Andreas Sönnichsen

Am Anfang sind die meisten Medien auf die Panikwelle aufgesprungen.

Der Leiter der Abteilung für Allgemein- und Familienmedizin der Medizinischen Universität Wien Andreas Sönnichsen spricht über den Verlauf der Covid-19-Pandemie, Evidenz, Medien auf der „Lockdown-Schiene“, das Tempo der Lockerungen, Doppelmoral bei Schutzmaßnahmen, Immunität bei Corona-Viren und seine Forderung nach mehr Begleitstudien.

Andreas Sönnichsen

© Privat

Herr Sönnichsen, Sie sind Vorsitzender des Netzwerk für evidenzbasierte Medizin. Ist „evidenzbasierte Medizin“ (EBM) nicht eine Tautologie? Sollte Medizin nicht immer auf Evidenz basieren?

Sönnichsen: Sie sollte unserer Meinung nach immer evidenzbasiert sein, das Problem ist aber: Wir haben für viele Dinge keine Evidenz, dort wo Untersuchungen und Studien noch nicht existieren. Die Medizin ist traditionell eine Erfahrungswissenschaft, sie wird auch heute zum großen Teil so betrieben, dass man auf die persönlichen Erfahrungen mit Patienten zurückgreift. Und ein Patient ergibt noch keine Studie. Die Erfahrungen, die ich als Arzt sammle sind alles so genannte „N of 1 studies“, es sind Einzelfälle, die ich abspeichere und später, wenn ein ähnlicher Fall auftaucht, mehr oder weniger bewusst wieder abrufe.

Die EBM macht das anders?

Sönnichsen: Die EBM sagt: Bei allem Respekt vor der persönlichen Patienten-Erfahrung, müssen wir wissenschaftlich noch genauer untersuchen und mit Studien die bestmögliche Behandlung für Patienten ermöglichen. Dazu gehört aber auch der richtige Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, etwa wenn eine Studie aussagt, dass ein Medikament nur in 20 von 100 Fällen hilfreich ist; die Chance für den einzelnen Patienten, zu diesen 20 Prozent zu gehören, ist dann 1:5.
Wir als EBM- Netzwerk kritisieren auch, dass Medizin heute an den Universitäten meist noch sehr schwarz-weiß gelehrt wird, sozusagen mechanistisch:Der Patient hat das Symptom A, bekommt den diagnostischen Test B, es kommt die Diagnose C heraus, die zur Therapie D führt und dann wird er geheilt. Das entspricht aber nicht der Realität.

Warum nicht?

Sönnichsen: Die Realität ist viel komplexer: Der Patient hat Symptome A, hat dann wahrscheinlich die Diagnose B, genauso besteht aber auch die Möglichkeit, dass der diagnostische Test falsch-positiv oder falsch-negativ ist. Da ist es wichtig, zu lernen, mit diesen Wahrscheinlichkeiten umzugehen.
Und je besser die Datenlage aus qualitativ hochwertigen Studien ist, desto größer ist auch die Vorhersagbarkeit, wie eine Krankheit verläuft und welche Behandlung wirklich nützt.

Wie bewerten Sie die Datenlage bei Corona?

Sönnichsen: Wir haben bei Corona noch sehr wenige zuverlässige Daten, weil die Erkrankung neu ist, wir lernen aber täglich dazu. Anfang März, als in Italien die Zahlen explodiert sind, ist man furchtbar erschrocken und hat gedacht: Wir müssen verhindern, dass dies bei uns auch passiert. Daraufhin hat man alle verfügbaren Register gezogen, um die Epidemie zu stoppen, diese Eindämmung war auch erfolgreich, ist aber vielleicht, was eine evidenzbasierte Abwägung von Nutzen und Schaden anbetrifft, auch über das Ziel hinausgeschossen.
Erst im Nachhinein wissen wir inzwischen: Die Italiener haben ein anderes Gesundheitssystem, es war dort eine andere Situation. Bestimmte Konstellationen, die in Italien oder Spanien zur explosionsartigen Ausbreitung geführt haben, sind nicht unbedingt auf Deutschland oder Österreich übertragbar. Das haben wir aber erst mit Fortschreiten der Epidemie erkannt.

Wie gut sind die Daten über Infizierte? Sind diese zum Beispiel verzerrt, weil sich Testkapazitäten ändern?

Sönnichsen: Die Daten sind natürlich verzerrt, sie sind epidemiologisch nicht als repräsentative Stichprobe zu werten. Wobei der PCR-Test an sich einigermaßen sensitiv und spezifisch ist, da gibt es kaum falsch-negative oder falsch-positive Ergebnisse.
Aber wir wissen leider überhaupt nicht, wie hoch die Dunkelziffer ist, sprich, wie viele Menschen die Erkrankung schon durchgemacht haben. Und davon hängt ja entscheidend ab, wie gefährlich die Erkrankung wirklich ist.
Wenn man die nackten Zahlen nimmt, das heißt, die Zahl der Toten durch die Zahl der gemessenen Infektionen teilt, kommt man weltweit auf eine Todesfallrate von 7%. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass viele Infizierte gar nicht gemessen wurden, weil sie vielleicht keine typischen Symptome hatten, so liegt diese Todesfallrate natürlich viel niedriger. Wenn man beispielsweise für Deutschland annimmt, das sich in Wahrheit etwa 2% der Bevölkerung mit SARS-CoV-2, dem Erreger von CoViD-19, infiziert haben, also ca. 1,6 Millionen Menschen, und von diesen sind 6600 verstorben, so liegt die Todesfallrate nur noch bei 0,4%. Derzeit fehlen noch zuverlässige Daten über diese Dunkelziffer. Und ebenso ist unklar, ob diese Menschen langfristig immun sind, da tappen wir noch im Dunkeln.

Wie ist es mit der Immunität bei anderen Corona-Viren?

Sönnichsen: Corona-Viren gibt es ja schon ungefähr so lange, wie es Menschen gibt. Wir wissen auch, dass viele Erkältungserkrankungen im Winter durch Corona-Viren verursacht werden. Wenn sich das neue Corona-Virus so verhält wie die anderen, ist es wahrscheinlich, dass man sich mehrmals mit dem gleichen Virus infizieren kann, weil es keine bleibende Immunität gegen die verschiedenen Typen von Corona-Viren gibt. Sonst könnten wir den einfachen Schnupfen, der oft durch Corona-Viren bedingt ist, nicht jedes Jahr aufs Neue bekommen.

Zitiert

Es ist möglicherweise falsch herum gelaufen. Wir haben erst sehr spät die Maskenpflicht für Läden und Verkehrsmittel bekommen, dabei hätte man Maskenpflicht und Hände-Hygiene als erste Maßnahmen einsetzen können.

Andreas Sönnichsen

Der Lungenarzt Wolfgang Wodarg ist aufgrund seiner Hypothese, man würde mit dem jetzigen Corona-Test im Grunde nichts Neues finden, stark kritisiert und aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verdrängt worden. Sehen auch Sie seine Hypothese inzwischen als widerlegt?

Sönnichsen: Wodargs Hypothesen sind nicht ganz von der Hand zu weisen, doch hat er meiner Meinung nach nicht beachtet, dass sich das neue Corona-Virus von den Corona-Viren unterscheidet, mit denen wir es bisher zu tun hatten. Erstens ist es wahrscheinlich deutlich infektiöser und wahrscheinlich auch sehr viel gefährlicher.
Wobei man dazu sagen muss: Es gab auch in der Vergangenheit schon Corona-Todesfälle, das zeigt zum Beispiel eine Studie von 2006, die bei einem lokalen Corona-Ausbruch in den USA gemacht wurde. Der geschah 2003 in einem Pflegeheim, in dem fast zehn Prozent der Patienten verstorben sind. Das Virus hat sich dann aber nicht weiter verbreitet.

Für welche Case Fatality Rate (CFR) sehen Sie bei Covid-19 im Moment eine Evidenz?

Sönnichsen: Wenn wir als Bezugsgröße nur die gemeldeten Infizierten nehmen, sieht man, dass die CFR immer weiter sinkt, sie lag anfangs über 10 Prozent. Je mehr getestet wird, desto mehr werden auch leichtere Fälle miterfasst und dadurch sinkt die vermeintliche CFR.

Lässt sich die Dunkelziffer der Infizierten schon einigermaßen abschätzen?

Sönnichsen: In Österreich gibt es eine Studie – die zwar nicht repräsentativ, aber zumindest ein Anfang ist – wo man mit dem PCR-Test eine asymptomatische Stichprobe gemessen hat. Diese Studie lässt einige Rückschlüsse auf die Dunkelziffer zu, und wenn ich mit diesen Daten rechne, komme ich in Österreich auf eine CFR zwischen 0.3 und 0.8 Prozent. Das ist vergleichbar mit der CFR einer etwas heftigeren Influenza, wie wir sie zum Beispiel vor zwei Jahren hatten, oder geringfügig schlimmer.

Aber das neuartige Corona-Virus ist deutlich infektiöser als die Influenza.

Sönnichsen: Wahrscheinlich, ja.
Was wir im Moment aber auch nicht wissen: Wie entwickelt sich Covid-19 weiter? Bei der Influenza wissen wir, dass sie meistens im Winter kommt, mit einem ähnlich exponentiellen Anstieg. Wenn ich mir die Verlaufskurve der Influenza-Saison 2017/18 anschaue, die mit geschätzt 25.000 Toten und ca. 5 Millionen Infizierten sehr heftig war, komme ich, zumindest für die Anfangsphase, auf sehr ähnliche Zahlen wie bei Covid-19, mit einer Verdopplung der Infiziertenzahlen alle 3-4 Tage.

Sie sehen also eine Ähnlichkeit zwischen dem Verlauf einer Grippe-Epidemie und dem der Corona-Epidemie…

Sönnichsen: Ja, in der Anfangsphase. Bei der Influenza vor zwei Jahren hatten wir zu Beginn eine exponentielle Ausbreitungsphase, aber dann ist es ohne größere Lockdown-Maßnahmen zu einem Plateau und einem Abfallen gekommen. Die Infektion hat sich von selbst totgelaufen.

Wäre das bei Covid-19 auch möglich?

Sönnichsen: Das wissen wir nicht. Auch weil kein Land es ohne Lockdown oder zumindest einige Gegenmaßnahmen ausprobiert hat. Es ist durchaus möglich, dass bei Covid-19 auch so ein Auslaufen passiert wäre. Das wäre der normale Verlauf einer Epidemie: Man bekommt einen exponentiellen Anstieg, erreicht einen Peak und dann wird es wieder weniger – unabhängig von einer Herdenimmunität, die ja viele Jahre brauchen würde. Solch ein natürlicher Epidemieverlauf könnte aber natürlich zu einer Vielzahl von Toten führen, bis das natürliche Abflauen erreicht ist.

Wie erklärt sich dieses „Totlaufen“ bei der Influenza?

Sönnichsen: Dafür spielen Faktoren wie das Wetter eine Rolle und daraus folgend die Suszeptibilität des Individuums, sprich: Wie empfänglich sind wir Menschen zu dem Zeitpunkt für die Krankheit? Das ist abhängig von der Immunlage, auch von der psychischen Verfassung. Manchmal steckt sich in der Familie jeder an, es kommt aber auch vor, dass nur das Kind die Grippe hat und die Eltern nicht. Warum eine Infektion einmal „angeht“ und einmal nicht, ist bisher unzureichend erforscht. Die Zusammenhänge sind sicher sehr komplex.

Was aber ist mit der Impfung? Die vorhandene Grippe-Impfung wird oft als Argument angeführt gegen die Vergleichbarkeit von Influenza und Covid-19.

Sönnichsen: Die Grippe-Impfung kann man in diesem Kontext vernachlässigen, weil A nur wenige Menschen geimpft sind und B die Impfung einen Schutz von maximal 60 Prozent bietet, er kann aber auch bei nur zehn Prozent liegen. Weil wir bei der Influenza immer raten müssen, welche Anti-Gen-Konstellation das Virus der zukünftigen Saison haben wird. Dafür nehmen wir die Influenza-Viren, die im Sommerhalbjahr auf der Südhalbkugel kursieren und schließen daraus, was im Winter bei uns möglicherweise aufschlägt. Es gibt Jahre, in denen die Grippe-Impfung praktisch wirkungslos ist, weil man ‚falsch geraten‘ hat.

Sie sagten im ORF am 19.04., „dass Schulen bei der Übertragung eigentlich keine Rolle spielen“. Worauf haben Sie das gestützt?

Sönnichsen: Wir wissen aus den bisher vorliegenden Daten, dass unter zwei Prozent der Infizierten Schulkinder sind. Jetzt kann man argumentieren, diese niedrige Zahl liegt daran, dass Kinder überwiegend asymptomatisch sind, weshalb man sie viel weniger testet, sie können das Virus aber dennoch verbreiten. An diesem Punkt sagen wir vom Netzwerk EBM: Bevor ihr zu so einer umfassenden Maßnahme greift, messt doch mal eine Schule durch! So hätte man feststellen können, ob in einer Schule tatsächlich eine relevante Ausbreitung stattfindet. Wenn man weitreichende Entscheidungen trifft, sollte man diese wenn immer möglich auf belastbare Daten stützen und nicht einfach auf dass Bauchgefühl.

Aber solche Messungen hat man weder in Deutschland noch Österreich gemacht?

Sönnichsen: Das hat man nirgends gemacht. Es gibt eine systematische Übersichtsarbeit in einer Lancet-Publikation, die zu dem Schluss kommt, dass Kinder für das Infektionsgeschehen eigentlich keine Rolle spielen. Und gerade eine Ausbreitung unter Kindern wäre ja für den Fall, dass man eine Herdenimmunität anstrebt, sinnvoll.
Wie schnell stecken sich Kinder in der Schule an? Verbreitet es sich explosionsartig? Wie hoch ist das Risiko, dass Schulkinder die Infektion in die vulnerable Gruppe hineintragen? Man hätte auch argumentieren können: Die Kinder gehen lieber in die Schule, haben aber Verbot ihre Großeltern zu sehen. Anstatt sie zuhause zu lassen, wo das Risiko, dass sie mit Großeltern zusammenkommen, viel größer ist. Solche Faktoren hat man meiner Meinung nach nicht ausreichend berücksichtigt.
Ich habe Verständnis dafür, dass man am Anfang, mit der Situation in Italien und dem wenigen Wissen, erstmal alle Register gezogen und die Schulen geschlossen hat. Heute wissen wir aber schon mehr und wir haben jetzt die Möglichkeit, auch dank einer Überkapazität an Tests, zu sagen: Wir machen zehn Schulen ganz normal auf und testen einmal wöchentlich durch.

Warum hat man den Lockdown sozusagen ‚eisern durchgezogen‘, auch ohne die von Ihnen geforderten Messungen an Schulen?

Sönnichsen: Ein Grund ist meiner Meinung nach, dass die ‚Mainstream‘-Meinung auf der Lockdown-Schiene fährt, und das im Grunde bis heute. Dagegen zu argumentierten ist beinahe ein Tabu geworden. Das habe ich persönlich gespürt an den heftigen Reaktionen, die ich auf mein erstes Interview in der österreichischen Presse bekam.

Ihre Universität hat sich von Ihren Äußerungen mit einer Stellungnahme distanziert, welche allerdings inzwischen nicht mehr online ist. Hat sich der Dissens in Harmonie aufgelöst?

Sönnichsen: Es ist zumindest so, dass mir die weitere Entwicklung ein Stück weit in die Hände gespielt hat. Weil einige Dinge, die ich in dem Interview gesagt habe, letztendlich auch eingetroffen sind. Ich hatte eben schon zu einem frühen Zeitpunkt gefordert, dass man sich überlegen muss, wie es jetzt weitergeht.

Österreich hat in den letzten Tagen einige Lockerungen des Lockdowns beschlossen.

Sönnichsen: Ja, man manövriert sich jetzt aus dem Lockdown heraus, allerdings sehr zögerlich. Eine schnelle Lockerung würde natürlich auch wie ein Eingeständnis der Politik wirken, dass der komplette Lockdown für das ganze Land übertrieben war und man auch mit maßvolleren, lokalen Maßnahmen einen ausreichenden Effekt hätte erzielen können, ohne oder jedenfalls mit viel geringeren gesundheitlichen Begleitschäden, die der Lockdown verursacht hat und die uns noch über Jahre belasten werden.
Es gibt eine große Angst, etwas falsch zu machen. Und dieser Angst muss man mit besseren Studien begegnen. Man hätte Anfang April, als sich abzeichnete, dass wir den Peak überschritten haben, direkt Schulen zum Testen und Beobachten öffnen können – dann wüssten wir jetzt schon mehr.

Und jetzt wünschen Sie sich ein höheres Tempo der Lockerungen?

Sönnichsen: Ich denke, mit entsprechender Begleitforschung kann man das Tempo sicher etwas beschleunigen. Dazu gehört, dass man ein Surveillance-Monitoring installiert, vergleichbar mit den Sentinel-Praxen für Ärzte und dem ‚Grippe-Web‘ für Laien zum Monitoring der Influenza-Aktivität, um zu sehen, wie die Epidemie sich weiterentwickelt.

Im Internet kursieren Behauptungen, der Lockdown hätte kaum Auswirkungen auf die Fallzahlen. Kann das stimmen?

Sönnichsen: Nein, solche Theorien teile ich nicht. Ich bin mir sicher, dass der Lockdown maßgeblich zur Senkung der Infektionszahlen beigetragen hat. Ohne Lockdown hätten wir eine höhere Zahl an Todesopfern und wir wären in Deutschland und Österreich möglicherweise an den Rand der Belastung des Gesundheitssystems gekommen.
Eine andere Frage ist, ob wir um die Todesfälle langfristig herumkommen. „Flatten the curve“ heißt ja nicht, dass die Kurve verschwindet, sondern man dehnt sie über einen längeren Zeitraum, um die Spitze flacher zu machen. Ob wir in diesem längeren Zeitraum wirklich Tote verhindern können, lässt sich heute noch nicht sagen.
Und man muss sich angucken: Wer stirbt an Covid-19? Das Durchschnittsalter der in Deutschland und Österreich verstorbenen Corona-Patienten liegt im Bereich der normalen Lebenserwartung, um die 80 Jahre. Und dadurch, dass wir sie vor dem Corona-Tod bewahren, machen wir die Menschen ja nicht unsterblich. Wir verzögern den Tod bei diesen Menschen um Tage, Wochen oder Monate. Bei wenigen vielleicht um Jahre, aber dafür riskieren wir Lebensjahre und Lebensqualität von vielen anderen Menschen, die durch den Lockdown geschädigt werden.

Es gibt jedoch Stimmen aus der Wissenschaft, die davon ausgehen, dass in Italien die Menschen durch den Tod an Covid-19 im Schnitt zehn Jahre Lebenszeit verloren haben. Zudem: Vernachlässigen Sie hier nicht sehr viele Menschen, die jung aber zum Beispiel immunsuppressiv sind?

Sönnichsen: Auch in Italien lag das Durchschnittsalter der COVID-Verstorbenen bei etwa 80 Jahre. Das hier im Durchschnitt 10 Lebensjahre verlorengegangen sind, halte ich für eine unbewiesene Behauptung. Alter und Häufigkeit von Begleiterkrankungen bei den COVID-Opfern spricht sehr gegen diese These. Natürlich gibt es Einzelfälle wie junge Immunsupprimierte, die viele Lebensjahre durch COVID verlieren. Aber es gehen ja auch durch andere vermeidbare Ursachen viele Lebensjahre verloren, ohne dass wir solch drastische Maßnahmen wie einen Lockdown ergreifen. Wie viele junge, gesunde Menschen könnten durch strengere Tempolimits auf Autobahnen und Landstraßen gerettet werden, wie viele Influenza-Tote könnten wir durch jährlichen Lockdown von Januar bis März verhindern, wie viele Rauchertote könnten wir durch konsequentere Antirauchergesetzgebung vermeiden?

Der Bürgermeister von Tübingen Boris Palmer sagte Anfang April gegenüber der taz: „Sich streng an Daten und Fakten zu halten, rettet mehr Leben, als wenn man die eigene Moralität hochhält.“ Wie gut vertragen sich Evidenz und Moral beim Umgang mit der Pandemie?

Sönnichsen: Ich finde es falsch, wenn zum Beispiel der österreichische Gesundheitsminister sagt, er muss den Lockdown weiterführen, weil dadurch zehntausende Leben gerettet werden. Weil es nicht stimmt. Natürlich retten wir Leben, aber wir machen die Menschen nicht unsterblich, wir verhindern nur, dass sie an Corona sterben.
Und wenn man ethisch argumentiert, muss man sich genauso anschauen, welchen Schaden der Lockdown für den Großteil der Bevölkerung bedeutet. Das Robert Koch-Institut hat sehr konkrete Zahlen dazu, wie Armut und Arbeitslosigkeit die Lebenserwartung reduzieren. Wer bezahlt am Ende für diese Kollateralschäden? Die Gesellschaft bezahlt es mit einer höheren Armutsquote, die Rechnung bezahlt am Ende der sogenannte ‚kleine Mann‘. Die Frage, wie stark wir mit den Maßnahmen die Zeit an Lebensqualitäts-intensiven Lebensjahren reduzieren, wurde in der Debatte jedoch völlig ausgeblendet.

Inzwischen ist diese Frage im Diskurs häufiger zu hören.

Sönnichsen: Ja, da sehe ich auch einen Prozess. Vor vier Wochen durfte man diese Folge des Lockdown gar nicht in den Mund nehmen, das galt als unmoralisch. Inzwischen sind die Stimmen lauter geworden, die fordern, dass Regierungen mit einbeziehen, welchen Schaden ein Lockdown anrichtet und wie man langfristig mit Corona umgeht. Da sind wir in Österreich auch schon ein bisschen weiter als Deutschland. Zum Beispiel wird hier aktuell darüber gesprochen, ob und wie man Tourismus, in beschränktem Maße, zulassen kann.

Was sagen Sie als Mediziner zu der Forderung, bei Corona-Toten zu unterscheiden, ob sie „mit“ oder „durch“ das Virus gestorben sind?

Sönnichsen: Diese Diskussion finde ich eher problematisch, weil man das nicht trennen kann, vor allem nicht bei Corona, wo die Verstorbenen fast ausschließlich Menschen mit chronischen Erkrankungen im höheren Lebensalter sind. Für mich ist das eine eher akademische Diskussion. Wenn zum Beispiel ein Patient an Krebs erkrankt ist, stirbt er am Ende in den seltensten Fällen direkt an Krebs, sondern sehr häufig an einer Komplikation, an einer Lungenembolie oder einem Schlaganfall. Trotzdem hat die Komplikation mit der Krebserkrankung zu tun. Wenn jetzt ein chronisch kranker Patient Corona bekommt, ist es am Ende sehr schwer, zu urteilen, was ursächlich für den Tod war.
Interessanter finde ich die Übersterblichkeit. Da könnte man, unabhängig von Vorerkrankungen, fragen: Folgt auf einen Peak ein Tal, folgt auf Übersterblichkeit eine Untersterblichkeit? Oder anders: Habe ich den Tod von Menschen durch Corona vielleicht nur um Monate vorgezogen bzw. durch den Lockdown verzögert? Doch das sind ethisch gesehen sehr schwierige Diskussionen.

Eine andere Debatte ist um das Besuchsverbot in Pflegeheimen entbrannt. Das EBM-Netzwerk hat den Umgang mit Corona in Pflegeheimen als ein „evidenzfreies Drama“ (PDF) bezeichnet. Warum?

Sönnichsen: Es gibt keine Evidenz, dass der Nutzen durch das Besuchsverbot größer ist, als der Schaden. Sicher gibt es Hinweise, dass ein Besuchsverbot verhindert, dass die Corona-Infektion ins Pflegeheim getragen wird. Die Frage ist aber: Welchen Nutzen erziele ich dadurch, dass ich diese Einschleppung verhindere und welchen Schaden richte ich damit an? Auch hier fordern wir, dass Daten erhoben und durch Begleitforschung evaluiert werden. Dafür könnte man einige Heime öffnen – natürlich unter Einhaltung der Hygiene- und Distanzregeln und mit Maskenpflicht – anstatt dass man Angehörigen den Besuch rigoros und ohne Datengrundlage untersagt.

Wurde Ihre Kritik schon gehört?

Sönnichsen: Ich denke, dass sie allmählich Gehör findet, wenn auch noch zögerlich. Generell befürworte ich, dass man jetzt mit Begleitmessungen beobachtet, wo neue Infektionsherde entstehen und sich dazu überlegt, wie man mit einer eventuell zweiten Welle umgeht. Machen wir dann wieder alles zu? – Ich halte es eigentlich für ausgeschlossen, dass wir alle paar Monate das Land schließen. Das ist keine Lösung, sondern wir brauchen andere Strategien. Und die müssen meiner Meinung nach eher lokal ausgerichtet sein. Wenn in einer Schulklasse gehäuft Fälle auftreten, muss man die Klasse nach Hause schicken und wenn es darüber hinaus geht, die gesamte Schule schließen, aber nicht alle Schulen im Land. Mit solchen Maßnahmen müssen wir in Zukunft rechnen. Der Schaden durch eine einzelne Schulschließung ist jedenfalls viel geringer als wenn ich pauschal alle schließe.

Bei den hohen Influenza-Zahlen 2017/18 gab es keinerlei Lockdown, bei Corona gab es ihn flächendeckend. Wie erklären Sie diesen Unterschied?

Sönnichsen: Das ist nur deswegen, weil Covid-19 neu ist, weil ein Medienhype daraus gemacht wurde und weil man nicht wusste, was auf uns zukommt.

Die klingt aber jetzt nicht nach einer medizinischen Begründung.

Sönnichsen: Nein. Ich sehe schon einen Unterschied zwischen Influenza und Corona: Bei Influenza weiß ich, was auf uns zukommt und dass es auch wieder weggeht, dagegen wussten wir bei Corona nicht, wie es sich entwickelt. Die Unsicherheit hat dabei eine große Rolle gespielt.
Ich sehe da allerdings auch eine Doppelmoral: Wir machen jetzt für Covid-19 einen Lockdown, genauso könnten wir aber, wenn wir regelmäßig von Januar bis Mitte März alles dicht machen, jedes Jahr ein paar Tausend Todesfälle durch Influenza verhindern, die im Übrigen auch viel mehr junge Menschen betrifft. Auf die Idee würde aber niemand kommen.
Dasselbe gilt übrigens – wenn man ein bisschen über den Zaun schaut – global für diverse Infektionskrankheiten, die wir als naturgegeben hinnehmen, weil sie uns zahlenmäßig nicht betreffen: Täglich sterben auf der Welt 3000 Menschen an Tuberkulose, 2500 an Hepatitis B, je 2000 an Lungenentzündung, Malaria und AIDS. Auch hier könnte man drastischere Maßnahmen ergreifen und mehr Menschenleben retten als durch den COVID-Lockdown. Und es wird gar nicht als unethisch empfunden, die Hände in den Schoß zu legen und so zu tun, als ginge uns das nichts an. Das ist doch sehr scheinheilig. Zum Vergleich: an CoViD-19 sterben im Moment – und das sicher nur passager – ca 1600 Menschen, also weniger als an all den genannten Erkrankungen.

Was hätten die Regierungen besser machen können Ihrer Meinung nach?

Sönnichsen: Ich denke, man kann den Regierungen vorhalten, dass sie am Anfang das Instrumentarium an einfachen Maßnahmen nicht ausgeschöpft haben, sondern gleich zu radikalen Mitteln gegriffen haben. Es ist möglicherweise falsch herum gelaufen. Wir haben erst sehr spät die Maskenpflicht für Läden und Verkehrsmittel bekommen, dabei hätte man Maskenpflicht und Hände-Hygiene als erste Maßnahmen einsetzen können. Selbst wenn die Vorräte an Masken nicht greifbar waren, kann man die Leute auffordern, einen Schal um Mund und Nase zu ziehen, das wäre einfach gewesen. Auch mit dem Absagen von Massenveranstaltungen, mit der Einschränkung von Reisen, die hauptverantwortlich für die schnelle globale Ausbreitung waren, und mit lokalen Social Distancing Maßnahmen wie Umstellung auf Homeoffice und Online-Meetings wo immer möglich, war man zu zögerlich.
Jetzt rate ich dazu, dass man die Öffnung mit gezielten Studien und Corona-Tests begleitet, wie zum Beispiel in Pflegeheimen und Schulen. Dann sieht man in wenigen Wochen, in welche Richtung sich die Pandemie bewegt.

Sie sprachen von einem „Medienhype“. Was können die Medien besser machen?

Sönnichsen: Auch da sehe ich inzwischen eine Besserung. Doch am Anfang sind die meisten Medien auf die Panikwelle aufgesprungen. Ich sehe zum Beispiel die kumulative Darstellung der Erkrankungen sehr kritisch, weil sie vielen Menschen eine übermäßige Bedrohungslage suggeriert.

Wie ist es mit dem Ländervergleich, der durch Corona-‚Ranglisten‘ vorgenommen wird?

Sönnichsen: Die Ranglisten verzerren das Geschehen immens, weil überall unterschiedlich gemessen wird. In Österreich haben wir inzwischen 275.000 Messungen durchgeführt, von denen 15.500 positiv waren, das Verhältnis liegt also bei etwa 1:18. Natürlich haben wir durch die vielen Tests mehr Fälle gefunden als Spanien, die sehr sporadisch gemessen haben. So entsteht dann eine ganz andere CFR. Die Toten werden überall gezählt, aber die Menschen mit wenig Symptomen gehen in denjenigen Ländern unter, wo wenig gemessen wird. Das verfälscht das Bild im Hinblick auf die Gefährlichkeit des Virus.
Und dann wird von den Medien auch nur selten eine Relation zu anderen Bedrohungen bzw. Todesursachen hergestellt. Nur ein Beispiel: Wir haben im Moment rund 245.000 Todesopfer weltweit, nach vier Monaten Covid-19. So viele Menschen sind bei dem Tsunami am 26. Dezember 2004 innerhalb von ein paar Stunden gestorben. Ja, die Zahl von 3,5 Millionen, also 3.500.000 Infizierten ist eine hohe Zahl, man muss sie aber auch mal ins Verhältnis setzen zu den 7.700.000.000 Menschen, die es auf der Welt gibt.

In den ersten Wochen des Lockdowns wurden selbst Wissenschaftler mit jahrelanger Expertise aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt. Eine Radio-Journalistin aus München, die Interviews mit Wolfgang Wodarg, Karin Mölling und Stefan Hockertz führte, wurde von der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien aufgefordert (PDF), dass „derartige problematische Sendungen zukünftig ausbleiben“. Haben Sie Verständnis für so eine Reaktion der Politik, vor dem Hintergrund, dass eine Regierung zur Pandemie-Bekämpfung weitreichende Maßnahmen durchsetzen muss?

Sönnichsen: Nein, ich finde es bedenklich, dass an manchen Stellen ein freier Diskurs unterbunden wurde, ich halte das im Fall von Corona nicht für gerechtfertigt. Man hat mit der Gefährlichkeit des Virus und den vermeintlich hohen Todesraten – die am Anfang angenommen wurden, sich aber als falsch herausgestellt haben – die Linie begründet, ‚wir müssen jetzt quasi diktatorisch durchgreifen, sonst passiert ein riesiges Unglück‘. Dieses Katastrophen-Szenario hat sich nicht bewahrheitet, weshalb wir nun auch die Lockerungen bekommen.
Ich würde mir wünschen, dass man immer kritisch miteinander redet, dass Kritiker auch zu Wort kommen und ernst genommen werden und dass man weniger polarisiert. Wobei natürlich auch ein Herr Wodarg zu dieser Polarisierung beiträgt, wenn er behauptet ‚das ist alles Quatsch, das neue Corona-Virus ist so wie alle anderen‘. Aber insgesamt hätte man mehr Kritik in den Diskurs aufnehmen sollen, das hätte ich mir schon gewünscht.

[Das Interview wurde am 30.04.2020 geführt.]

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