Marcus Urban

Ich hatte Angst vor mir selbst.

Marcus Urban über Homophobie im Fußball, warum "schwul" ein Schimpfwort auf dem Rasen geworden ist und ob er sich heute befreiter fühlt

Marcus Urban

© Verlag Die Werkstatt

Herr Urban, Sie haben Ihre Karriere als Profifußballer in den 90er Jahren frühzeitig beendet, weil Sie das ewige Versteckspiel bedrückte. Was genau hat Sie zu Ihrem Rücktritt bewegt?
Urban: Ich hatte einfach nicht mehr die Kraft, nach meiner Verletzungspause noch einmal in diese Fußballwelt zurückzukehren, um vielleicht den Sprung in die 2. Bundesliga-Mannschaft von Rot-Weiß Erfurt zu schaffen. Ich hätte dort mit meiner Sensibilität nur sehr schwer bestehen können. Also habe ich mir gedacht: Ich kann auch noch andere Dinge – und habe studiert.

Gab es denn nach der Veröffentlichung des Buches Reaktionen von ehemaligen Mitspielern?
Urban: Zwei frühere Sportschulkollegen, zu denen ich seit 2006 wieder Kontakt habe, haben das Buch gelesen und freuen sich für mich. Sie finden das Buch sehr anregend und aufschlussreich. Sie sagen, ich könne stolz drauf sein.

Fühlen Sie sich heute – jenseits des Profifußballs – befreiter?
Urban: Ja, denn ich war mir ja eigentlich selbst lange Zeit nicht über meine Gefühle im Klaren. Dazu war ich erst in der Lage, als ich aus der Fußballwelt raus war.

Aber Sie hatten doch bestimmt auch schon während Ihrer Profi-Laufbahn Gefühle für Männer, oder?
Urban: Klar, während der Pubertät habe ich mich das erste Mal in einen Mann verliebt. Ich habe mir diese Gefühle aber einfach nicht erlaubt, habe sie verdrängt. Mein Gedanke war immer: Ich bin Fußballer, ich kann nicht schwul sein.

Und damit war das Thema für Sie zunächst einmal erledigt?
Urban: Wie hätte es anders sein sollen? Zu dieser Zeit war Homosexualität noch nicht so gesellschaftsfähig, zumal es das in der DDR offiziell nicht gab. Ich hatte keine Ansprechpartner um mich herum, keine psychologische Beratung. Also habe ich mir immer wieder eingeredet: Marcus, diese Gedanken sind krank. Ich hatte Angst vor mir selbst, habe mich ständig versteckt und wollte bloß nicht als verweichlicht gelten. Jahrelang habe ich jedes Wort, jede Geste kontrolliert. Bildlich gesprochen: Ich habe mir Augen und Ohren zugehalten, wollte bloß nichts fühlen. Denn der Reiz, sich auszuleben, war natürlich vorhanden. Aber es ging eben nicht. Das erzeugt dann Aggressionen.

Auch auf dem Platz?
Urban: Vor allem dort. Es gab oft Situationen, in denen ich überhart in Zweikämpfe gegangen bin. Oder ich habe einfach nachgetreten. Ich glaube, auf dem Platz war ich immer einen Tick aggressiver als andere Spieler.

Und wie war es in der Kabine oder beim Training mit den Teamkollegen?
Urban: Da habe ich mich erst recht rund um die Uhr selbst beobachtet. Ich war praktisch mein eigener Kontrolleur. Bloß nichts Falsches sagen, nicht auffällig werden. Das führte dann schon zu merkwürdigen Situationen.

Zum Beispiel?
Urban: Ich erinnere mich an eine Situation während des Trainings. Ein Mitspieler von mir mit langen blonden Haaren machte einen schwachen Schuss. Daraufhin hat ein anderer Mitspieler so ein typisches Frauengeräusch gemacht. Ich musste lachen, war ja irgendwie witzig. Und im nächsten Moment dachte ich dann: Puh, gut, dass es nicht um mich ging.

Und wie haben Sie reagiert, wenn es mal um Sie ging? Ihre Mitspieler wussten ja nichts von Ihrer Homosexualität.
Urban: Dann habe ich eben einen auf hart gemacht und abgeblockt. Richtig locker umgehen konnte ich mit den Sprüchen aber nie.

Warum, glauben Sie, benutzen manche Leute überhaupt Schimpfwörter wie "schwule Sau"?
Urban: Das ist, denke ich, im Laufe der Zeit entstanden. Schwul sein wurde auf einmal als Beleidigung empfunden. Eine Abwertung eben, man sei kein richtiger Mann, verweichlicht. Ich denke, es herrscht die landläufige Meinung, dass Schwule eh’ immer nur so etwas machen, wie Design, Kunst und Unterhaltung …

…aber sie spielen nicht Fußball.
Urban: Genau. Das gilt wohl für alle Berufe, die besonders mit männlichen Attributen verbunden werden: unter anderem Gefängniswärter, Fliegeroffizier oder eben Fußballprofi. Aber nur so nebenbei: Ich habe auch einen schwulen Gefängniswärter und einen Fliegeroffizier kennengelernt. Es ist doch ganz logisch: Wo viele Männer sind, da sind auch Männer, die Männer lieben. In anderen Bereichen wie der Kunst, Kultur, den Medien oder Politik ist das inzwischen selbstverständlich.

Warum ist Homosexualität dann gerade im Fußball so ein Tabuthema?
Urban: Das hat meiner Meinung nach mehrere Gründe. Ein Grund ist, dass die Strukturen im Mannschaftssport im Allgemeinen eher klassisch konservativ sind. Da soll möglichst alles so bleiben, wie es ist. Diese Strukturen sollen nicht durch intime Themen gestört werden. Ein Mann, der nicht Frauen, sondern Männer liebt? Das ist für viele Sportler vielleicht nur schwer vorstellbar. Somit wäre der Fall ein Störfaktor und würde nicht gerade dem gemeinsamen Erfolg dienen.

Zitiert

Mein Gedanke war immer: Ich bin Fußballer, ich kann nicht schwul sein.

Marcus Urban

Welche Gründe gibt es noch?
Urban: Fußball gilt als echte Männerdomäne. Würden sich dort aber auf einmal ebenfalls Schwule bekennen, würde das bei vielen Menschen ein angeeignetes Gesellschaftsbild infrage stellen. Welche ist dann die Rolle des Mannes? Es fällt vielen Leuten schwer zu akzeptieren, dass Männer auch Mal wie Frauen sein können, Mal einfühlsam, fürsorglich oder aber kompliziert.

Gibt es also eine Diskrepanz zwischen der veröffentlichten Meinung, dass Homosexualität von den meisten Menschen akzeptiert wird, und der öffentlichen Meinung?
Urban: Viele Sportler behaupten öffentlich, dass Homosexualität im Sport für sie kein Problem sei. Das glaube ich auch. Natürlich gibt es viele tolerante Menschen, aber es gibt auch viele, für die das Thema befremdlich ist. Und nur weil sich jetzt Schwule und Lesben im Fernsehen offen zeigen, verschwinden ja nicht von heute auf morgen die Vorurteile.

Während das Vorurteil beim Männer-Fußball lautet, es gäbe keine schwulen Profis, verhält es sich mit dem Vorurteil beim Frauen-Fußball ja genau umgekehrt.
Urban: Stimmt. Die ehemalige Bundestrainerin der Frauen-Nationalmannschaft, Tina Theune-Meyer, hat mal in einem Interview gesagt, dass 60 bis 70 Prozent der Fußballerinnen zu jenem Zeitpunkt lesbisch gewesen seien. Das kann ich natürlich nicht beurteilen. Aber es ist schon interessant, dass lesbische Fußballerinnen selbstverständlicher sind als schwule Fußballer.

Haben Sie eine Erklärung dafür?
Urban: Zumindest eine These. Frauen betreten im Fußball ein männliches Gebiet. Das bedeutet, sie gewinnen, so denn selbst gewollt, als Frau neue starke Attribute dazu. Bei schwulen Männern geht dagegen etwas verloren, nämlich die Männlichkeit. Schwule Männer sind angeblich nicht in der Lage zu kämpfen. Aber das ist Quatsch: Schwule können auch hart sein. Und dann liegt es, glaube ich, auch ein bisschen an den sexuellen Fantasien vieler heterosexueller Männern: Dass zwei Frauen etwas miteinander haben könnten, finden sie durchaus anregend. Aber ein Verhältnis zwischen zwei Männern ist gedanklich für heterosexuelle Männer unangenehm. Was ja auch in Ordnung ist

Daher scheint ein Outing eines aktiven Fußballprofis derzeit unvorstellbar, oder?
Urban: Die betroffenen Spieler verstecken sich lieber. Das hat sicherlich viel mit der Angstthese zu tun: Was passiert, wenn ich mich jetzt öffentlich zu meiner Homosexualität bekenne?

Was würde denn passieren?
Urban: Schwer zu sagen. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass dann schwulenfeindliche Schmährufe von den gegnerischen Fans kommen. Andererseits: Diese Leute schreien das heutzutage im Stadion ja nicht mit dem Bewusstsein, dass der Fußballer wirklich schwul sein könnte. Da fehlt einfach das Unrechtsbewusstsein. Würden die Leute wissen, dass sie jemanden mit der Bezeichnung "schwule Sau" ganz direkt und intim beleidigen würden, hätten sie garantiert mehr Hemmungen. Das wäre ähnlich wie mit ausländerfeindlichen Sprüchen – die werden von der Masse ja auch nicht akzeptiert.

Wie wäre es denn mit der gesellschaftlichen Anerkennung eines schwulen Profis?
Urban: Das ist eine spannende Frage. Was würden zum Beispiel die eigenen Anhänger machen? Würden sie auf Schmähgesänge der gegnerischen Fans mit eigenen Gesängen reagieren? In anderen Bereichen könnte sich ein schwuler Fußballer jedenfalls seiner Anerkennung sicher sein. Er würde von Politikern, Funktionären und auch vielen Fans, Spielern und Trainern sicherlich viel Wertschätzung erfahren.

Aber?
Urban: Aber es wäre natürlich auch ein Riesending, wenn sich jetzt jemand outen würde. Die externen Einflüsse wären gewaltig, gerade von den Medien, den Fans und den Kollegen. Vor allem jüngere Fußballer, die auf eine erfolgreiche Karriere hoffen, würden schon einiges riskieren. Der Druck wäre in den ersten Wochen sicher gewaltig.

Also würden Sie einem schwulen Fußballspieler derzeit nicht zum Outing raten?
Urban: Ich würde jedem empfehlen, sensibel für sich selbst zu sein und zu prüfen, ob man sich wirklich zu seiner Homosexualität öffentlich bekennen möchte. Vielleicht sollte man sich stattdessen erst einmal Unterstützung holen. Bei Theo Zwanziger, dem Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes. Oder bei einem Psychologen. Es gibt schließlich speziell ausgebildete Psychologen, die schwule und lesbische Sportler betreuen.

Also lieber noch etwas warten?
Urban: Vielleicht sollte nicht gerade der Fußball den Anfang machen. Es ist wahrscheinlicher, dass Outings zunächst in anderen Sportarten kommen werden.

Kennen Sie denn schwule Fußballer in der Bundesliga?
Urban: Persönlich kenne ich keinen. Aber ich habe mit Journalisten gesprochen. Es gibt schwule Fußballer in der Bundesliga. Nur bleiben die unentdeckt.

Woran würde man schwule Fußballer denn erkennen?
Urban: Corny Littmann, Präsident des Zweitligisten FC St. Pauli, der ebenfalls homosexuell ist, hat mal gesagt: Wer nach schwulen Fußballern sucht, muss auf die Spieler mit den meisten Gelben Karten achten … (lacht)

Und, ist da etwas dran?
Urban: Meine These ist die, dass die Mentalität schwuler Fußballer eher defensiv ist. Extrovertiertheit ist sicher nicht das geeignete Mittel, um sich zu verstecken. Auf jeden Fall, glaube ich, sind es nicht die Spieler, von denen man es erwarten würde.

Was ist mit David Beckham? Oder mit Philipp Lahm, der schon einmal für ein Schwulenmagazin posierte?
Urban: Da war bei einigen vielleicht der Wunsch Vater des Gedankens. Philipp Lahm ist ein gutes Beispiel: Der sieht gut aus, ist wortgewandt und geht locker mit dem Thema Homosexualität um.

Was vermuten Sie: Wie organisieren schwule Bundesligaspieler ihr Versteckspiel?
Urban: Es gibt doch heute viele Möglichkeiten, ein Doppelleben zu führen. Es gibt sogar Agenturen, die einem eine Frau für öffentliche Auftritte oder gemeinsame Urlaubsbilder vermitteln. Das finde ich einfach nur absurd. Und für schwule Fußballer ist das schlicht eine Zumutung. 

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.