Christian Petzold

Ich mag keine Nazis ins Bild setzen.

Christian Petzold spricht im Interview über seinen neuen Film „Phoenix“, die Zusammenarbeit mit Harun Farocki, zerschnittene Gesichtsmuskeln und warum für ihn der Nationalsozialismus kein Filmthema ist.

Christian Petzold

© Christian Schulz

Herr Petzold, mit dem kürzlich verstorbenen Filmemacher Harun Farocki verbindet Sie eine lange Geschichte. Erst war er Ihr Lehrer, später Ihr Partner beim Drehbuchschreiben. Was ist das Wichtigste, was Sie von ihm gelernt haben?
Christian Petzold: Das kann ich so nicht beantworten, weil er mein bester Freund gewesen ist. Das wäre so, als wenn man fragt: Was ist das Schönste an deinem besten Freund gewesen? – Dass er da war.
Natürlich habe ich viel von ihm gelernt. Zum Beispiel, „wie Bilder sehen“. So hieß das erste Seminar, dass ich bei ihm besucht habe. Wie soll man Bilder sehen? Das ist eine Lehre des Sehens, aber es war auch die Frage: Wie sehen die Bilder? Die Bilder, die auch die Welt sehen? – Vielleicht ist diese Doppeldeutigkeit einfach die Grundbalance, die sich durch unsere gemeinsame Arbeit hindurchgezogen hat. Dass man einerseits Mythen zerlegt, aber auch andererseits die neuen Mythen zulässt. Kino ist nicht nur eine Realisation des Blickes, sondern gleichzeitig der Ort, der die Welt sieht.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Harun Farocki verändert, als Sie nicht mehr Schüler waren?
Petzold: Kennengelernt habe ich ihn ‘86 oder ‘87 beim Fußball. Dann war ich Gasthörer an der DFFB und als ich ‘89 aufgenommen wurde, hatte ich noch zwei Seminare bei ihm. Danach habe ich Regieassistenzen bei ihm gemacht und ihm schließlich das Drehbuch zu meinem Abschlussfilm „Pilotinnen“ gegeben. Er galt ja immer als Essay-Filmer – das ist wie in der „Spiegel“-Bestsellerliste: Harun ist der Sachbuch-Bereich, ich die Belletristik. Ich fand, dass er sehr schön über Drehbücher sprach, über das Erzählen und die Exposition einer Geschichte, er hat auch sehr liebevoll über Schauspieler gesprochen. Als ich ihm mein Drehbuch gab, hatte ich total Schiss. Drei Tage hörte ich nichts von ihm, doch am Samstag war Fußball. Und da sagte er, weil in dem Drehbuch eine Krankheit auftauchte: „Dieses Drehbuch ist nicht krank, an dem können wir gemeinsam arbeiten.“

Wie gestaltete sich diese Zusammenarbeit?
Petzold: Als ich anfing, mit Harun zu arbeiten, wusste ich von der ersten Sekunde an, dass es das Glücklichste ist, was man sich vorstellen kann. Weil das einfach von vorn bis hinten Spaß war. Es war keine Magisterarbeit. Es war ein gemeinsames Gehen und Erfinden, Irrwege beschreiten und Sinnloses aneinander reihen, Spaß und Witze und Wendungen, viel wegschmeißen und dann den Kern finden. Das war 1994. 20 Jahre haben wir zusammen geschrieben.

Sie erwähnten einmal, Sie hätten sich an der Filmakademie nach Farockis Satz gerichtet, „dass die deutschen Schauspieler nicht zum Method Acting nach New York, sondern in die Schweiz fahren sollten, um sich dort die Gesichtsmuskeln durchschneiden zu lassen.“
Petzold: Das war von mir eine selbstkritische Äußerung über die Angst vor Schauspielern. Ich muss sagen, dass ich erst über die eigene Arbeit mit Schauspielern gelernt habe, wie reich und wie wenig verabscheuungswürdig sie sind, sondern wie kompliziert eine Figur ist.

Aber dieses Zitat „Gesichtsmuskeln durchschneiden“, worauf beruhte das?
Petzold: Das war ein Affront von Harun gegen diese ewigen Literaturverfilmungen, gegen diese Literaturverfilmungskörper, die Texte aufsagen und Kostüme tragen.
In Haruns Satz steckt einfach drin: Wenn ein deutscher Schauspieler Auto fährt, kann der nicht einmal das Lenkrad einschlagen, ohne mit seinem Gesicht so viel anzustellen, um zu auszudrücken: Ich arbeite hier. Er kommt nicht in diesen somnambulen Zustand, den man sonst beim Autofahren hat. Ein Amerikaner, den man beim Autofahren filmt, der macht nichts und ist dadurch anwesend, während der Deutsche viel macht und sagt: „Hallo, ich bin anwesend.“ Es ist grauenhaft, das anzugucken, weshalb man einen Moment lang Lust hat, denen die Gesichtsmuskeln durchzuschneiden – aber dann ist das Gesicht ja tot.

Zitiert

Auschwitz würde ich nie drehen, das ist eine Unverschämtheit.

Christian Petzold

Was hat es in Ihrem Film „Phoenix“ mit der Gesichtsoperation auf sich, der sich die schwer verletzte Protagonistin Nelly, eine Auschwitz-Überlebende, unterziehen muss?
Petzold: Es ist ja so: Wenn man kein Gesicht hat, ist man nicht mehr da. Und dieses Gesicht, was man ihr am Ende des Krieges macht, das ihrem alten ähnelt, ist nicht mehr ihr Gesicht. Wenn sie nicht erkannt wird, hat sie keine Identität mehr. Und wenn der Mann, der sie geliebt hat, sie nicht wiedererkennt, ist sie tot. Das ist im Grunde genommen die Grundachse des Films.

In Ihrer „Gespenster-Trilogie“ beschäftigen Sie sich mit Menschen im Zwischenraum zwischen Leben und Tod. Ist Nelly auch so ein Gespenst, auf der Suche nach der Rückkehr ins Leben?
Petzold: Eigentlich ist dieser Film das Ende der Gespenster-Trilogie. Ich habe damals das Wort „Trilogie“ ein bisschen großkotzig in die Welt geworfen, um eine Ordnung zu finden in meinem Werk. Ich weiß auch nicht, was mich da getrieben hat. Eigentlich sind die drei Gespenster-Filme „Innere Sicherheit“, „Yella“ und „Phoenix“. Der Film, der selbst „Gespenster“ heißt, ist kein Gespensterfilm.
Es geht um Menschen, die wirklich nicht mehr auf der Welt sind. Die Untergrundterroristen in „Innere Sicherheit“ sind Gespenster, die gestorbene „Yella“ ist ein Gespenst im Neoliberalismus, der die DDR überschwemmt hat. Und Nelly ist ein Gespenst, weil sie nicht einsieht, dass mit dem Holocaust auch sie gestorben ist, dass die Liebe gestorben ist.

Ist das „Gespenster“-Thema damit für Sie beendet?
Petzold: Manchmal hat man ja so einen selektiven Blick, dann liest man: „Ein LKW hat die Kurve nicht gekriegt und ist in ein Ein-Familien-Haus reingerast.“ Und dann steht in der nächsten Zeitung: „Wieder hat ein LKW die Kurve nicht gekriegt.“ Wahrscheinlich kriegt jeden Tag ein LKW die Kurve nicht, aber weil man einmal einen selektiven Blick drauf geworfen hat, fällt es einem auf.

Was meinen Sie damit?
Petzold: Dass es wahrscheinlich auch jenseits des selektiven Blicks die Gespenster im Kino gibt. Fast in jedem Film sind Gespenster, zum Beispiel Julia Roberts und Richard Gere in „Pretty Woman“. Sie ist ein Gespenst der Prostitution, er ist ein Gespenst des Kapitals und beide wollen Liebe. Beide wollen auf die Erde kommen und ein Fundament haben. Und vielleicht ist das Kino sowieso ein gespenstischer Ort, weil wir dort als Zuschauer anwesend und abwesend zugleich sind, weil es dort dunkel und hell ist und weil wir dort einsam sind und trotzdem unter Menschen. Vielleicht ist das Kino der Ort für Gespenster.

Nellys Freundin Lene, die sich um sie kümmert, ist rechtzeitig aus Deutschland abgereist und sucht nun nach Überlebenden, findet aber kaum jemanden. Welche Vorbilder gab es für die Figuren von Nelly und Lene?
Petzold: Hannah Arendt hat sich in Paris ja um diese sogenannten „displaced persons“ gekümmert, es gab Leute von verschiedenen jüdischen Organisationen, die versuchten, die Familien wieder zusammenzustellen. Es waren auch die Romane, Novellen und Erzählungen von W.G. Sebald. „Ringe des Saturns“ zum Beispiel, wo Menschen in der Gegenwart leben und irgendwie traumatisiert sind, aber nicht wissen warum. Einer kann nicht mehr auf Bahnhöfe gehen, bis sich herausstellt, dass er 1941 in einem Kindertransport nach England gekommen ist und seine Eltern nie wieder sah, weil sie umgebracht wurden. In diesem Roman tauchen oft Leute auf, die sich darum gekümmert haben, dass diese Menschen später ihre Familien wiederfinden – oder zumindest den Tod bestätigt bekommen.

Lene macht selbst eine ganz eigene Entwicklung durch, während sie Nelly begleitet.
Petzold: Mir ist immer wichtig, dass die sogenannten Nebenhandlungen nicht einfach nur der Haupthandlung dienen. Ich hasse es wie die Pest, wenn Nebenhandlungen wie Karikaturen sind, wie Stichwortgeber, die verschwinden. Insofern wollte ich unbedingt, dass es auch ein Film über Lene sein könnte, er könnte 90 Minuten von ihr handeln, dann wäre Nina Hoss die Nebenfigur. Die Geschichte ließe sich auch aus ihrer Sicht erzählen. Dadurch gibt es Aufladungen, weil zwei Geschichten sich gegenseitig durchdringen.

phoenix plakatBisher gab es in Ihren Filmen kaum Musik, in „Phoenix“ spielt sie dagegen eine große Rolle. Warum ist sie in diesem Film so wichtig geworden?
Petzold: Erstmal ganz profan geantwortet: Die Figur der Nelly ist eine Sängerin und die Erinnerungen, die sie im Lager wie in einer Rettungskapsel am Leben erhalten, bestehen aus Musik und ihrem Mann Johnny, aus Liebe und Musik. Das ist ihr Fluidum, ihr Atem. Deshalb ist die Musik so wichtig.
Später spielen sie dann Musik im Club, von Cole Porter und von Kurt Weill. Dort ist die Musik wieder da – aber Nelly ist es nicht, sie ist ein Gespenst. Das tut höllisch weh. Zu sehen: Die Musik kann jetzt weitermachen, aber ich nicht. Mich erkennt keiner, ich bin tot.

Sie verwenden Source-Musik, d.h. die Musik kommt in der Filmszene aus dem Radio oder von den Sängerinnen in der Bar…
Petzold: Ja, es gibt nur eine ‚richtige‘ Filmmusik in „Phoenix“, in einem Traum von Nelly. Erst wollte ich das nicht, aber dann dachte ich mir: Weil es ja ihr Traum ist, muss auch eine Musik da rein. Das ist ja ihre Blase, ihr Überlebenstank, da wollte ich, dass die Musik ihr gehört.

Die Figur Nelly hat Auschwitz überlegt. Gab es auch die Überlegung, Rückblenden zu inszenieren, die in Auschwitz spielen würden?
Petzold: Wir haben eine solche Szene gedreht, allerdings nicht verwendet. Diese sollte aber nicht im Lager stattfinden, sondern das war ein Todesmarsch in einem Waldgebiet. Die SS hat die Überlebenden aus dem Lager rausgeholt und dann auf einen Marsch geschickt. Wer nicht mehr gehen konnte, wurde erschossen, bis fast keiner mehr übrig war. Es gab ein Foto von diesem Todesmarsch aus dem Archiv der „Shoah Foundation“, das haben wir am ersten Drehtag nachgestellt.
Auschwitz selbst würde ich nie drehen, das ist eine Unverschämtheit.

Inwiefern?
Petzold: Wenn man etwas ins Bild rücken kann, kann man es wiederholen, dadurch relativiert man Auschwitz. Ich kann es nicht nachvollziehen, ich kann’s nicht nachbauen, ich kann’s auch nicht fiktionalisieren. Selbst den Todesmarsch fand ich anmaßend. Es sah auch richtig schlecht aus (lacht), wie all der andere Scheiß, den man in Filmen so sieht: Irgendwelche Wehrmachtstypen, die Leuten in von Neckermann gemachten Streifenanzügen in den Kopf schießen. Dafür habe ich mich richtig geschämt. Aber es war auch gut, diese Erfahrung einmal gemacht zu haben. Wie so eine Krankheit, wie Masern oder Windpocken – man hat’s einmal gehabt und kriegt es nie wieder.

Im Planet Interview-Gespräch von 2005 sagten Sie, dass der Nationalsozialismus als Thema Sie überhaupt nicht reizt. Doch nun haben Sie „Phoenix“ gedreht…
Petzold: …aber das ist kein Film über den Nationalsozialismus. Ich mag auch keine Nazis ins Bild setzen, davon gibt es in diesem Film keinen einzigen. Es gibt nur dieses Mitläufer-Kleinbürger-Dreckstum. Aber eigentlich geht es nur um die Menschen, die das Lager verlassen haben, und über die gibt es kaum Filme. Über Nazis gibt es Tausende, weil irgendwie die Faszination für Hitler wahnsinnig groß ist. Mich interessiert das bis heute nicht. Reichstag, Albert Speer geht durch lange Säle und grüßt… Da langweile ich mich schon bei der Vorstellung zu Tode, das würde ich nie bringen. Da bleibe ich bei der Aussage von 2005.

Und der Erste Weltkrieg, der sich 2014 zum hundertsten Mal jährt?
Petzold: Nein, ich finde, dass es in den 20ern und Anfang der 30er Jahre schon tolle Filme dazu gab, „Westfront 1918“ von G.W. Pabst oder „Im Westen nichts Neues“ Lewis Milestone.
Heute sieht man zum Beispiel an einem Buch wie „Schlafwandler“ von Christopher Clark, dass es so eine Restaurationsatmosphäre gibt. „Die Deutschen sind doch nicht alleine schuld, es waren auch andere schuld.“ Natürlich ist Deutschland ein ungleichzeitiges Land gewesen, es hatte eine hochmoderne Industrie, aber es waren verkrustete, wilhelminisch-preußische militaristische Staatsgebilde. Und das hat sich entladen. Jetzt so zu tun, als ob wir nur so reingerutscht sind, das gefällt mir nicht. Und dass dieselben Typen, die am Ersten Weltkrieg beteiligt sind, die Freikorps gebildet haben, die zur SA, zur SS und zum Nationalsozialismus geführt haben – das wird wahrscheinlich die nächste Restaurationsgeschichte sein: „Uns blieb nichts anderes übrig, als den Zweiten Weltkrieg anzufangen, sonst wäre ja die ganze Welt bolschewistisch geworden.“ So etwas finde ich ganz furchtbar, diese Versuche, Deutschland aus der Schuld zu lassen. Ich bin froh, dass wir Weltmeister geworden sind – das reicht doch.

Zum Schluss: Werden Sie noch weitere Geschichten mit Nina Hoss und Ronald Zehrfeld als Fast-Liebespaar erzählen?
Petzold: Ich weiß nicht, man müsste jetzt mal erzählen, wie es bei den beiden so richtig klappt (lacht). Nein, bei „Barbara“ klappt es ja – aber wir sehen nicht wie, wir sehen nur, dass es die Möglichkeit gibt. In „Phoenix“ sehen wir, dass es einmal geklappt hat. Vielleicht müsste man mal filmen, dass es ihnen wirklich ganz gut geht und dass sie sich streiten, weil sie Kochschinken bestellt hat und er nur Rotschinken mitgebracht hat. Man müsste eine Alltagsgeschichte machen, vielleicht eine Komödie.

Würde Sie das denn interessieren?
Petzold: Das würde ich total gern machen, aber eine Komödie ist das Schwerste, was es auf der Welt gibt. Das kann man nicht allein schreiben und auch nicht zu zweit. Alle guten Komödien werden von Gruppen geschrieben und sie müssen auch hundsgemein sein. Das bin ich ja nicht.

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.