betr. Interview zu Kontaktschuld

Irgendwann in der Corona-Krise fiel mir auf Twitter der Hashtag #Kontaktschuld auf. Dabei geht es um das Prinzip, eine Person öffentlich zu diskreditieren, in dem man ihr Nähe zu Personen oder Positionen vorwirft, die von Teilen der Gesellschaft als ‚Gegner‘ identifiziert wurden.

Da ist zum Beispiel die Organisation Transparency International (TI), welche die Mitgliedschaft von Wolfgang Wodarg ruhen ließ, mit dem Argument, dass der Mediziner seine „kritische Thesen“ an falscher Stelle geäußert habe, nämlich bei „radikalen Medien wie KenFM, Rubikon, Geolitica oder in einem Interview mit Eva Herman“ (mit Wodargs Thesen selbst befasste sich TI später in einem Gutachten).

Ähnlich gelagert sind jüngste Anschuldigungen an den Regisseur Werner Herzog, der als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnet wird, weil er der Sendung „Going Underground“ des staatlichen russischen Senders RT ein Interview gab und sich obendrein positiv über das Format äußerte.

Auch der Linken-Politiker Andrej Hunko lud eine Kontaktschuld auf sich, als er Mitte Mai in Aachen eine Rede auf einer „Hygiene-Demo“ hielt. Parteikollegen forderten anschließend seinen Rücktritt.

Sehr häufig kommen Kontaktschuld-Vorwürfe ins Spiel, wenn jemand in Dialog mit Personen tritt, die der AfD oder anderen rechten Parteien bzw. Aktivisten nahestehen.

So zeigten sich zum Beispiel Twitter-Nutzer entrüstet darüber, dass sich der Meteorologe Jörg Kachelmann durch den Anwalt Ralf Höcker vertreten lässt, der zu seinen Mandanten auch AfD-Politiker zählt.

Höcker selbst, der bis Februar 2020 auch Sprecher der WerteUnion war, wurde Kontaktschuld vorgeworfen, da er auf einer Veranstaltung von Milo Yiannopoulos anwesend war, Blogger und früherer Autor von Breitbart News, der sich mehrfach homophob äußerte.

Durchaus öffentlichkeitswirksam platzierte 2019 Jan Böhmermann seine Kontaktschuldvorwürfe beim ZDF. Ziel waren u.a. die Spiegel-Journalisten Jan Fleischauer, Alexander Smoltczyk und Martin Müller sowie der Moderator Reinhold Beckmann, die alle an einer Geburtstagsfeier des Journalisten Mathias Matussek teilgenommen hatten. Kern des Vorwurfs von Böhmermann war die dortige Anwesenheit von Personen, „die man der neuen Rechten zuordnen muss“ (Fleischauer) bzw. die Böhmermann als „Prüf- und Verdachtsfälle des Verfassungsschutz“ bezeichnete.

Der ZDF-Moderator schickte dazu dem Spiegel folgende Fragen, die er auch auf Twitter publizierte  (hier nur Archiv-Link, da Böhmermann offenbar all seine Tweets vor Februar 2020 gelöscht hat):
„1. Hatte die Chefredaktion von DER SPIEGEL vorab Kenntnis von dieser Zusammenkunft und/oder davon, dass mehrere Mitglieder der Redaktion an dieser Feier teilnehmen?
2. Wie bewertet die Chefredaktion des SPIEGEL die Teilnahme seiner Redakteure an der beschriebenen Veranstaltung?
3. Inwieweit ist, nach Ansicht der Chefredaktion des SPIEGEL, das private Erscheinen eines SPIEGEL-Redakteurs bei der beschriebenen „Geburtstagsfeier“ mit den journalistischen, ethischen und professionelles Standards des SPIEGEL vereinbar?
4. Gab es in der Vergangenheit andere „Privatveranstaltungen“ mit ähnlicher Gästeliste, an denen Redakteurinnen oder Redakteure des SPIEGEL teilgenommen haben oder sind zukünftig welche geplant?“

Die Botschaft war unmissverständlich: An einer Geburtstagsfeier teilnehmen, zu der auch Rechte eingeladen sind, ist weder Privatsache noch legitim. So verwunderte es denn auch nicht, dass sich binnen Stunden der Moderator Reinhold Beckmann für seine Teilnahme entschuldigte.

Jan Fleischhauer hingegen schrieb darüber einen Text, in dem es u.a. heißt: „Fraternisiert man bereits mit Rechten, wenn man am Büfett steht, statt Reißaus zu nehmen? Das ist ja der Vorwurf: Wer mit solchen Leuten auf einer Geburtstagsfeier zusammenstehe, normalisiere rechtes Denken und trage es damit in die bürgerliche Mitte. Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, dann ist jeder Kontakt, und sei er noch so zufällig, ein Schuldbeleg. Im Prinzip reicht es schon, dass man sitzen bleibt, wenn einer mit der falschen Gesinnung an den Tisch tritt.“

Böhmermann bezeichnete später sein eigenes Vorgehen ironisch als „Kontaktschuld-Gestapo“ und er diskutierte darüber mit dem österreichischen Journalisten Armin Wolf, der einen anderen Standpunkt vertrat: „Ich finde tatsächlich, es ist ein Unterschied, ob man eine Einladung zu einem „medienöffentlichen Sektempfang mit amtsbekannten Rechtsextremen und Neonazis“ annimmt oder zur mutmaßlich privaten Geburtstagsparty eines alten Freundes.“

Kontaktschuldvorwürfe gibt es aber auch von rechts nach links. Etwa wenn Politiker, 30 Jahre nach dem Mauerfall, die Partei Die Linke konsequent als „SED-Nachfolgepartei“ bezeichnen, um ihr eine Verbindung mit dem ‚Gegner‘ nachzusagen.

Ebenso kann es Sportler treffen, wie etwa den deutschen Fußballspieler Mesut Özil, der sich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan fotografieren ließ. Die schweren Vorwürfe gegen Özil führten am Ende zu seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft.

Auch eine Nähe zur BDS-Bewegung kann schwerwiegende Vorwürfe nach sich ziehen. Das zeigt, neben vielen anderen Beispielen, der Fall der Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp, die in diesem Jahr heftig kritisiert wurde, weil sie den Philosophen Achille Mbembe eingeladen hatte (Mbembe selbst gab zu Protokoll „keinerlei Beziehung mit BDS“ zu haben).

Der Wissenschaftler Werner Schiffauer weist zudem darauf hin, dass bei Muslimen in Deutschland allein der Verdacht eines Kontakts zu mutmaßlichen Islamisten zu einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz führen kann.

„Das Kontaktschuld-Instrument funktioniert erstaunlich gut“, konstatiert der Journalist Paul Schreyer (Telepolis u.a.). In einem Artikel beschreibt er, wie er 2017 auf Twitter zur Unperson erklärt wurde, mit Verweis auf Verbindungen zum Verleger Jürgen Elsässer – von dem sich Schreyer allerdings schon drei Jahre zuvor distanziert hatte.

„Das Kontaktschuld-System ist ein Schneeballsystem“, schreibt Schreyer. „Es lebt davon, dass andere die Empfehlung zum Ausgrenzen unkritisch befolgen und damit weiter verbreiten. Das System selbst wird selten öffentlich reflektiert und hinterfragt.“

Dieser Befund Schreyers war für mich letztlich ein Ansporn, das System der Kontaktschuld-Vorwürfe in Form eines Interviews zu erörtern. Nach einer kurzen Recherche fand ich dazu eine Person XY mit entsprechender Expertise und Erfahrung ‚am eigenen Leib‘: XY war in den vergangen Jahren mehrfach Kontaktschuldvorwürfen ausgesetzt. Eigentlich ideale Voraussetzungen, um Sinn- und Unsinn des Prinzips Kontaktschuld zu besprechen.

Was zum Zeitpunkt meiner Interview-Anfrage allerdings nicht absehbar war: Dass sich, etwa zeitgleich zu unserem Interview-Termin, neue Kontaktschuldvorwürfe gegen XY medial so weit hochschaukeln würden, dass die Reißleine gezogen wurde: Um weitere Medienberichte zu verhindern, einigte sich XY mit den Kolleginnen und Kollegen im beruflichen Umfeld, sich bis auf Weiteres nicht zu jenem Thema/jener Person zu äußern, welche XY die Kontaktschuldvorwürfe eingebracht hatten.

Damit wäre eine Veröffentlichung des Interviews, in dem ich mit XY über all das gesprochen habe, eigentlich vom Tisch. Doch in diesem Fall gibt es eine andere Lösung: Wir haben das Interview anonymisiert. Zwar mussten dafür einige Passagen komplett gestrichen werden, die eine eindeutige Identifizierung ermöglicht hätten, was ich sehr bedauere. Doch der überwiegende Teil des Gesprächs ist erhalten geblieben.

Tatsächlich bietet die Anonymisierung auch einen Vorteil: Die LeserInnen können auf diese Weise einmal Argumente ganz unabhängig von der Person beurteilen, die sie vorbringt.

Das Interview ist gewiss keine lückenlose Darstellung des Prinzips Kontaktschuld. Vielmehr ist es ein erster, kleiner Versuch, Situationen zu hinterfragen, in der Menschen allein aufgrund eines Kontaktes in der Öffentlichkeit schuldig gesprochen werden.

[Die Anonymisierung gilt vorerst bis Oktober, dann werde ich mit XY die Möglichkeit einer Veröffentlichung mit Klarnamen nochmals prüfen. Die Kommentarfunktion ist bis dahin hier und unter dem Interview deaktiviert. Das Interview ist seit 15. Oktober 2020 nicht mehr anonymisiert und die Kommentarfunktion aktiviert.]

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