Jeffrey Wimmer

Computerspiele können die Werte einer Gesellschaft beeinflussen.

Kommunikationswissenschaftler Jeffrey Wimmer über Computerspiele als Breitensport, virtuelle Gemeinschaften, gesellschaftliche Akzeptanz und den Begriff „Killerspiele“

Jeffrey Wimmer

© Martin Höche

Herr Wimmer, in der öffentlichen Debatte über Computerspieler ist viel von Klischees die Rede: Computerspieler sind jung, männlich und haben einen niedrigen Bildungsgrad. Sie haben sich intensiv mit Computerspielern befasst. Inwiefern stimmt diese Charakterisierung?
Wimmer: Diese Klischees werden oft von der Politik genannt und in den Medien reproduziert. Wir können anhand unserer Studien zeigen, dass diese Klischees oder Stereotype nicht mehr haltbar sind.

Was haben Ihre Forschungen gezeigt?
Wimmer: Man kann feststellen, dass Computerspiele zunehmend von Älteren und Frauen gespielt werden. Außerdem spielen immer mehr Jugendliche mit einem hohen Bildungsgrad, also Gymnasiasten und Studenten Computerspiele. Die Spiele entwickeln sich also eher zu einer Art Breitensport.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass sich dieses Bild vom männlichen, dummen Jugendlichen trotzdem so lange halten konnte? Computerspiele gibt es ja schließlich nicht erst seit gestern.
Wimmer: Umso weniger man weiß über ein Thema, umso mehr neigt man dazu, Stereotype zu reproduzieren und als wahr anzusehen. Das gilt übrigens für viele Bereiche. Das war auch ein Grund für mich, dieses Buch herauszugeben und darin verschiedene Studien zu diesem Thema zusammenzuführen – Ich wollte die Normalität und die sozialen Aspekte des Computerspielens zeigen und nicht nur den Schwerpunkt auf Extremfälle legen. Computerspielen ist eben keine Randerscheinung.

Welche sozialen Aspekte meinen Sie?
Wimmer: Es gibt Studien in denen wir zeigen, dass die Leute das vereinsmäßig machen. Es macht fast keinen Unterschied mehr, ob die Leute in einem Fußball- oder Volleyballverein sind oder LAN-Gaming betreiben. Bei Onlinespielen ist allerdings eher von Clans und Gilden die Rede ist, weniger von Vereinen. Diese Begriffe sind natürlich aus den Fantasiewelten entlehnt, in denen die meisten Online-Rollenspiele stattfinden.

Sie meinen, es geht mehr um das gemeinschaftliche Erleben?
Wimmer: Ja. Und das ist vergleichbar mit Vereinen und anderen sozialen Gruppierungen. Bis zu 75 Prozent der Onlinespieler sind Mitglied in einer virtuellen Gemeinschaft. Das ist schon ein starker Befund, wenn drei Viertel eben nicht dem Klischee des Jugendlichen entsprechen, der isoliert vor seinem Monitor sitzt und nur zocken möchte.

Also ist die These von der Flucht aus der Realität durch Computerspiele aufgrund ihrer Befunde nicht aufrecht zu erhalten?
Wimmer: Nein. Dieser Eskapismus schwingt vielleicht bei manchen Spielern mit. Aber er ist kein Hauptbeweggrund.

Was sind die Hauptbeweggründe?
Wimmer: In den verschiedenen Studien tauchen immer wieder zwei Hauptbeweggründe auf. Einerseits ist es der Wettbewerb mit anderen Personen. Das können natürlich reale Personen, aber auch Computergegner sein. Der zweite Hauptbeweggrund ist der soziale Kontakt. Fast 50 Prozent der Befragten gibt an sich in ein Spiel einzuloggen, um sich mit einer realen Person zu treffen, mit ihr zu interagieren.

Gibt es innerhalb dieser Clans auch so etwas wie hierarchische Strukturen?
Wimmer: Ja und zwar in einer großen Bandbreite. Das eine Extrem sind semi-professionelle Vereinigungen, mit einem hohen Organisationsgrad. Die gleichen einem Sportverein mit Vorstand und Geschäftsführer. Einzelne Spieler sind festen Teams zugeordnet und erfüllen bestimmte Aufgaben. Wie in einem Fußballverein gibt es da auch eine A-Jugend, eine B-Jugend und so weiter. Dort gibt es zum Teil wirklich sehr strenge Hierarchien. Man wird ausgewählt und von einem Trainer weiterempfohlen. Man muss sich hocharbeiten.

Es gibt also eine soziale Aufstiegschance?
Wimmer: Genau. Und dort reproduziert sich auch die soziale Realität 1:1. Das was wir in der Realität an festen Hierarchien kennen, wird auch im Computerspiel zum Teil kritiklos übernommen. Einige Clans geben neuen Spielern auch erst eine Probezeit, innerhalb derer sie sich bewähren müssen.

Und das zweite Extrem?
Wimmer: Es gibt auch Clans mit relativ flachen Hierarchien ohne große Verbindlichkeiten. Dort können die Spieler relativ schnell dazustoßen und genauso schnell wieder abspringen. Innerhalb dieser Bandbreite suchen sich die Spieler den Clan aus, der ihren Vorlieben entspricht.

Wie einfach ist es denn für einen einzelnen Spieler auszusteigen oder zu einem anderen Clan zu wechseln?
Wimmer: Gerade im semi-professionellen Bereich und besonders bei Ego-Shootern, werden gute Spieler zum Teil von anderen Clans abgeworben. Wie in Sportvereinen gibt es Scouts, die fragen:“ Na bist du zufrieden in deinem Clan. Möchtest du nicht wechseln?“ Oft stecken auch Sponsoren dahinter, die zum Beispiel mit einer besseren Ausrüstung locken können. Grundsätzlich führt die soziale Vergemeinschaftung, die gerade bei Online-Spielern sehr ausgeprägt ist, zu einer hohen Bindekraft. Je stärker die Vergemeinschaftung ist, umso schwieriger ist es für den Einzelnen auszusteigen, weil man sich verpflichtet fühlt und aufeinander angewiesen ist.

Gerade bei Onlinespielern gibt es aber auch Konflikte mit dem sozialen Umfeld, also bei Eltern, Familie oder Freunden. Gegen Sportvereine haben die wenigsten Eltern Einwände. Aber werden Onlinespiele als Äquivalent zum Sportverein akzeptiert?
Wimmer: Grundsätzlich muss man sagen, dass Computerspielen ein zeitintensives Hobby ist. Der Durchschnitt liegt bei circa 20 Stunden in der Woche, das ist relativ hoch. Dagegen kommt nur noch das Fernsehen an. Die meisten Jugendlichen geben an, dass ihr Spielen von ihrem unmittelbaren Umfeld akzeptiert wird. Aber nur, wenn sie es als ernsthaftes Hobby kommunizieren.

Und wie ist es mit der Akzeptanz bei älteren Spielern?
Wimmer: Wir haben eine Studie zu Seniorenspielern gemacht. Darunter verstehen wir Spieler, die in ihrer Jugend nicht mit Computerspielen aufgewachsen sind, also die Generation ab 35 aufwärts. Die sagen, dass es von ihren Lebenspartnern nicht unbedingt gefördert, aber akzeptiert wird. Bei ihren Altersgenossen oder auf der Arbeit, bringen es viele Spieler allerdings nicht zur Sprache, weil sie befürchten, dass ihr Hobby dort nicht akzeptiert wird.

Fühlen sich die Spieler in der Öffentlichkeit, in den Medien angemessen berücksichtigt?
Wimmer: Eigentlich alle Untersuchungen und Fallstudien zeigen, dass Computerspieler das Gefühl haben, ihr Hobby werde in der medialen Berichterstattung und in der Gesamtöffentlichkeit nicht richtig repräsentiert.

Woran liegt das eigentlich?
Wimmer: Das ist eine Frage der kulturellen und gesellschaftlichen Akzeptanz. Jeder dritte Südkoreaner hat beispielsweise einen virtuellen Avatar. Vor kurzem hat sich der südkoreanische Präsident mit dem Starcraft-Champion eine Partie geliefert. Angenommen Frau Merkel würde mit dem deutschen Counterstrike-Champion eine Partie spielen, das kann man sich gar nicht vorstellen.

Die Reaktionen auf beiden Seiten wären aber doch ganz interessant?
Wimmer: Sicherlich. Obwohl es immer mehr Computerspieler gibt, ist die öffentliche Debatte eher negativ. Wohl auch deshalb, weil viele Politiker und auch viele Journalisten wenig Erfahrung mit Computerspielen haben. Deswegen kommt es auch zu einer verzerrten Berichterstattung. Und wenn man sich die Gruppen anschaut, die in der Debatte um die sogenannten Killerspiele zu Wort kommen, dann sind das tendenziell negativ eingestellte Gruppierungen.

Sie sprechen von sogenannten Killerspielen. Warum?
Wimmer: Zunächst mal ist das kein wissenschaftlicher Begriff. Im reinen Wortsinn, sind es auch keine Spiele die jemanden umbringen. Mit diesen Spielen wird auch nicht das Töten simuliert. In der Spielszene werde sie Shooter-Spiele genannt, weil Schießsituationen nachgespielt werden. Viele erinnern sich an das Spiel Moorhuhn. Im Endeffekt könnte man auch ein solches Spiel als Killerspiel bezeichnen. Es ist die gleiche Spielmechanik und hat die gleichen Effekte.

Viele Politiker, aber auch eine Reihe von Wissenschaftlern, fordern ein Verbot von solchen Spielen, weil sie angeblich zur Nachahmung anregen. Was halten Sie aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht davon?
Wimmer: Gewalthaltige Darstellungen sind schon immer ein Thema in der Kommunikationswissenschaft gewesen. Angeblich hat ja auch Goethes Buch „Die Leiden des jungen Werther“ viele Menschen in den Selbstmord getrieben. Gewalt in Comics, Gewalt in Fernsehsendungen und jetzt haben wir Gewalt in Computerspielen. Es gibt keine einzige Studie, die so eine simple Kausalität – Computerspiele führen zu Gewalthandlungen – nachweisen kann. Ich würde vor solchen Vereinfachungen warnen.

Aber unmittelbare Effekte gibt es trotzdem?
Wimmer: Ja. Aber es ist meistens ein sehr kurzfristiger psychologischer Effekt, vergleichbar mit einem Kinobesuch. Man fühlt sich danach mitunter erregt. Aber das so etwas auf lange Sicht zu Nachahmungen führen kann, ist wie gesagt in keiner Studie nachgewiesen worden. Es sprengt auch den Rahmen der sozialwissenschaftlichen Forschung. Wenn gewalttätige Jugendliche Computerspiele gespielt haben, muss das nicht die Ursache der Gewalt sein. Diese Spiele sind generell bei Jugendlichen sehr beliebt, genauso wie die meisten Jugendlichen Fußballfans sind. Ähnlich wie das Fernsehen und andere Medien auch, können Computerspiele aber die Normen und Werte einer Gesellschaft beeinflussen. Aber das sind langfristige Effekte.

Langfristig, aber nicht folgenlos?
Wimmer: Natürlich nicht. Die Kultivierungsforschung zeigt, dass gerade im Fernsehen Gewalt und Gewaltdarstellungen überrepräsentiert sind. Die Menschen haben das Gefühl, dass unsere Gesellschaft gewalttätiger ist, als sie es wirklich ist. Bei Computerspielen gibt es einen ähnlichen Ansatz, denn die meisten Spiele basieren auf Gewalt und Action. Und das beeinflusst auch die Werte und Normen der Jugendlichen. Das kann und sollte man natürlich auch kritisch sehen.

Werden Computerspiele eigentlich zusätzlich oder alternativ zu anderen Medien genutzt?
Wimmer: Da muss man differenzieren. Die semi-professionellen LAN-Spieler, die wir befragt haben, sind durch die Bank sehr aktive Menschen. Aktiv auch in anderen Lebensbereichen. Sie sind zum Teil im Sportverein, sozial aktiv, studieren, sind politisch interessiert, lesen Tageszeitungen. Dort ist es kein entweder – oder. Es gibt aber auch Extremgruppen, wie zum Beispiel Arbeitslose, die spielen bis zu 100 Stunden in der Woche. Bei 100 Stunden gibt man natürlich andere Sachen auf. Gerade bei Jugendlichen sieht man, dass es eines der Hauptmedien ist, mit denen sie sich beschäftigen. Andere Dinge, wie Zeitung, Fernsehen oder Radio brechen dann eher weg. Es findet also ein intermediärer Wettbewerb statt. Und Computerspiele sind da sehr erfolgreich.

Bildet sich bei Onlinecomputerspielen und deren Nutzern eine ganz neue Form von gesellschaftlicher Öffentlichkeit heraus?
Wimmer: Zumindest besteht das Potenzial dazu. Es wird ja immer wieder beklagt, dass die Leute nicht mehr in der Öffentlichkeit zusammenkommen, sondern zuhause vor dem Fernseher sitzen. Mittlerweile gibt es erste Studien darüber, dass dieser Vorgang durch die Computerspieler wieder auf den Kopf gestellt wird. Weil man weiß, dass Millionen von Menschen sich in ihrer Freizeit virtuell zusammenloggen, zeugt das eher von einer starken Zivilgesellschaft. Viele Clans sind auch international vernetzt. Da wird kein Unterschied gemacht, aus welchem Land die Mitspieler kommen. Das ist eine Form von Transkulturalität. Dabei geht es ja auch nicht nur um das Spielen an sich.

Sondern?
Wimmer: Es gibt die Möglichkeit über Foren und Chats miteinander zu kommunizieren. Es wird ja nicht nur über spielinterne Sachen besprochen, über alltägliche Dinge wird auch geredet. Außerdem gibt es so etwas wie einen kreativen Mediengebrauch. Also: Was mache ich mit den Computerprogrammen? Die Spiele werden nicht nur konsumiert, sondern auch weiterentwickelt. Dadurch erwerben die Spieler technische Kompetenzen, wie Netzwerkadministration oder Programmierkenntnisse, die sie dann später in ihrem Beruf verwenden können.

Wird sich dieser Trend kreativen Mediengebrauchs verstärken oder langfristig durch kommerzielle Interessen verhindert?
Wimmer: Bei Onlinespielen sieht man eine ganz starke Kommerzialisierung. Es ist ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Da wird natürlich versucht, unabhängige Spielmodelle aufzukaufen und als Produkt anzubieten. Aber bei den Online-Shootern gibt es eine sehr starke unabhängige Gemeinschaft. Wobei die Mehrheit der Spieler ein Spiel kauft und es als Unterhaltungsprodukt nutzt. Eine große Minderheit wird es aber auch kreativ nutzen. Im Vergleich zu den meisten anderen Medien ist die Möglichkeit schon sehr groß.

Spielen Sie eigentlich selber?
Wimmer: Klar. Vielleicht so einen Abend in der Woche. Als Wissenschaftler sollte man zwar eine gewisse Distanz zu seinem Thema haben, trotzdem aber wissen, um was es geht.

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