Alexej Wenediktow

Für viele gehört die Pressefreiheit nicht zu den Grundbedürfnissen.

Alexej Wenediktow von Echo Moskau über die Mediensituation in Russland, uninteressierte Bürger, Journalisten als Personal der Macht, Putins "Bulldozer-Qualität", Pressekonferenzen im Kreml und die Rolle des Internet

Alexej Wenediktow

© Echo Moskau

Herr Wenediktow, sollen wir die Tür schließen?
Wenediktow: Nein, die lassen Sie lieber offen. Weil wenn die Tür zu ist, sind die Redaktionskollegen immer ganz besonders neugierig, was hinter ihr passiert.

Die westlichen Medien schauen in letzter Zeit sehr besorgt auf die russische Medienlandschaft, die immer mehr vom Kreml kontrolliert wird. Können Sie uns sagen, wie viele unabhängige Medien in Russland verblieben sind?
Wenediktow: Nein, das kann ich nicht, ich führe da keine Liste. Ich beschäftige mich mit meinem Sender, unserer Internetseite, unserer Fernsehsendung – Alles was ich Ihnen sagen kann, ist Folgendes: Bis zu dem Zeitpunkt, als Putin Präsident wurde, gab es in der russischen Föderation landesweit sechs Fernsehsender, vier staatliche und zwei private. Heute sind es sechs Staatssender. Das ist die Statistik. Und in den letzten acht Jahren sind bei all den Gesetzen, die die Massenmedien berühren, 43 Zusätze eingeführt worden. Beim Gesetz für die Massenmedien, für Werbung, Wahlen, beim Gesetz zum Extremismus…

…aber kein Zusatz kam der Pressefreiheit zu gute.
Wenediktow: Nein, alle 43 Änderungen waren repressiv. Des weiteren: In der Regierungszeit Putins wurden 13 Journalisten ermordet – nicht ein Fall ist bis zum Ende aufgeklärt worden. Es kam fast nie zu einer Gerichtsverhandlung, kein Fall ist schlussendlich aufgedeckt worden. Und sogar da, wo es Gerichtsverhandlungen gab, wurden die Auftraggeber nicht gefunden. Das ist die Statistik.

Heute gelten insbesondere die „Nowaja Gaseta“, „Echo Moskau“ und die Internetseite „Nowoje Wremja“ als unabhängige Medien. Sind das die einzigen?
Wenediktow: Ich denke, dass lässt sich nicht ganz so einfach sagen. Die Unabhängigkeit eines Mediums hängt von den Eigentümern ab. Wir wissen, dass die Regierung auf dem Markt der elektronischen Massenmedien, also Radio und Fernsehen, ein Kontroll-Paket hält. Und ich denke, insgesamt kontrolliert die Regierung durch staatliche Konzerne und durch ihre Gouverneure den Markt der elektronischen Medien zu etwa 85 Prozent. Die restlichen 15 Prozent sind städtische Radiostationen, kleine Fernsehsender, wie zum Beispiel in Tomsk, die auch zu den unabhängigen Medien zählen, was ihre Redaktionspolitik anbelangt.
Auf dem Zeitungsmarkt ist die Vielfalt größer, wobei die Situation auf dem Werbemarkt wiederum so aussieht, dass die Zeitungen – insbesondere in den russischen Provinzen – auf die finanzielle Hilfe des Gouverneurs oder des Bürgermeisters angewiesen sind. Und auf diesem Weg, mit Hilfe der Gouverneure und Bürgermeister, stellt die Regierung sie unter Kontrolle.
Also, der Trend ist negativ. Aber eine konkrete Zahl kann ich Ihnen nicht nennen.

Wie kann eigentlich Echo Moskau unabhängig sein, wenn 66 Prozent der Anteile am Sender dem Staatskonzern Gasprom gehören?
Wenediktow: Erstens: Was die Redaktionspolitik betrifft sind wir absolut unabhängig. Ja, 66 Prozent gehören Gasprom, aber im Vorstand des Senders sind nur vier von neun Personen Vertreter von Gasprom. Dort sitzen Journalisten, Vertreter von Gasprom und unabhängige Direktoren. Und Gasprom hat im Vorstand keine Mehrheit.
Zweitens: Für die Redaktionspolitik ist gemäß der Satzung des Senders ausschließlich der Chefredakteur verantwortlich – nicht die Aktionäre, nicht der Vorstand, nicht der Generaldirektor – nur der Chefredakteur. Der wird von den Journalisten gewählt und vom Vorstand bestätigt. Das sind die zwei Schlüssel.

Es gibt also eine interne Regelung bei Echo Moskau…
Wenediktow: …die es mir ermöglicht, die Redaktionspolitik so zu führen, wie ich es für notwendig halte.

Wie schnell könnte Gasprom die Redaktion austauschen?
Wenediktow: Das können die nicht, weil für die Veränderung der Satzung 75 Prozent der Stimmen benötigt werden.

Aber in Russland wurde auch schon ein Fernsehsender wie NTW ohne Weiteres vom Staat übernommen…
Wenediktow: Richtig.

Sie glauben nicht, dass das gleiche Schicksal auch Echo Moskau ereilen könnte?
Wenediktow: Das kann passieren, aber dafür müssten die Aktionäre das Gesetz verletzen, das Gesetz für Massenmedien oder das Gesetz für Aktiengesellschaften. Doch in den letzten sieben Jahren ist so etwas nicht geschehen, es gab nicht einmal Versuche.

Aber gesetzt den Fall, welche Möglichkeiten haben Sie, sich in so einer Situation zu widersetzen?
Wenediktow: Also, erstens sind wir Aktionäre, wir haben 34 Prozent der Stimmen, ein blockierendes Aktien-Paket. Und wir werden alle Entscheidungen blockieren, die wir nicht für richtig halten. Zweitens können wir können uns auf das Gesetz für Massenmedien berufen. Es muss alles im Rahmen des Gesetzes geschehen.
Wenn Sie mir nahe legen, das Gesetz zu verletzen – das werde ich nicht tun. Aber wenn jemand hierher kommt, zum Beispiel ein Inspektor der Gesundheitsbehörde, der sagt: „Ich habe gesehen, wie bei Ihnen eine Mücke durch die Redaktion geflogen ist und deswegen schließe ich ihre Radiostation“ – dann kann er das machen.
Schauen Sie, (kramt in einem Papierberg auf seinem Schreibtisch, holt einen zweiseitigen Brief hervor) erst gestern habe ich diesen Brief hier bekommen. In dem steht, dass es eine Überprüfung unseres Senders geben wird, durch die staatliche Behörde „Rosochrankultura“ („Föderative Aufsichtsbehörde für die Einhaltung der Gesetze im Bereich der Massenkommunikation und den Schutz des russischen Kulturerbes“) um festzustellen, ob die Tätigkeit Echo Moskaus dem Gesetz der russischen Föderation entspricht.

Ist das ein gewöhnlicher Vorgang?
Wenediktow: Nein, das ist das erste Mal in den acht Jahren, die ich jetzt Chefredakteur bin – am Vorabend der Wahlen. Näheres weiß ich noch nicht. Von mir werden 18 Dokumente gefordert, die habe ich vorgelegt.

Aber noch mal die Frage: Was werden Sie tun, wenn Echo Moskau plötzlich geschlossen wird?
Wenediktow: Ich glaube nicht, dass man uns schließen will, ich denke nur, dass sie die Redaktionspolitik ändern wollen. Echo Moskau schließen – aus welchem Grund? Ein Unternehmen, das Gewinn erwirtschaftet; wir zahlen die Dividende an Gasprom. Also, warum schließen? Wegen Verletzung der Gesetzes? Dann muss das belegt werden. Wenn die wollen, werden sie solche Belege zusammenstellen.

Aber auch die Änderung der Redaktionspolitik würde einer Schließung gleichkommen…
Wenediktow: Da geht es um die Frage, wie man mit dem Chefredakteur verfährt. Was kann man mit ihm machen? Man kann ihn kaufen, damit er die Redaktionspolitik ändert. Aber das wird offensichtlich sein. Wenn man mich kaufen würde und ich anfangen würde, bestimmte Journalisten fortzujagen und dafür andere zu holen – das würde sofort auffallen und mein Ruf wäre ruiniert.

Und wenn man Sie auswechseln will?
Wenediktow: Das müsste dann in Einklang mit dem Gesetz geschehen… Also, mich kann man nur fortbewegen, wenn man mich kaufen wöllte oder in dem man mich gesetzesentsprechend zur Seite schiebt. Oder mit Mord. Gegen Mord kann ich nichts ausrichten, kaufen funktioniert bei mir nicht, egal wer das sein sollte – und um mich im Einklang mit dem Gesetz wegzubewegen, muss man mich aus dem Dienst entlassen und dafür bedarf es einer Entscheidung des Vorstands.
Allerdings ist es so, dass meine Amtszeit bei Echo Moskau erneut am gleichen Tag ausläuft wie die von Wladimir Putin. Aber ich bereite mich auf eine dritte Amtszeit vor, weil unsere Satzung – und da unterscheidet sie sich von der russischen Verfassung – dem Chefredakteur die Möglichkeit einer dritten Amtszeit einräumt.

Da haben Sie also mehr Glück gehabt.
Wenediktow: Nun, ich habe mir Mühe gegeben. Ich habe die Satzung selbst verfasst.

Glauben Sie, dass im Vorfeld der anstehenden Wahlen in Russland die Pressefreiheit weiter eingeschränkt wird?
Wenediktow: Ich denke zumindest, dass wir mehr Probleme bekommen werden. Anders als bei den letzten Wahlen existiert heute ein Gesetz zur Extremismus-Bekämpfung und dieses Gesetz erlaubt es, jeden beliebigen Bürger der Russischen Föderation für praktisch jede beliebige Tat des Extremismus zu beschuldigen. Jeden beliebigen, alle 142 Millionen Menschen. Deswegen: Wenn wir zum Beispiel eine Person zu Wort kommen lassen, wie Herrn Limonov oder Herrn Kasjanov (zwei der bekanntesten russischen Oppositions-Politiker; Anm. d. Red.), dann können sie die des Extremismus bezichtigen, verantwortlich dafür ist dann Echo Moskau, kann ebenfalls des Extremismus beschuldigt werden und könnte deswegen seine Lizenz verlieren. Und dann war’s das.

Dann war’s das?
Wenediktow: Ja, das war’s, die Lizenz wird entzogen, die Leute schalten den Sender einfach ab. Da landet dann ein Brief beim Fernsehturm Ostankino, „Gemäß der Entscheidung der Kommission XY jenen Datums wurde Echo Moskau die Lizenz entzogen. Wir bitten sie den Sender abzuschalten.“ Das passiert ganz ohne unsere Beteiligung.

Was glauben Sie, würden Ihre Hörer in so einer Situation machen?
Wenediktow: Die werden gar nichts tun. Sie werden sich darüber aufregen, zu Hause.

Sie werden nicht auf die Straße gehen?
Wenediktow: Das glaube ich nicht.

Warum nicht? In Deutschland sind vor fünf Jahren sogar Menschen auf die Straße gegangen um gegen die Schließung eines – völlig unpolitischen – Musikfernsehsenders zu protestieren.
Wenediktow: Das haben wir gehabt als man NTW abgeschaltet hat. Ein Sender, der von Millionen geliebt und geguckt wurde – und auf die Straße gegangen sind höchstens 10.000.

Warum sind die Leute so uninteressiert?
Wenediktow: Also, für mich ist das ganz einfach: Die Menschen in Russland haben noch nicht verstanden, dass die Freiheit, Informationen zu bekommen genauso wichtig ist, wie den Arbeitslohn zu bekommen. Sie verbinden das nicht miteinander, das ist für sie nichts zwingend Notwendiges. Das gehört für die Mehrheit der Leute, die Echo Moskau hören, die NTW geschaut haben usw. nicht zu den Grundbedürfnissen. Selbst wenn man bei uns jetzt das Internet abschalten würde, wo sich die Jugendlichen in Chats und auf Pornoseiten vergnügen, wird niemand auf die Straße gehen. Gut vielleicht 3000, 5000 Demonstranten – Polizisten gibt es in Moskau aber auf jeden Fall mehr.

Macht es Sie nicht traurig, dass in Russland nur wenig Leute für die Pressefreiheit auf die Straße gehen?
Wenediktow: Nein, ich bin nicht traurig, weil ich die Gründe kenne. Es liegt nicht daran, dass die Leute Angst haben oder eingeschüchtert sind. Sondern für viele gehört die Pressefreiheit nicht zu den unabdingbaren Grundbedürfnissen. Und sie haben auch nicht vor, dafür etwas zu riskieren. Gut, 3000 machen das vielleicht, 5000, vielleicht auch 10.000. Aber wie gesagt, Polizisten gibt es mehr.

In den westlichen Medien heißt es oft, Echo Moskau würde nicht geschlossen, um dem Westen gegenüber Pressefreiheit zu demonstrieren. Sind Sie mit dieser Version einverstanden?
Wenediktow: Das ist sicher einer der Bestandteile der ganzen Geschichte. Es ist nicht der einzige Grund, aber zweifellos werden wir oft von der Regierung wie ein Schaufenster der Freiheit in Russland hingestellt. Was aber für mich nicht heißt, dass wir den Sender freiwillig schließen sollten, damit dieses Schaufenster nicht länger existiert.
Es gibt allerdings auch einen anderen, meiner Meinung nach wichtigeren Bestandteil: Wir sind für die Regierung – ja, auch für die Regierung – eine wichtige Informationsquelle. Ich weiß von vielen bestätigten Fällen, wo Leute im Kreml Neuigkeiten allein aus unseren Sendungen erfahren haben. Zum Beispiel die Ereignisse in Kondopoga (Karelien) wo im September 2006 Pogrome gegen Kaukasier begannen – niemand außer uns hat darüber berichtet. Drei Tage lang waren wir die einzigen, die diese Nachrichten gesendet haben. Am dritten Tag bekam ich einen Anruf aus dem Kreml und wurde gefragt: „Was passiert da?“
Die Leute im Kreml haben auch von uns erfahren, als Andrej Koslow getötet wurde, der stellvertretende Vorsitzende der Zentralbank. Das heißt, auch in diesem Sinn sind wir der Regierung durchaus nützlich.

Wenn es nur so wenig unabhängige Medien in Russland gibt, was tun dann eigentlich all die anderen Journalisten?
Wenediktow: Das ist nicht meine Angelegenheit… Ich habe für mich schon lange verstanden, dass meine Aufgabe nicht die Verantwortung vor ganz Russland ist, sondern allein die Verantwortung vor den Hörern Echo Moskaus. Und die anderen Journalisten können machen, was sie wollen.

Trotzdem die Frage: Warum beschäftigen sich so viele Journalisten nicht mit wahrheitsgemäßer Berichterstattung?
Wenediktow: Einige von ihnen sehen die Wahrheit etwas anders und einige von ihnen haben Angst davor, so wie ich dasitzen zu müssen und darüber zu grübeln, ob die Redaktion morgen geschlossen wird. Da hängen ja Arbeitsplätze dran, Familien…
Einige sind auch fest davon überzeugt davon, dass Journalisten dazu da sind, den Mächtigen zu helfen, einen bedeutenden Staat aufzubauen. Da gibt es Zyniker, Idioten – aber beides ist aus meiner Sicht unprofessionell. Und deswegen interessiert es mich nicht. Das ist ein anderer Beruf, von Propaganda verstehe ich nichts.

Wladimir Putin hat Ihnen zum Geburtstag gratuliert.
Wenediktow: Ja, vor zwei Jahren, als ich 50 wurde, hat er mir ein Telegramm geschickt. Er hat geschrieben, dass wir die best-informiertesten sind, dass wir uns viel Respekt erarbeitet haben, dank unserer Redaktionspolitik… Ja, da sind wir mit Putin tatsächlich einer Meinung.

Aber man fragt sich schon, warum er ausgerechnet Ihnen gratuliert.
Wenediktow: Das müssen Sie Wladimir Wladimirowitsch fragen. Das müssen Sie denjenigen fragen, der das Geschenk schenkt und nicht den, der es bekommt.

Werden Sie Putin zum Geburtstag gratulieren?
Wenediktow: Warum nicht? Sobald er nicht mehr Präsident ist, sobald er ein Privatmensch ist – natürlich werde ich ihm dann ein Telegramm schicken und ihm gratulieren.

Zitiert

Wladimir Wladimirowitsch Putin, soweit ich ihn persönlich kenne, ist ein ziemlich pedantischer und konsequenter Mensch.

Alexej Wenediktow

Er wird 2008 also nicht mehr Präsident sein?
Wenediktow: Nein, er wird nicht mehr Präsident sein – es sei denn es passiert wirklich etwas ganz Außergewöhnliches.
Nein, das Präsidentenamt wird er dann nicht mehr inne haben. Vielleicht wird er noch nicht Privatmensch sein, jedoch nicht Präsident.

Putin zeigt sich in der Presse mit nacktem Oberkörper oder auch beim Bowling mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Iwanow (im September 2007). Wie interpretieren Sie das, Putins Medienstrategie?
Wenediktow: Das ist keine Strategie. Er zeigt einfach, dass er machen kann, was er will. Dass er frei ist.
Natürlich sind das speziell arrangierte Foto-Sessions. Aber auf den Bildern zeigt er, dass ihm niemand Anweisungen gibt, dass er absolut frei handelt, wie er es für richtig hält. Das demonstriert er jetzt – früher hat er das nicht getan.

Und was ist der Grund für diese, sagen wir, ‚neue Freizügigkeit’?
Wenediktow: Für mich hängt das jetzt vollends damit zusammen, dass unsere Bomber inzwischen auf der ganzen Welt herumfliegen. Wir können frei entscheiden. Das ist so ein allgemeines Bild, das sehr gut zu all den anderen Handlungen passt. Wir können frei Waffen verkaufen, wir können unsere strategischen Bomber einsetzen wo wir wollen, wir können frei in Abchasien Eigentum erwerben und wir haben die Freiheit mit nacktem Oberkörper herumzulaufen. Mich überrascht das gar nicht, das ist ein Puzzle, das sich wunderbar zusammenfügt. Wir sind mächtig und frei, das ist sein Verständnis von Einheit.
Seine Lieblingsformulierung ist ja: „Russland ist von den Knien wieder aufgestanden“. Das ist seine Auffassung, inoffiziell und offiziell. So gibt er sich persönlich und in seiner Politik. Für mich ist das alles logisch. Superlogisch.
Das sind ja alles keine zufälligen, voneinander unabhängigen Erscheinungen in den Medien, sondern sie hängen zusammen. Zum Beispiel mit dem Verhältnis zu den USA: Wo es bisher nicht möglich war, sich mit den Amerikanern zu einigen, wird er – sobald die ihn als gleichwertigen Partner akzeptieren – sich sofort mit denen einigen. Sofort.

Glauben Sie denn, dass Putin über einen strikten Plan, eine Strategie verfügt, zu der die konsequente Einschränkung der Massenmedien gehört…
Wenediktow: Also, Wladimir Wladimirowitsch, soweit ich ihn persönlich kenne, ist ein ziemlich pedantischer und konsequenter Mensch. Sowohl was die Dinge betrifft, die er liebt, als auch die, die er nicht liebt.
Wir hatten mal ein Vier-Augen-Gespräch, das war am Anfang seiner Präsidentschaft, in dem er mir erklärt hat, dass er Journalisten wie ein Instrument begreift – und nicht wie eine Institution. Das ist jetzt meine Formulierung, aber so habe ich ihn verstanden. Seiner Auffassung nach werden die Journalisten von denen manipuliert, denen die Massenmedien gehören, oder von der Regierung. D.h. hinter den Journalisten, hinter den Artikeln, den Fernsehsendungen stehen ganz bestimmte Interessen. So versteht er das. Und wenn sich dieses Instrument in guten Händen befindet – wunderbar. Wenn es sich aber in ‚schlechten’ Händen befindet, wenn es destruktiv wird, bedeutet das, dass man die Hände austauschen muss. Das ist sein Medienverständnis, das war schon immer so und das hat sich nicht verändert.
Als er NTW geschlossen hat, hat er gesagt: „Schaut her, hinter dem Sender standen Oligarchen“. Oder warum gibt es jetzt diesen Druck seitens der englischen Presse, im Fall Litwinenko? Für Putin steckt da die englische Regierung dahinter. Hinter der gesamten englischen Presse. Auch wenn es schwierig wird, sich vorzustellen, wie der englische Außenminister dem Chefredakteur der „Sun“ irgendwas diktiert – das ist unmöglich! Aber Putin glaubt das. So sieht er die Welt.
Und weil er ein so kleinlich erzogener Mensch ist, ist er sehr konsequent in seinen Handlungen: in seinem Verhältnis zur Presse, in der Verfolgung derjenigen reichen Leute, die ihm nicht loyal scheinen – er ist da sehr konsequent. Das ist ein großes Minus – und ein großes Plus, für ihn und seine Ziele. In dem Sinn handelt er also sehr effektiv. Auf kurze Sicht jedenfalls.

Und auf lange Sicht?
Wenediktow: Darüber denkt er offenbar nicht nach.

Er hat seinen langfristigen Plan nie erklärt…
Wenediktow: Er sieht das auch nicht so, dass er irgendetwas erklären muss. Er macht und denkt sich: „Ich habe Recht. Und die Menschen werden sehen, dass ich Recht habe. Schließlich steht unsere Flagge jetzt schon auf dem Grund des Ozeans, unsere Flagge ist im Kosmos gewesen, die Kirchen sind vereint – das sind die Resultate meiner Tätigkeit.“ Er ist ein sehr konsequenter, sehr kleinlicher Mensch. Mit Bulldozer-Qualität.

Wie ist eigentlich Putins Verhältnis zur Kirche in Russland?
Wenediktow: Erstens – auch wenn man in seine Seele nicht hineingucken kann – nach allem, was man weiß, ist aus ihm ein wirklich religiöser Junggläubiger geworden. Bei all dem Zynismus – den jeder beliebiger Politiker hat – ist er trotzdem religiös. Nach der atheistischen Sowjetunion, als Offizier des Komitees für Staatssicherheit hat sich für ihn heute eine neue Situation ergeben. Vielleicht steckt da auch etwas Privates dahinter… Zweitens sieht er in der Kirche ein sehr nützliches Instrument, ein Symbol. Überhaupt ist der Mensch Wladimir Wladimirowitsch Putin ein Symbol. Er achtet auf Gesten, Phrasen, Symbole – und reagiert auf sie.
Und die Kirche ist für ihn ein Symbol des wiederauferstandenen Russland. Eine wiederauflebende Kirche ist für ihn ein Symbol für ein widerstandsfähiges Russland. Deswegen stand für ihn die Vereinigung der Kirchen (Wiedereingliederung der russisch-orthodoxen Auslandskirche unter das Moskauer Patriarchat, Anm. d. Red.) auch an erster Stelle. Wenn Sie denken, an erster Stelle stand für ihn Chodorkowski – Nein, oberste Priorität hatte für Putin die Vereinigung der Kirchen. Weil das für ihn ein Symbol für das Erstarken des Landes ist. Und anders als die übrigen Institutionen – also, man kann behaupten, dass die Polizei korrupt ist, die Gerichte genauso, die Duma schwer verständlich usw. – ist die Kirche geistlich. Kirche, das bedeutet Glocken, der Patriarch, das ist geistlich, das ist Kultur, das ist die russische Sprache – das alles ihm wichtig. Das ist für Putin, wie er es formuliert hat, die „russische Welt“ oder das „Zentrum der russischen Welt“. Nicht nur im Inneren Russlands, sondern das Zentrum der russischen Welt überhaupt.
Die russische Welt, das ist übrigens sein Projekt. Und im Zentrum der russischen Welt, die er bauen will, steht die Kirche. Ich verstehe ihn da sehr gut.

Aber wenn Putin mit seiner Politik gegen Menschenrechte verstößt, warum sagt dann die Kirche nichts dagegen?
Wenediktow: Weil die Kirche erst vor kurzem einen Festgottesdienst abgehalten hat, anlässlich der Gründung der russischen Atomstreitkräfte vor 60 Jahren. Und da sieht man, dass die Kirche in Russland – seit Peter dem Großen – eine absolut staatliche Institution ist. Eine nicht-religiös organisierte Hierarchie, eine Institution des Staats, schon seit der Zeit seines Vaters Zar Alexej I., als der Patriarch Nikon entmachtet wurde.
Also, das ist in Wirklichkeit sehr wichtig, die Kirche ist ein Teil der Regierung. Und wenn das ganze Land sich daran erfreut, dass unsere Atombomber aufgestiegen sind, dann freut sich damit auch die Kirche. Dann freut sich die Gemeinde – das ist doch ganz normal, das ist logisch.

Kommen wir noch mal zur Arbeit der russischen Journalisten zurück. Eine Frage zu den Pressekonferenzen im Kreml…
Wenediktow: Wissen Sie, da gehen wir gar nicht hin. Wozu auch? Wir sehen das doch alles im Fernsehen.

Gibt man Ihnen auf den Pressekonferenzen im Kreml nicht die Möglichkeit, Fragen zu stellen?
Wenediktow: Doch, das schon. Aber wenn man eine Frage hat, ist es wichtig, dass man auch eine Antwort bekommt. Auf einer Pressekonferenz antwortet derjenige was er will und im Anschluss kommt sofort jemand anderes mit einer Frage dran, aus einer anderen Region. In Russland ist das so. Die russischen Kollegen unterstützen sich gegenseitig nicht. Deswegen: wenn Sie eine Frage stellen, bekommen Sie eine kurze Antwort, vielleicht nicht so, wie sie es sich erhofft hatten, aber danach geht es gleich weiter. Die Möglichkeit, ein zweites Mal zu fragen, gibt man Ihnen nicht. Das hat keinen Sinn.
Ein Interview mit Putin würden wir machen, aber wir bekommen keins. Und eine Frage auf einer Pressekonferenz – natürlich gibt man uns diese Möglichkeit. Der Presse-Sekretär Putins Alexej Gromow fragt mich auch immer: Warum kommst du nicht zur Pressekonferenz?

Man kann auf einer Pressekonferenz also jede beliebige Frage stellen?
Wenediktow: Ich gebe Ihnen ein einfaches Beispiel, ich könnte ja fragen: Wer hat Anna Politkowskaja ermordet? – Antwort: „Die Sache wird untersucht.“ Nächste Frage bitte: „Wie geht es Ihrem Hund?“ – Und ich stehe dann da wie ein Idiot. Weil ich die Frage nicht zu Ende stellen kann. Das ist sinnlos.

Und das letzte Interview?
Wenediktow: Wladimir Wladimirowitsch Putin hat einem russischen Journalisten seit sieben Jahren kein Interview gegeben. Entweder gibt er mehreren Journalisten ein Interview, also mehreren Medien gleichzeitig… Wobei, er hat glaube ich der „Iswestija“ mal eins gegeben, aber auch das war kein Interview, sondern Putin hatte sich mit dem Redaktionskollegium zu einem Gespräch getroffen und erst danach hat man sich entschieden, das abzudrucken.
Er gibt ausländischen Journalisten Interviews, russischen nicht. Oder drei Fernsehsender machen gleichzeitig ein Interview mit ihm, oder er unterhält sich mit dem Volk, oder es gibt die großen Pressekonferenzen. – Aber kein Interview. Dieses Genre gibt es bei Wladimir Wladimirowitsch nicht, zumindest nicht in den russischen Massenmedien. Vielleicht gab es zwei, drei Interviews in den letzten acht Jahren, aber das ist auch schon alles.

Und Live-Übertragungen mit Putin im Fernsehen?
Wenediktow: Die gibt es. Die Unterhaltung mit dem Volk ist live, die Pressekonferenzen sind live…

Aber es heißt, dass die Fragen bei den Pressekonferenzen im Kreml vorher mit dem Regierungsstab abgesprochen sein müssen.
Wenediktow: Nein, das ist nicht wahr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Journalisten, die zur Pressekonferenz gehen, einen Zettel mit Fragen in die Hand gedrückt bekommen. So ist das nicht.
Es gibt vielleicht eine Gruppe von Journalisten, die darum gebeten wird, die ein oder andere Frage zu stellen. Aber da sitzen 300 bis 400 Journalisten auf einer Pressekonferenz, die dauert zweieinhalb Stunden – und wir sehen auch, dass eine Frage gestellt wird, die völlig unerwartet ist. Also, dass alle Fragen abgesprochen sind, davon weiß ich nichts, mir ist so etwas nicht bekannt. Aber wir gehen auch nicht hin.
Wie gesagt: Bei einer Gruppe von Journalisten, die im Pool mit Putin arbeitet, da kann es tatsächlich sein, dass man die bittet, eine bestimmte Frage zu stellen. Zum Beispiel in der Art: „Wir haben gerade mit Indonesien so einen Vertrag abgeschlossen, frag ihn mal danach.“ Aber auf diesen Pressekonferenzen sehen wir ja auch, dass viele ausländische Journalisten Fragen stellen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass man Journalisten von CNN oder der Süddeutschen Zeitung Fragen gibt, die sie stellen sollen. Das glaube ich nicht. Unmöglich, das würde sofort bekannt werden.

Ausländische Journalisten können aber nicht so oft…
Wenediktow: Ausländische Journalisten können Präsident Putin öfter eine Frage stellen als russische. Daran besteht kein Zweifel. Vor jedem beliebigem Besuch Putins im Ausland, und die gibt es sehr oft, bekommen die Journalisten einen Zugang zum Präsidenten. Diesen Zugang haben russische Journalisten nicht.
Ich glaube, dass Putin ausländische Journalisten bevorzugt.

Aus welchem Grund?
Wenediktow: Das ist seine Sichtweise, die Journalisten hier sind seine Bediensteten, das Personal der Macht. Er denkt: „Das ist mein Instrument, warum sollte ich mit meinem Instrument….. Welchen Sinn macht das? Da wende ich mich lieber direkt an das Volk.“

Bei der derzeitigen Entwicklung, wo sehen Sie Russland in der Zukunft? Wird aus Russland ein asiatisches Land?
Wenediktow: Nein, ich denke nicht, dass wir ein asiatisches Land werden, von der Psychologie her nicht.
Aber es gibt auf jeden Fall unterschiedliche ‚Russlands’: Es gibt das Russland im nördlichen Kaukasus, das ist ein Russland. Es gibt das Russland im fernen Osten, das ist ein anderes Russland und es gibt ein drittes Russland, der europäische Teil des Ural. Das sind alles verschiedene Leute, mit verschiedenen Interessen, Denkweisen, Ausrichtungen, verschiedenen Kulturen … – d.h. ein einziges Russland, in diesem Sinn, gibt es nicht.
Aber wenn wir über das Zentrum sprechen, dann sind wir im Großen und Ganzen natürlich vor allem ein europäisches Land. Es gibt ja auch bestimmte Anzeichen dafür, wohin Putin das russische Kapital ausrichtet. Der Austausch von Geldanlagen, mit wem findet der statt? Mit den Engländern, den Deutschen, den Franzosen. Nach dem Motto: „Ihr gebt uns dieses Paket und von uns bekommt ihr dafür jenes Paket.“ Also, es geht um die Verflechtung der Wirtschaft, eine Konvergenz, vor allem mit den europäischen Großmächten, das ist ein sehr wichtiges Merkmal seiner Politik. Putin will einen gemeinsamen Raum schaffen, und das zuerst im wirtschaftlichen Sinne.

Aber die rigiden politischen Maßnahmen, die Putin in letzter Zeit unternimmt, mit seiner „vertikalen Macht“ wie er es nennt…
Wenediktow: Er sieht das als vorübergehend an. Er denkt, um eine Entscheidung richtig zu fällen muss man im Land zunächst Ordnung schaffen. So sieht er den Übergang vom Chaos zur Ordnung. Wichtig ist ihm zuerst diese gegenseitige Durchdringung der Wirtschaft. Und später kann man dann Parteien zulassen, die Presse befreien usw. – doch diese Dinge sind für ihn jetzt erst mal unwichtig. Es gibt eine Priorität.

Aber heißt das nicht doch, dass er das chinesische Entwicklungsmodell bevorzugt?
Wenediktow: Das denke ich nicht. Ich weiß, wie er sich das chinesische Entwicklungsmodell vorstellt. Und er sieht China als einen Gegner Russlands, zumal auf einer sehr großen Fläche, verglichen mit Europa; ich würde sogar sagen, er sieht China als eine Bedrohung für Russland an den östlichen Grenzen, eine territoriale Bedrohung. Er hat da eine ganz konkrete Vorstellung, soweit ich weiß und deswegen sind auch alle anderslautenden Äußerungen nicht mehr als offizielle Erklärungen, PR-Züge, ein vorübergehender Zickzack-Kurs.
In Europa sieht er dagegen keine Bedrohung, mit Europa will er wirtschaftlich und übrigens auch politisch zusammenkommen, weil er sich für die Visumsfreiheit zwischen Russland und Europa einsetzt. Da will er hin. Aber er versteht nicht, während er das eine tut, dass das, was er als unwichtig erachtet, für die Europäer wichtig ist.

Pressefreiheit, Menschenrechte…
Wenediktow: Ja, er denkt: „Ach, das ist doch Kleinkram, mein Gott, sollen die Europäer schreien – und dann vergessen sie es.“ Aber sie vergessen es nicht, was er nicht versteht. Er hat ja gesehen, dass einige Regierende wie Chirac, Schröder und Berlusconi ihn unterstützt haben. Jetzt ist er aber plötzlich mit Sarkozy, Merkel, Prodi, mit Blair bzw. Brown in Konflikt geraten – und das versteht er nicht. Wenn es mit Chirac so gut geht, warum nicht auch mit Sarkozy? Nun, weil der pro-amerikanisch ist.
Und warum, wo Schröder doch ganz klar sein Freund war – warum ist Merkel das nicht? Er versteht nicht, dass dahinter ein System existiert. Dass dort ganz normale Menschen an der Macht sind, die auch Fehler machen, Bush in den USA zum Beispiel. Und er versteht nicht, dass dieses System so konstruiert ist, dass die Dummheit jedes beliebigen politischen Führers durch das System abgefedert, korrigiert wird. Institutionen wie Presse, Gewerkschaften, Parteien, Parlament, Gerichte – die dort unabhängiger sind als hier in Russland – die federn die Dummheiten des Regierenden ab, sie sind ein Gegengewicht zur Macht. Bei uns aber federn diese Institutionen gar nichts ab.

Eher sieht es danach aus, dass in Russland die Gerichte zerstört werden…
Wenediktow: Die Gerichte werden nicht zerstört, sie werden in der Art gar nicht erst aufgebaut. Was zerstört wird, ist die ausführende Macht, die gesetzgebende Macht – das ist tatsächlich so. Aber Putin sieht das als vorübergehend an, als notwendig für die Wiederherstellung der Ordnung.

Und Sie glauben, dass es danach wieder mehr Meinungsfreiheit geben wird?
Wenediktow: Er sieht das so.

Und Sie?
Wenediktow: Ich denke, das ist ein Zick-Zack-Kurs, den wir durchschreiten werden.
Aber was bleibt uns am Ende übrig? Wenn wir mal global denken… Wir müssen doch nur ins Internet schauen: Im Verlauf der letzten fünf Jahre, in denen sich das Internet bei uns sehr stark ausgebreitet hat, ist die Anzahl von Anti-Putin-Websites stark gewachsen. Dagegen kann niemand etwas machen.

Niemand?
Wenediktow: Nein, es gibt sehr viele kritische Websites und niemand kann dagegen etwas ausrichten.

Warum?
Wenediktow: Weil es dafür keinen Befehl gibt. Es gibt keinen Befehl, zum chinesischen Modell überzugehen.

Warum nicht?
Wenediktow: Weil Putin weiß, dass das unmöglich ist. Das sind ja zwei verschiede Sachen: Wenn wie in China die Filter von Anfang an existieren, ist das die eine Möglichkeit – aber es ist etwas anderes, wenn man den Leuten ihr Spielzeug im Nachhinein wegnehmen will. Dann werden die Fachkräfte das Land verlassen. Wenn es keinen Informationsaustausch gibt, werden die Leute anfangen auszuwandern. Aber Putin will gar nicht in einer geschlossenen Gesellschaft leben. Er will selbst reisen, er ist das gewöhnt, er will keine geschlossene Gesellschaft. Die kritischen Stimmen in Russland sind nun ins Internet gewandert, mit Ausnahme der Medien, über die wir bereits gesprochen haben.

Also wird in Zukunft das Internet in Russland eines der wichtigsten Instrumente der Meinungsfreiheit sein?
Wenediktow: Es gibt da noch ein Problem: Wir freuen uns zwar, dass in den großen Städten etwa 70 Prozent das Internet nutzen. Allerdings wie: Das sind hauptsächlich Jugendliche, die Pornoseiten besuchen, Chats, Witz-Seiten. Und nur 15 Prozent derer, die ins Internet gehen -also insgesamt vielleicht 10 Prozent in den großen Städten – besuchen politische Websites. Und von denen sind ein bedeutender Anteil Nazis, die einfach ins Internet verjagt wurden. Das ist im Internet die aktivste Gruppe, vielleicht nicht die größte, aber die aktivste. Auch in den Blogs ist das die aktivste Gruppe. Und es sind nicht nur russische Nazis, auch tatarische usw.

Aber nichts desto trotz sehen Sie das Internet als wichtiges Medium an.
Wenediktow: Ja, natürlich, aber es braucht noch sieben bis zehn Jahre.

Und dann?
Wenediktow: Dann werden wir eine andere Generation haben. Schauen Sie, heute ist jede beliebige Schule an das Internet angeschlossen. Mein Sohn ist jetzt in die erste Klasse gekommen und bei ihm in der Schule gibt es Internet. Es sind glaube ich nur noch 13 Prozent der Schulen in ganz Russland, die noch ans Internet angeschlossen werden müssen. Dann bekommen die Kinder durch das Internet Erfahrung in Kommunikation, sie lernen freie Zonen kennen, sie lernen die Anarchie kennen. Und wenn sie vernünftige Eltern haben, dann wandelt sich diese Anarchie in Freiheit um, sie wird reguliert.
Diese Generation, die nicht von den Print-Medien, dem Radio oder Fernsehen geprägt wurde, die wird einen anderen Zugang haben. Der Generation wird es egal sein, was im Fernsehen gesagt wird, was in den Zeitungen steht oder was Echo Moskau berichtet.

Und Sie glauben nicht, dass der Kreml versuchen wird, das Internet zu kontrollieren?
Wenediktow: Wenn es eine Möglichkeit gibt… Aber das ist eben nicht so einfach. Es gibt Kabelfernsehen, Satellitenfernsehen, es gibt das Internet – das ist alles schon sehr kompliziert. Der Geist ist schon ist schon aus der Flasche herausgelassen worden. Ihn da wieder reinzupressen wird denen sehr schwer fallen. Außerdem wollen die Leute das nicht. Verstehen Sie, was ich meine: Was ist mit der Freiheit in Russland passiert? Sie wurde den Leuten gegeben, sie wurde von ihnen nicht erobert – und deswegen wird sie den Leuten leicht wieder genommen. Die Leute im Internet allerdings, die wollen die Freiheit nicht zurückgeben, weil sie in dieser Freiheit geboren wurden. Das ist ihre Natur. Wenn man mir einen Computer hinstellt und dann wieder wegnimmt – gut, dann werde ich auch ohne ihn irgendwie zurechtkommen. Aber diese neue Generation nicht, die werden auswandern. Weil wenn Sie eine professionelle Arbeit haben wollen, wie finden Sie die? Wo suchen Sie die? – Wo Sie wollen! In Bulgarien, in den USA, der Mongolei – das macht für die keinen Unterschied.
Die Leute, die hier Arbeit suchen, werden denken: „Wie kann es sein, dass mir hier jemand verbietet, Arbeit zu suchen? Oder meine Dissertation zum Thema meines Berufs zu verteidigen? Was soll ich jetzt damit machen?“ – Diese Entwicklung man nicht aufhalten. Die Leute werden sonst auswandern.

Das Internet wird also immer frei bleiben?
Wenediktow: Es wird irgendwelche Versuche geben, auch jetzt wegen Extremismus-Gefahr usw. Aber man kann diese Welle nicht aufhalten. Weil man versuchen wird, das Internet mit gewöhnlichen Mitteln zu stoppen – aber das Internet ist eben kein gewöhnliches Medium. Die Leute werden hier selbst zu Journalisten, das ganze Volk ist eingeladen, Journalist zu sein, das ganze Volk tauscht Informationen aus. Wie soll man das schließen?

Ein Versuch könnte zum Beispiel der Deal zwischen dem amerikanischen Blog-Host Livejournal und der russischen Firma Sup.com des kreml-nahen Oligarchen Alexandr Mamut sein. Sup.com betreut nun sämtliche russische Livejournal-Kunden, sprich einen Großteil der russischen Blogger.
Wenediktow: Und? Ich zeige ich Ihnen mal etwas anderes (zeigt auf seinen Computerbildschirm). Plötzlich taucht neben Google eine neue russische Suchmaschine auf, gogo.ru . Deren Server steht glaube ich in Kanada und wird gespiegelt. Das ist schon alles.
Nein, das alles zu kontrollieren ist unmöglich, weil die Technik sich viel schneller entwickelt. Der Mobilfunk zum Beispiel, die Leute kriegen Nachrichten aufs Handy, CNN und Euronews – was wollen Sie da machen, das aus dem Handy wieder rausholen? Gut, man kann denen die Antennen abschneiden, aber wie viele Leute wird man dafür benötigen?

Gut, aber bislang, meinen Sie, interessieren sich die russischen Internetnutzer nur wenig für Politik…
Wenediktow: Bis jetzt ja. Aber wir haben bei unserer Internetseite auch ein kleines Segment junger Nutzer. Im letzten Jahr ist das Segment der 36-45-Jährigen um 50 Prozent gewachsen. Früher waren es in Moskau 200.000, jetzt sind es 300.000. Die haben das früher nicht genutzt, weil es sie nicht interessiert hat. Aber sobald die Politik anfängt, sich zu bewegen, sobald es die Leute unmittelbar berührt, nehmen sie selbst den Hörer in die Hand, machen das Radio an, gehen auf nützliche Websites…

Da spricht jetzt aber doch der Optimist.
Wenediktow: Nein, ich bin kein Optimist. Ich bin Realist, ich weiß, dass mit meiner Generation das Leben auf diesem Planeten nicht zu Ende geht. Ich habe einen kleinen Sohn und ich denke, seine Generation wird eine andere sein. Ich sehe doch schon wie die aufwachsen, die sind viel freier… – Aber klar, kurzfristig ist es natürlich wichtig, dass keine Dummheiten gemacht werden.

Wie optimistisch sind Sie in Bezug auf Echo Moskau?
Wenediktow: Was Echo angeht… Wissen Sie, ich habe vor fünf Jahren aufgehört, über den morgigen Tag nachzudenken. Sie haben ja den Brief gesehen, den ich bekommen habe. „Wir bitten Sie, uns den Zugang zu verschaffen, Kopien der Dokumente anzufertigen, erstens, zweitens, drittens usw.“ – Ich habe das gemacht. Das ist für mich auch etwas ganz Banales. „Gut, meine Herren, überprüfen Sie uns, wenn irgendwas nicht richtig ist, sehen wir uns vor Gericht.“
Sicher, die Gerichte mögen uns auch nicht so sehr. Zuletzt gab es da zum Beispiel die folgende Geschichte: Aus Togliatti (russ. Stadt in der u.a. die „Lada“-Werke beheimatet sind) wo es einen Streik in der Autofabrik gab, bekam die föderative Wettbewerbskommission einen Brief mit der Bitte, Echo Moskau in Togliatti abzuschalten und durch den Radiosender „Milizejskaja Wolna“ zu ersetzen. Mit der Begründung, so stand es in dem offiziellen Papier, dass „das Programm Echo Moskaus uns dabei behindert, die Produktivität der Fabrik zu steigern.“

Und?
Wenediktow: Die föderative Wettbewerbs-Kommission war, als sie den Brief bekam, völlig überrascht. Und die wissen: Wenn sie das machen und das wird öffentlich, dann machen sie sich damit einfach nur lächerlich. Also haben sie eine weise Entscheidung getroffen: Mich anzuhören, wie ich die Produktivität nicht steigere. Da werde ich also demnächst hingehen müssen … Verstehen Sie, aus der Stadt kommt ein Brief nach Moskau, am Vorabend der Wahlen, mit der Bitte Echo Moskau durch einen Musiksender auszutauschen, der sich „Milizejskaja Wolna“ nennt. Ich werde dem entgegnen: „Das entspricht nicht dem Gesetz, wir werden vor Gericht gehen …“ – aber die können das im Handumdrehen machen. Die föderative Wettbewerbskommission könnte abstimmen und der Bitte nachkommen.

Apropos Musik – was hören Sie eigentlich für Musik? Auf Echo Moskau hört man ja nur äußerst selten Musik.
Wenediktow: Ich höre im Moment nur das Geschrei meines Sohnes. Das ist die schlechteste Musik, die ich höre.

Das Interview entstand im September 2007.

September 2007. Moskau, am Fuß der Straße Nowij Arbat in einem 60er-Jahre-Hochhaus. Der Fahrstuhl bringt uns in den 14. Stock, den Redaktionssitz von Echo Moskau. Zunächst nehmen wir in einem Wartezimmer Platz, dessen Wände bedeckt sind mit Urkunden mehr

Ein Kommentar zu “Für viele gehört die Pressefreiheit nicht zu den Grundbedürfnissen.”

  1. Danziger |

    Westliche Freiheit ? Schauen Sie mal nach England oder den USA ,dann wissen Sie worum wir uns wirklich sorgen müssen !

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