Donna Leon

Die Flüchtlingskrise ist ein Traum für die Mafia.

Seit mittlerweile 25 Jahren lässt Donna Leon ihren Commissario Brunetti in Venedig ermitteln, eine Übersetzung ihrer Krimis ins Italienische lehnt sie jedoch ab. Im Interview spricht die Autorin über ästhetische Verbrechen, die Krimi-Flut, warum die Flüchtlingskrise nur "die Spitze eines Eisbergs" ist – und warum sie Venedig nur noch kurze Besuche abstattet.

Donna Leon

© Regine Mosimann/Diogenes Verlag

Signora Leon, Ihre Leser verbinden Sie mit Venedig, der Stadt, in der die Brunetti-Romane spielen. In Ihren Büchern wird aber immer wieder auch scharfe Kritik am „Disneyland“ Venedig geäußert, an Massentourismus und Gentrifizierung. Wie gerne leben Sie heute noch in der Lagunenstadt?
Donna Leon: Um die Wahrheit zu sagen: Ich lebe dort nicht mehr. Zweimal im Monat fahre ich hin, höchstens für zehn Tage. Zwischen Juni und September kann ich nicht in Venedig leben, denn das ist die Zeit des größten Touristenstroms. Wo ich unterkomme, ist es am schlimmsten. Wenn ich in die Stadt möchte, muss ich durch diese Gnuwanderung hindurch. Das tut mir nicht gut. Für gewöhnlich bin ich eine liebenswerte, gutmütige Person, aber das paralysiert und frustriert mich. Ich muss mir das nicht antun. Also gehe ich in die Schweiz, wo ich ein Haus in den Bergen habe, und verbringe dort den Sommer.

Gehen Sie zum Schreiben noch nach Venedig?
Leon: Nein, ich kann überall schreiben. Wenn mich jemand in einen Raum einsperren würde, könnte ich auch dort schreiben, solange ich fünf Tage am Stück Zeit habe.

Sie scheinen schwer enttäuscht von Venedig.
Leon: Lange Zeit war das ein wunderschöner Ort. Aber inzwischen sind große Teile der Stadt nicht mehr nur nicht schön, sondern ziemlich hässlich. All diese billigen bancarelle, die chinesische Figürchen und Schrott aus Glas verkaufen. Es gibt hunderte von ihnen. Entlang der Riva degli Schiavoni reiht sich ein Stand an den anderen. Auf dem Weg hinauf zur Rialtobrücke stehen portable Stände, die nachts verschwinden. Sie alle verkaufen hässliche Dinge, das ist ein ästhetisches Verbrechen. Einer der schönsten Anblicke der Stadt sind die Stufen der Rialtobrücke – aber man kann sie nicht mehr sehen. Nicht mehr von der einen und nicht mehr von der anderen Seite. Beide Seiden sind übersät mit Ständen.

Ist es denkbar, dass auch Commissario Brunetti irgendwann mit Venedig bricht?
Leon: Nein, ganz sicher nicht. Seine Eltern sind in Venedig begraben, seine Frau lebt dort, die Kinder gehen zur Schule. Er wird die Stadt nie verlassen. Aber bei Dinnerpartys, auf denen Venezianer sind, geht es immer um die bedenkliche Lage der Stadt. Nicht manchmal, nicht häufig, nicht meistens. Immer ist das Gesprächsthema, und zwar zu einem solchen Grad, dass ich es nicht mehr ertrage, darüber zu reden. Ich besitze die Freiheit zu gehen, meine Freunde nicht. Also verschwinde ich einfach und sage: „Wir sehen uns in zwei Wochen!“

Gehen Sie denn noch nach Venedig, um für Ihre Romane zu recherchieren?
Leon: Die Recherche geschieht in meinem Kopf. Das meiste, was ich über die Stadt wissen muss, weiß ich ohnehin schon. Ich lese jeden Tag online die Zeitungen, Il Gazzettino und La Nuova Venezia. Nach Venedig komme ich nur noch, um Freunde zu treffen und Klatsch zu hören. Erst letzte Woche bin ich auf Gold gestoßen: Auf dem Heimweg habe ich Freunde getroffen, und eine Bekannte von ihnen hat mich auf die Idee für ein neues Buch gebracht.

Venedig liefert also nach wie vor Inspiration für Ihre Geschichten?
Leon: Manchmal, aber eigentlich ist das reiner Zufall. Ich muss etwas aufschnappen, etwa in der Zeitung. Es braucht nur eine Kleinigkeit sein, ein wenig Hefe. Wobei, Hefe wäre ja nicht der Inhaltsstoff, sondern nur der Katalysator. Ich brauche ein Thema, das mich fasziniert. Nach all den Jahren habe ich einen Riecher dafür. Als diese Frau mir ihre Geschichte erzählte, wusste ich, dass daraus ein Buch entstehen kann.

Werden Sie trotzdem immer zurückkehren nach Venedig?
Leon: Ich liebe die Stadt. Sie ist der schönste Ort, an dem ich je war. Nach fast 50 Jahren gibt es noch immer Momente, wenn ich nachts herumlaufe und buchstäblich überwältigt bin von der Schönheit. Mit dem Vaporetto morgens um eins den Canal Grande entlangzufahren, ist magisch.

Zitiert

Ich habe nie einen Fernseher besessen.

Donna Leon

In Deutschland sind Krimis heute enorm populär, auch im TV, das ZDF beispielsweise zeigte im Jahr 2015 über 400 Krimis.
Leon: Das sagt viel über unsere Spezies, nicht wahr? Ich kann nur für meine Bücher sprechen, denn ich habe nie einen Fernseher besessen, nicht mal in einem Haus mit Fernseher gelebt. All diese Krimis, von denen ich im New Yorker lese, habe ich nie gesehen. Ich lese auch kaum Kriminalliteratur. Gerade mal Raymond Chandler, Ross Macdonald, vielleicht noch Dashiell Hammett – aber das war’s schon. Ich habe sie früher gelesen und die Muster gelernt. Vertraut bin ich nur mit meinen eigenen Romanen. Ich lese Geschichtsbücher, keine Krimis. Wenn ich Belletristik lesen will, greife ich zu Charles Dickens.

Sie sprechen von literarischen Mustern. Im neuen Brunetti-Roman „Ewige Jugend“ liegt das Verbrechen, um das es geht, 15 Jahre zurück. Ist das eines jener Krimi-Muster, die Sie Ihren Vorbildern entliehen haben?
Leon: Ja, das habe ich bei Ross Macdonald entdeckt. Er ist einer der Schriftsteller, die ich am meisten verehre. An der Uni habe ich einige seiner Bücher sehr sorgfältig gelesen – als Studentin, nicht nur als Leserin. Macdonald verwendet genau dieses Stilmittel: Ein Verbrechen muss aufgeklärt werden, dessen Ursprünge viele Jahre zurückliegen. Ich habe mich gefragt, ob ich das auch hinbekomme. Denn in so einem Fall des chronologischen „Aufeinanderstapelns“ muss nicht nur alles zur rechten Zeit geschehen, die Menschen müssen sich auch im richtigen Moment daran erinnern. So ist es in „Ewige Jugend“: Brunetti muss quasi in der Zeit zurückreisen und herausfinden, ob überhaupt noch jemand lebt, der Zeuge des Verbrechens geworden ist. Ich fand das interessant und hatte viel Spaß beim Schreiben. Naja, eher Vergnügen. Trotzdem ist es ein sehr, sehr düsteres Buch geworden.

Was halten Sie persönlich von der Flut an Krimis?
Leon: Ich finde das erschreckend – und jeder gesunde Mensch muss das erschreckend finden. Dass die eigene Spezies einen Großteil ihrer Freizeit damit verbringt, anderen Mitgliedern der Gattung dabei zuzuschauen, wie sie sich gegenseitig töten, quälen oder vergewaltigen: Das ist ein armseliger Kommentar zur menschlichen Natur.

Bereitet Ihnen das Sorgen?
Leon: Ich bin nicht in der Position, anderen Menschen vorzuschreiben, was sie mit ihrer Freizeit oder ihrem Leben anstellen sollen. Ich kümmere mich um mein Leben, andere Leute um ihres. It’s none of my business.

Es heißt, Sie würden sich nicht sonderlich für die Verfilmungen Ihrer eigenen Bücher interessieren. Warum eigentlich nicht?
Leon: Ich sehe sie mir nicht an, weil sie zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit meinen Büchern haben dürften, aber natürlich nicht deren 1:1-Umsetzung sind. Ich bin in keiner Weise verantwortlich für sie und habe das auch dem Produzenten von Anfang an gesagt: Wir beackern nicht dasselbe Feld.

Warum sind Krimis überhaupt so erfolgreich?
Leon: Darüber habe ich noch nie nachgedacht, aber es könnte zwei Ursachen haben: Wahrscheinlich lesen viele Leute Krimis, weil sie ihnen das liefern, was das Leben nicht bietet: eine Lösung. Beziehungsweise eine Auflösung, nicht notwendigerweise eine Lösung. Ein böser Kerl stellt etwas an, der gute Kerl erwischt ihn und der Böse wird bestraft. Aber seit wir in Zeiten leben, in denen niemand für seine Vergehen zur Rechenschaft gezogen wird, entdecken die Leser das Spiegelbild unserer Welt.

Wie meinen Sie das?
Leon: In der Wirklichkeit sehen wir, wie die großen Fische davonkommen, wie sie nicht im Knast landen. Man muss nur nach Italien schauen: Wie viele Mafiosi gehen ins Gefängnis? Wie viele Priester im Vatikan? Wir leben in einer Zeit, in der das grundsätzliche Gefühl vorherrscht, dass Verbrechen oder Böswilligkeit nicht bestraft werden. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber viele Menschen glauben das. Und ich denke, dass Unterhaltung – wobei das Wort in diesem Zusammenhang schrecklich ist – das Ganze kurzweilig und angenehm macht. Ich halte das für grotesk, für pervers, und ja: Ich selbst leiste meinen Beitrag dazu. Aber sicherlich kann ich um Nachsicht bitten, denn zumindest sind meine Bücher nicht besonders gewalttätig. Und wenn doch einmal Gewalt dargestellt wird, ist sie bei mir von einer Aura des Grauens umgeben. Sodass der Leser die Ereignisse unwillkürlich mit Schrecken wahrnimmt, nicht mit diesem voyeuristischen Vergnügen, das manche Krimiautoren mit ihren Büchern auslösen wollen.

Im Gegensatz zum sogenannten „hard-boiled detective“ ist Ihr Held ein höflicher, zurückhaltender Mensch.
Leon: Als ich anfing zu schreiben, erschuf ich meinen Protagonisten so, wie ich ihn mögen würde. Als Mann, mit dem ich mehrere Monate Zeit verbringen könnte. Ich machte ihn zum Leser, verpasste ihm einen Sinn für Humor, ließ ihn zu einem glücklichen Menschen werden. Ich gab ihm ein unbeschwertes Leben, eine nette und kluge Ehefrau, reizende Kinder. Und ich bin sehr, sehr froh, dass ich das getan habe. Auch wenn ich nie von 25 Jahren ausgegangen bin: Wenn ich meine Lebenszeit damit verbracht hätte, über einen Mann mit Alkoholproblemen zu schreiben, der sich nicht gut kleidet und sich von schlechtem Kaffee und Hamburgern ernährt, wäre ich längst verrückt geworden. Ich wäre aus dem Fenster gesprungen.

Nach 25 Jahren sind Sie und Brunetti wie ein altes Ehepaar. Sind Sie manchmal gelangweilt oder genervt von ihm?
Leon: Nein, ich mag ihn. Ständig entdecke ich neue Seiten an ihm. Eine der Eigenschaften, die ich am meisten an ihm mag, ist die, dass er viel liest. Häufig etwas, das ich gar nicht kenne. Dann denke ich mir: „Das muss ich lesen.“ Diesmal sind es die Argonauten. Ich habe vor vielen Jahren darüber gelesen, kenne die Sage selbst aber nicht. Ich dachte mir: „Das könnte Brunetti lesen“ – also liest er es.

Hat sich Brunetti in den vergangenen 25 Jahren verändert?
Leon: Ich denke, er ist mehr und mehr niedergeschlagen von der Wirklichkeit. Seine Vision vom Leben wird düsterer – aber meine auch. Trotzdem bleibt er, genauso wie ich, eine recht fröhliche Person. Ich denke, dass die Welt zwar chaotisch ist, mein Leben aber nicht. Denn das ist sehr, sehr angenehm. Für gewöhnlich wache ich morgens ziemlich fröhlich auf und verbringe heitere Tage. Ich schreibe zwar über grausige Dinge, denke aber nicht viel über sie nach. Ähnlich geht es Brunetti.

Hat es Sie verändert, über Verbrechen zu schreiben?
Leon: Nein, überhaupt nicht. Ich begehe sie ja nicht, ich schreibe nur über sie.

Das hält die Grausamkeiten weit genug fern?
Leon: Ja. Ich habe an der Universität zwölf Jahre Literatur studiert und es rund 30 Jahre gelehrt. Ich kenne den Unterschied zwischen fiction und non-fiction. Ich schreibe fiction und lebe non-fiction. Brunetti ist nicht real, er ist nur eine Romanfigur. Selbst wenn ihn viele Leser als reale Person sehen – was mir schmeichelt.

Seit einem Vierteljahrhundert Jahren schreiben Sie jährlich einen Brunetti-Roman. Was ist seitdem gleich geblieben? Was hat sich verändert?
Leon: Es sind dieselben Personen, die mit unterschiedlichen Problemen kämpfen müssen. Jedes Jahr gebe ich ihnen etwas zu tun. Was ihren Charakter und Intellekt sowie ihre Vorurteile betrifft, bleiben sie im Prinzip dieselben. Sie wenden diese Eigenschaften nur auf unterschiedliche Situationen an.

Hat sich Ihr Arbeitsrhythmus über die Jahre verändert? Schreiben Sie schneller?
Leon: Nein, es gibt keinen Rhythmus. Ich weiß nur, dass ich meinem Verleger an jedem 1. Juni ein Manuskript vorlegen muss – und das habe ich immer getan. Manchmal schreibe ich für zwei Monate gar nicht, etwa weil ich während der Opernsaison viel reise. Nicht nur, dass ich dann nicht schreibe, ich denke noch nicht mal ans Schreiben. Erst wieder, wenn ich vor meinem Computer sitze.

Können Sie sich 25 weitere Jahre mit Brunetti vorstellen?
Leon: Dann wäre ich 98. Es kann schon sein, dass ich früher oder später genug von ihm habe. Wenn mir keine Ideen mehr kommen, höre ich auf. Denn wenn ich mich auf nichts freue und das Schreiben nicht genießen kann, gibt es keinen Grund weiterzumachen. Das wäre unredlich, und niemand würde die Romane mehr mögen.

Ihre Bücher sind in 34 Sprachen erschienen, auf Ihren Wunsch hin aber nicht auf Italienisch, um einem Starkult in Italien zu entgehen. Können Sie sich vorstellen, Ihre Meinung eines Tages zu ändern?
Leon: Nein. Gestern Abend habe ich in Hamburg mit einer Italienerin gesprochen, sie stammte aus Sardinien. Sie lebt seit Jahren hier und liest meine Romane auf Deutsch. Ich habe sie nicht gefragt, ob sie meine Bücher mag, weil mich das generell nicht interessiert. Ich habe sie gefragt: „Ist es wahr, was ich über Italien schreibe?“ Und sie sagte: „Mamma mia, es ist noch schlimmer.“ Diese Antwort reicht mir als Bestätigung.

Möchten Sie den Italienern nicht selbst verraten, was in ihrem Land im Argen liegt?
Leon: Nein, sie haben ihre eigenen Schriftsteller. Und die kennen Italien viel besser als ich und schreiben noch beißendere Dinge, als ich mich das je trauen würde. Wenn man wissen will, wie Italien tickt, sollte man Gianrico Carofiglio oder Leonardo Sciascia lesen. Mein Bild von Italien ist deutlich weniger düster, wegen meiner riesigen Liebe zu den Menschen und ihrem Land. Ich möchte nicht über Italien herziehen.

Doch bestimmt haben sich italienische Verleger schon häufiger interessiert gezeigt an einer Übersetzung.
Leon: Das kann ich mir auch vorstellen. Mein Verlag erzählt mir das aber nicht, weil ich ihnen klargemacht habe: Die Antwort lautet „nein“.

Wäre es ein Problem für Sie, wenn Ihre Bücher in 50 Jahren ins Italienische übersetzt würden?
Leon: Wenn ich tot bin, ist mir das egal. Dann geht mich das nichts mehr an. Aber erzählen Sie das nicht weiter, nicht, dass italienische Lektoren jetzt auf dumme Gedanken kommen (lacht).

Seit 1981 leben Sie in Venedig, auch vorher waren Sie schon häufig in Italien. Haben Sie je darüber nachgedacht, auf Italienisch zu schreiben?
Leon: Nein. Ich kann zwar ziemlich gut Italienisch sprechen, bin aber selten in der Lage, es schreiben zu müssen. Deshalb scheitere ich an Wörtern, die ich nicht buchstabieren kann: Wörter mit doppelten Konsonanten. Wird „fratello“ nun mit einem oder mit zwei „l“ geschrieben? Ich spreche es „fratelo“ aus, nicht „fratello“. Wegen meiner amerikanischen Aussprache mache ich keine Pause von einer Achtelsekunde auf dem doppelten „l“. Ich müsste das doppelte „l“ hören, um das Wort richtig schreiben zu können. Aber ich höre es nicht.

Sie fühlen sich in der Sprache also nicht sicher genug?
Leon: Englisch ist die einzige Sprache, in der ich schreiben kann. Ich war Uniprofessorin und habe vielleicht 50.000 Stunden meines Lebens englische Literatur gelesen. Die Muster sind in mir, ich kann im Englischen keinen grammatischen Fehler machen. Nicht, weil ich ein Genie bin, sondern weil ich der englischen Sprache50 Jahre meines Lebens gewidmet habe. Ich kann zwar nicht über Gebäude springen, aber dafür begehe ich keine Fehler im Englischen.

Sie sind in den USA aufgewachsen, leben aber schon viele Jahrzehnte in Europa. Denken Sie heute mehr als Amerikanerin oder als Europäerin?
Leon: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich eine Altlinke bin. Meine Eltern haben mir beigebracht, dass es eine Todsünde ist, die Republikaner zu wählen – und sie hatten Recht damit. Ich könnte genauso gut einen Republikaner wählen wie von einem Hochhaus springen. Sie zu wählen, ist eine Sünde, denn ich halte die meisten von ihnen für schlimme Kapitalisten. Den Beweis sehen wir im US-Wahlkampf: Wer könnte klaren Kopfes Donald Trump wählen? Welche Frau könnte das tun? Und ich bin mir sicher, dass es Millionen tun werden. Meine Erfahrungen von italienischer Politik haben mir gezeigt, dass sich dort nicht viel ändert. Die Gesichter wechseln, aber das Chaos bleibt.

Würden Sie sich als politischen Menschen bezeichnen?
Leon: Nein, überhaupt nicht. Politik interessiert mich, aber für mich ist es Blabla. Es geht nur ums Reden. Mein Interesse schwindet immer mehr, weil ich die Dinge nicht beeinflussen kann. Ich habe meinen Wohnsitz in der Schweiz und glaube, dass man dort noch etwas bewegen kann – weil es die direkte Demokratie gibt. Wenn eine Entscheidung gefällt werden muss, wie die über das bedingungslose Grundeinkommen, dann sagen sie: „Lasst uns wählen! Wie viele sind für ‚ja‘, wie viele für ’nein‘? Okay, so wird’s gemacht.“ Das funktioniert, und die Schweiz wird dafür von der ganzen Welt beneidet. Das hat auch damit zu tun, dass es in der Schweiz nicht diese ekelhafte Klasse von Berufspolitikern gibt, wie in den meisten anderen Ländern. Stattdessen gibt es Menschen, die ihr Leben ein paar Jahre lang der Politik widmen und dann zurückkehren in ihre eigentlichen Berufe. So haben es schon die Griechen gemacht – und die haben die Demokratie erfunden.

Sie haben erwähnt, dass Sie täglich Zeitungen lesen. Fühlen Sie sich gut informiert?
Leon: Wer liefert denn die Informationen? Wie du denkst, richtet sich nach den Medien, die du konsumierst. Beispiel Italien: Liest du L’Unità und Il manifesto, also die kommunistischen Zeitungen? Oder hörst du Radio Vaticana? Bekommst du die Wahrheit von diesen Medien? Die Vorstellung ist absurd. Die Leute erfahren nicht die Wahrheit. Beim Gedanken, dass Menschen durchs Fernsehen und durch Zeitungen gut informiert werden, lachen ja die Hühner.

Könnten Sie sich vorstellen, ein aktuelles Thema wie die Flüchtlingskrise ins Zentrum eines Ihrer Bücher zu stellen?
Leon: Im Moment spricht und schreibt jeder darüber. Aber es gibt noch keine Lösung, also warte ich darauf.

Worauf genau warten Sie?
Leon: Darauf, dass die Menschen sich darüber klarwerden, dass der Flüchtlingsstrom des Jahres 2016 nur die winzige Spitze eines Eisbergs ist. Heute fliehen sie vor Krieg und Bürgerunruhen. Was aber passiert in fünf oder zehn Jahren, wenn ihr halbes Land unter Wasser steht? Das wird zu Völkerwanderungen führen. Also warte ich ab, wie die Leute nun mit der Spitze des Eisbergs klarkommen. Denn das ist nichts im Vergleich zu dem, was uns erwarten wird.

Von welchen Ländern sprechen Sie?
Leon: Von Bangladesch. Das Land liegt auf Höhe des Meeresspiegels. Was passiert, wenn du dort eines Morgens aufwachst und dein Reisfeld unter Wasser steht? Was sollst du tun? Wohin kannst du gehen?

Wenn Sie solche Dinge ängstigen…
Leon: Sie ängstigen mich nicht, sie interessieren mich.

…wollen Sie dann nicht auch eine große Leserschaft darüber informieren? Ihre Leserschaft?
Leon: Gestern saß ich in Hamburg im Taxi. Der Fahrer sprach über die Probleme mit der Elbphilharmonie, mit Stuttgart 21 und dem Flughafen BER, und ich fragte: „Hat jemand mal in Betracht gezogen, dass die Mafia an diesen Projekten beteiligt sein könnte?“ Er antwortete: „Es gibt keine Mafia in Deutschland.“ Ich darauf: „Oh, das ist ja interessant. Danke sehr!“ Ich habe das Gespräch beendet, denn wenn Leute von einer Wahrheit überzeugt sind, ist es sinnlos, mit ihnen zu diskutieren.

Klingt fatalistisch.
Leon: Das ist es auch. Die Flüchtlingskrise ist einfach nur herrlich für die Mafia und die Kirche. In Italien wie wahrscheinlich auch hier. So viel illegales Geld wird damit gemacht, sich um diese Leute zu kümmern. Aber niemand möchte darüber reden. Keiner geht in die Flüchtlingsunterkünfte und sagt: „Was? Ihr habt kein fließendes Wasser hier? Aber der Staat zahlt doch täglich 50 Euro für euch. Und ihr habt auch keine Elektrizität?“ Sondern jeder denkt sich: Sie sind untergekommen, das Problem ist gelöst. Ich kann nur für Italien sprechen, wenn ich sage: Das ist ein Traum für die Mafia. Da ist Geld, das einfach so aus den Wolken segelt.

[Das Interview entstand im Juni 2016.]

Donna Leon wurde am 28. Sept. 1942 in Montclair, New Jersey, geboren. Sie studierte englische Literatur in New Jersey sowie im italienischen Perugia und Siena und hielt sich auch danach meist in Europa auf. Sie arbeitete u. a. als Reiseleiterin in mehr

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