und Zuneigung.

    Antworten
  4. wara |

    passt.

    hej, ich finde das wirklich ziemlich ok. er ist ein mensch, keine scheiß-projektionsfläche.

    Antworten
  5. Anonymous |

    Genialer Mann

    Maxim Biller in einem großartigen Interview, er erzählt viel Wahres, zudem ein großartiger Schriftsteller

    Antworten
  6. Jana |

    furchtbare Schreiber

    Günter Grass war ja schon eine Zumutung. Die verquasten, Texte, die so unendlich langweilen. Nun also die Milchbubies Benjamin Lebert, Kristian Kracht und der ravende Großvater Rainald Goetz als begabte (Jung)-Autoren? Wenn das so ist, dann verzichte ich gern auf die Lektüre von Billers Werke auch auf die Gefahr, etwas zu verpasen.

    Antworten
  7. Mumrik |

    Dummes, überflüssiges Geschwätz.

    Dazu ein peinlicher Zeichensetzungsfehler im Lead. Und Sätze wie „Ich finde, dass man als Autor schon so viel von seiner Seele preisgibt (…) Warum soll man dann auch noch drüber reden?“

    Ja, das frage ich mich auch. Na ja, seien Sie froh, dass hier überhaupt jemand was reintippt, trotz des (an dieser Stelle gleichermaßen peinlichen) Captchas ;-)

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