Liane Jessen

Der „Tatort“ ist so etwas wie das säkularisierende Wort zum Sonntag.

„Tatort“-Expertin Liane Jessen über das Erfolgsgeheimnis der seit 37 Jahren laufenden Krimireihe, neue Erzählformen, Vermarktungsmöglichkeiten und die Arbeit der ARD-internen Fernsehfilm-Sichtungsgruppe

Liane Jessen

© Tobias Goltz

Frau Jessen, worin besteht das Erfolgsgeheimnis des „Tatorts“?
Jessen: „Tatort“-Kommissare sind unsere modernen Helden. Sie gehen durch eine Welt, die jeden Tag schlimmer wird. Ihre Aufgabe ist es, die Ursachen dafür herauszufinden und diese Welt für eine kurze Zeit wieder in Ordnung zu bringen. Der „Tatort“ ist so etwas wie das säkularisierende Wort zum Sonntag. Die Leute können am Sonntagabend relativ beruhigt ins Bett gehen, weil sie wissen: Es gibt irgendeine Macht, die Ordnung schafft.

Aber die Ermittler haben auch Schwächen – es gibt kaputte Ehen, leere Kühlschränke, nicht funktionierende Autos, sie sind suchtgefährdet, wollen aussteigen.
Jessen: Ja, natürlich. Es gibt diesen schönen Ausspruch von Nietzsche: „Wenn man lange genug in den Abgrund blickt, blickt der Abgrund in einen selber“. Das finde ich so interessant an Kommissaren. Weil sie ja nur zufällig auf der guten Seite sind. Sie hätten genauso gut auf der anderen Seite sein können. Sie spiegeln die ganze Zerrissenheit des modernen Menschen nach dem zweiten Weltkrieg wieder. Doch trotz aller Widrigkeiten gehen sie ihren Weg. Das macht sie für uns so wichtig. Weil wir auch jeden Montagmorgen aufstehen und trotz aller Widrigkeiten unseren Weg gehen müssen.

Am Ende haben die Kommissare den Fall immer gelöst…
Jessen: Ich glaube, das ist eine ganz tiefe und wichtige Sache, die das Krimigenre für viele Leute so attraktiv macht. Denn Aufklärung im Sinne des 18. Jahrhunderts gibt es nicht mehr. Unsere Realität wird von Pseudo-Aufklärung regiert, von Lüge, von verschiedenen Seiten der Wahrheit, so dass man gar nicht mehr weiß, wie man sich zurechtfinden soll. Ob im Beruf, in der Schule, im öffentlichen Leben, in der Politik. Im Film ist Aufklärung jedoch ganz rein noch vorhanden. Aufklärung ist Aufklärung – daran gibt es nichts zu rütteln. Ich habe mich auf die Spurensuche zu begeben und zu versuchen, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen. Wo gibt es das sonst noch?

Gibt es neben der Identifikation mit den Ermittlern Gründe für den Erfolg der Reihe, die nun seit 37 Jahren läuft und damit die am längsten laufende 90-minütige Serie bzw. Reihe weltweit ist?
Jessen: Ich habe neulich bei Tolstoi in „Anna Karenina“ einen Satz gelesen: „Nichts ist aufregender als eine Frau, die man kennt in einem neuen Umfeld oder in einem neuen Kleid zu sehen.“ Genau das trifft auf den „Tatort“ zu. Ich sehe den Vorspann, weiß, es ist Sonntagabend, es kommt spannende Unterhaltung. Und dann kommt die Abwechslung. Ich sehe jedes Mal eine andere Landschaft, vertraute Städte, aber immer wieder auch neue Kommissare. Der „Tatort“ ist schließlich regional verortet und stellt die einzelnen Bundesländer vor. Mit neuen Kommissaren erzählt der „Tatort“ neue Lebensstile. Er greift Veränderungen in unserem Leben auf uns bindet den Ort des Geschehens dabei mit ein. Die „Tatorte“ aus Kiel sind ganz anders als die aus Frankfurt. Weil schon die Stadt ein anderes Leben und ein anderes Morden zugrunde legt. Jeder „Tatort“ von jedem Sender hat eine völlig andere Charakterisierung. Man sieht die vielen verschiedenen Handschriften.

Aktuell gibt es insgesamt 15 Ermittlerteams und jedes Jahr über 30 neue „Tatort“-Folgen. Ist bei dieser hohen Schlagzahl die Qualität der einzelnen Filme noch gewährleistet?
Jessen: Ich finde sogar, dass der „Tatort“ besser geworden ist. Die Anfänge waren toll und interessant, in den 70er und 80er Jahren wurden die Geschichten jedoch eher konventionell erzählt. Heute beschäftigen wir beim „Tatort“ eher junge Regisseure als Routiniers, die das Kinoformat sehr schätzen und an Filmakademien dementsprechend ausgebildet werden. Deshalb erreicht der „Tatort“ teilweise sogar Kino-Niveau.

Neue Erzählformen sind für den Zuschauer jedoch immer etwas Ungewohntes.
Jessen: Der über 50-jährige als durchschnittlicher Fernsehzuschauer tut sich natürlich schwer damit. Schnelle Schnitte und rasante Musik sind problematisch, weil diese Generation wenig ins Kino geht und damit nicht aufgewachsen ist. Es gibt keine filmische Bildung, es gab kein Hineinwachsen in die MTV-Generation, die mit unglaublich kurzen erzählerischen Ellipsen aufgewachsen ist.

Was bedeutet das?
Jessen: Beim Thema „Hip-Hopper stürzt vom Dach“ kann ich sofort davon ausgehen, dass die Quote unter 20 Prozent Marktanteil sinkt. Wenn ich erzähle, dass ein schwäbisches Familienunternehmen, verzweifelt ums Überleben kämpft und der Großvater die Treppe heruntergestürzt ist, habe ich – auch wenn es ein unglaublich langweiliger Film ist – 24 Prozent Marktanteil. Das lässt sich vorher wirklich planen.

Inwiefern beeinflusst das die Arbeit der Redaktionen?
Jessen: Es gibt sicher Häuser, denen die Quote wichtiger ist. Der SWR und der MDR setzen sehr auf Quote. Es gibt andere Sender wie den WDR, den NDR und auch den HR, die sagen, egal ob es 21 der 22 Prozent sind, Hauptsache, es ist ein toller Film. Jede Haltung hat seine Berechtigung. Wenn man Quote und Qualität vereinen will, muss man im Endeffekt eine Geschichte schaffen, die großartig erzählt ist, die die Menschen berührt und die durch alle Altersschichten geht.

Zitiert

Tatort-Kommissare sind unsere modernen Helden.

Liane Jessen

Welche Experimentiermöglichkeiten gibt es heute beim „Tatort“ – inhaltlich und stilistisch?
Jessen: Der Krimi als solcher hat ja schon mal ganz feste Regeln. Das heißt, es gibt eine Tat, einen Täter und einen Ermittler. Dieses Schema wird kaum einer verlassen. Experimentell kann man aber viel machen durch Bildsprache, Musik, Schnitt. Wir haben heute viel mehr eine bewegte Kamera. Und ich denke, dass man sich im „Tatort“ viel mehr leisten kann als in einem normalen Fernsehfilm, weil das Gerüst des „Tatorts“ eher eine innovative Sprache zulässt als ein losgelöster Einzelfilm.

Weshalb?
Jessen: Den „Tatort“ schaut sich auch ein Hartz IV-Empfänger an. Wenn der Film zum Thema Arbeitslosigkeit oder Hartz IV am Mittwochabend um 20.15 Uhr läuft, sagt er zu seiner Frau: „Ach, du, Hartz IV sind wir selber, lass uns bitte was anderes gucken“ – und dann schalten sie zu CSI.

Hat der „Tatort“ noch diese ganz starken Figuren wie mit Schimanski in den 80ern?
Jessen: Ja, finde ich schon. Maria Furtwängler als Charlotte Lindholm ist das ganz sicher, die Münsteraner, und auch die, die schon lange dabei sind. Die Kölner schätze ich zum Beispiel sehr. Auch Eva Mattes vom Bodensee. Die „Tatorte“ sind zwar nicht so spannend, weil sie etwas Behäbiges haben, aber die Figur ist toll. Der „Tatort“ hat insgesamt viele charismatische Figuren.

Der HR produziert seit kurzem einen dritten „Tatort“ pro Jahr, in dem jeweils einer der beiden Ermittler allein ermittelt. Was steckt hinter dieser Idee?
Jessen: Das liegt daran, dass die ARD mehr „Tatorte“ aus Frankfurt haben möchte, weil die extrem erfolgreich sind – sie haben viele Zuschauer und gute Kritiken. Deswegen müssen wir mehr produzieren, aber das geht mit den Schauspielern nicht, die an vielen anderen Projekten arbeiten. Ich habe mich zudem entschlossen, ab nächstem Jahr einen neuen hessischen „Tatort“ aufzulegen. Es wird dann neben Schüttauf und Sawatzki einen weiteren Ermittler geben, der in ganz Hessen ermittelt.

Was für ein Typ wird das sein?
Jessen: Ein LKA-Beamter, ein absoluter Hedonist. Ein James Bond-Typ, der eine Miss Moneypenny im LKA hat, die ihm den Rücken freihält, die alles von ihm weiß. Er hat ein Geheimnis: er steht selber mit einem Bein im Tod – das darf jedoch niemand wissen.

Mittlerweile gibt es neben vielen Wiederholungen im Ersten und in den dritten Programmen auch „Tatort“-Hörbücher und einen monatlichen „Radio“-Tatort, zudem ist eine DVD-Collection geplant. Besteht die Gefahr, die Marke Tatort zu verscherbeln?
Jessen: Genau diese Frage diskutieren wir in der ARD ständig. Wir haben bei den von Ihnen angesprochenen Medien auf die exzellentesten Angebote geachtet. Die Hörbücher zum Beispiel sind unglaublich liebevoll gemacht und laufen auch auf dem Markt ganz wunderbar. Bis jetzt hat es dieses Zusatzangebot dem „Tatort“ nicht geschadet, aber das Ganze läuft ja auch erst seit einem Jahr. Den Begriff „Radio-Tatort“ finde ich unglücklich gewählt, aber der Hörfunk wollte es unbedingt so, es hat auch niemand Einspruch eingelegt. Diese Krimis sind aber etwas ganz Anderes, weil es dort andere Kommissare sind. Wenn es die gleichen wären, wäre es schwierig.

Kürzlich hat der NDR-Tatort „Wem Ehre gebührt“ zu großen Demonstrationen der Aleviten geführt, die ihre Glaubensgemeinschaft in dem Film verunglimpft sahen. Neben vier anderen Fernsehspielchefs gehören Sie einer ARD-Kommission an, die das gesamte fiktionale Hauptabendprogramm vorab sichtet und bewertet. Hat die Sichtungsgruppe geahnt, dass es Ärger geben könnte?
Jessen: Es war uns klar, dass dieser „Tatort“ Wellen schlagen würde. Aber dass die Redakteurin Polizeischutz benötigen würde, haben wir nicht vorausgesehen. Weil wir nicht vorausgesehen haben, dass es in diesem Land eine Bevölkerungsgruppe gibt, die Druck auf einen Sender ausüben würde. Das war uns neu. Wir hätten das nicht für möglich gehalten.

Wie schätzen Sie die Entwicklung des „Tatorts“ in den kommenden Jahren ein?
Jessen: Den „Tatort“ wird es noch lange geben. Genau so wie die „Tagesschau“ und „Wetten dass“. Wie sagte Thomas Gottschalk neulich so schön: „Ich werde ‚Wetten dass’ noch aus dem Himmel moderieren.“ Es gibt einfach Sachen, die werden ewig laufen. Und das ist auch gut so: Weil die Erneuerung im Programm immer schneller wird. Bei RTL wurde neulich eine Anwaltsserie nach einer Folge abgesetzt, die Stylingshow „Bruce“ wird von der ARD nach 20 Folgen eingestellt. Formate werden immer schneller wieder verworfen. Deswegen muss es ein paar Säulen geben, die bleiben. Der „Tatort“ gehört dazu.

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