Thorolf Lipp

Die Politik muss den Mut haben, einzelne Bereiche der Öffentlich-Rechtlichen neu aufzustellen.

Der Dokumentarfilmer Thorolf Lipp ist klarer Befürworter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – zugleich kritisiert er ARD und ZDF, wirft den Anstalten eine zu starke Orientierung am Markt und "Besitzstandswahrungsdenken" vor. Ein Interview über niedrige Budgets, hochformatierte Sendeplätze, warum die Reihe "Terra X" keine Dokumentarfilme zeigt und wie Dokus zukünftig besser für das Gemeinwohl eingesetzt werden könnten.

Thorolf Lipp

© AG DOK

Vor ziemlich genau einem Jahr erschien hier ein kurzes Interview mit Jörg Schönenborn (ARD-Koordinator Fernsehfilm), u.a. zum Anteil des Dokumentarfilms im öffentlich-rechtlichen Programm. Mit dem folgenden Interview soll dieses Thema näher beleuchtet werden. Thorolf Lipp ist einerseits selbst Filmemacher, andererseits Mitglied im Vorstand der AG DOK, der größten Interessenvertretung für Dokumentarfilmer in Deutschland.

 

+++ Das folgende Interview gibt es auch als Longread im PDF. +++

Herr Lipp, Sie plädieren für eine Reform der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (ö/r) hinsichtlich des Produktions- und Verwertungsmodells, insbesondere im Bereich des Dokumentarischen. Warum?

Thorolf Lipp: Ich bin seit zehn Jahren auf Verbandsebene medienpolitisch tätig und glaube inzwischen nicht mehr, dass das bestehende ö/r System in seiner Gesamtheit reformierbar ist. Das ist bedauerlich, aber dafür ist das Besitzstandswahrungsdenken in den Anstalten zu ausgeprägt. Die Institutionen sind zu groß, zu saturiert und gleichzeitig, aufgrund ihrer unbestreitbaren Finanz- und Meinungsmacht, relativ beratungsresistent. Einen Umbau des Systems, eine Neudefinition des Funktionsauftrages bzw. der Weg dorthin kann es daher nur im Rahmen einer größeren gesellschaftlichen Debatte geben.
Ich denke, wir sollten die ö/r Anstalten im Grundsatz in der jetzigen Form erhalten. Die Politik muss aber jetzt den Mut haben, einzelne Aufgabenbereiche eines ö/r Mediensystems gänzlich neu zu denken und institutionell neu aufzustellen. Die dafür notwendigen Mittel sollen aufkommensneutral aus den bestehenden Beitragseinnahmen generiert werden. Anders gesagt: Die Anstalten müssen nach und nach schrumpfen, damit aus den freiwerdenden Mitteln etwas Neues entstehen kann, das dem eigentlichen Willen des Gesetzgebers, und den Bedürfnissen der Gesellschaft im digitalen Zeitalter deutlich besser entspricht als der Status Quo, der beides nicht ideal erfüllt.

Was genau stellen Sie sich vor?

Lipp: Es gibt in der AG DOK die Arbeitsgruppe „Docs for Democracy“, die an einem spezifischen Reformvorschlag arbeitet. Dabei liegt der Fokus auf einer Bewegtbildproduktion aus allen Teilen der Gesellschaft heraus, die zum Gelingen des demokratischen Prozesses beiträgt. Für mich ist eins klar: Das Dokumentarische wird glaubwürdig, gemeinwohlorientiert und frei zugänglich sein, oder unsere Gesellschaft wird in absehbarer Zukunft nicht mehr demokratisch sein, weil eine gemeinsame Informationsbasis – die aber Ausgangsbedingung für den demokratischen Prozess ist – verloren geht. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass wir genau diese Tendenz weltweit beobachten können. Es ist höchste Zeit, dem entgegenzuwirken. Wir brauchen ein viel höheres Maß an Demokratievermittlung und Verständigungskultur in den Medien als es derzeit der Fall ist.
Unsere Arbeitsgruppe Docs for Democracy möchte mit 2% des Beitragsaufkommens eine Direktbeauftragung der Produktion dokumentarischer Bewegtbildinhalte ermöglichen, jenseits des oft erratischen Redaktionswesens und der unbefriedigenden Produktionsbedingungen. Verwaltungsrechtlich ist das ohne Weiteres machbar. Alle so entstehenden Produktionen sollen im deutschsprachigen Raum über CC Lizenzen für das Publikum, aber auch für den Einsatz in Bildung, Wissenschaft, Museen etc., unbeschränkt frei verfügbar sein. Das Stichwort lautet: Öffentliches Geld wird ohne Wenn und Aber zu öffentlichem Gut.

Warum hätte das für die Gesellschaft einen Mehrwert?

Lipp: Die nachhaltige und kostenlose öffentliche Nutzung ist ein erheblicher Mehrwert und entspricht dem Bedürfnis der Bürger. Genauso wie die einfache und vor allem dauerhafte digitale Auffindbarkeit und die legale Intensivierung des Medieneinsatzes in Schule, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Beides ist derzeit nicht der Fall. Gleichzeitig geht es aber um die Abbildung gesellschaftlicher Diversität in Form, Inhalt und Akteuren vor und hinter der Kamera.
Ich sehe aber auch einen unmittelbaren Mehrwert für die politischen Entscheider: Eine Stärkung des demokratischen Diskurses durch die Realisierung gesellschaftlicher Vielfalt unter Vorzeichen des Gemeinnützigkeits- und Gemeinwohlgedankens, der ja mit Blick auf den Journalismus schon seit einiger Zeit diskutiert wird. Im Übrigen ist die Realisierung des Projektes ein kostenneutraler, dafür aber öffentlich sofort sichtbarer Beitrag zur Reform des ö/r Rundfunks, die sich seit Jahren weitgehend ergebnislos dahinschleppt.

Zitiert

Ich glaube, dass Vielfalt nicht wirklich gewünscht ist.

Thorolf Lipp

Sie fordern, 2% des Rundfunkbeitrags für Dokumentarfilme. Aber finden Sie nicht, dass es bereits ausreichend dokumentarisches Programm gibt?

Lipp: ARD und ZDF behaupten, dass das dokumentarische Genre zu den zentralen Kernkompetenzen des ö/r Systems zähle. Die Zahlen sehen jedoch anders aus:
Die Gesamtausgaben der ARD für alle dokumentarischen Auftragsproduktionen zwischen 15 und 90+ Minuten betrugen 2018 gerade einmal 0,77% der kumulierten Gesamteinnahmen (57,93 Mio. von ca. 6500 Mio., ARD-Produzentenbericht 2018). Beim ZDF liegt dieser Wert bei 2,13%, ist aber immer noch sehr niedrig, verglichen mit den Kosten anderer Programmbereiche bzw. der Systemkosten. (ZDF-Einnahmen 2018: 2.193,4 Mio.; „Beschaffungsaufwand für Auftrags- und Koproduktionen“ 2018, Bereich Dokumentationen/Reportagen: 46,6 Mio.)
Besonders beklagenswert ist die finanzielle Ausstattung des langen, unformatierten Dokumentarfilms. Sein Anteil an den Gesamteinnahmen von ARD und ZDF liegt im Promillebereich. Dabei reüssiert das Genre auf Festivals und ist für die Darstellung komplexer Themen durch nichts zu ersetzen. Die Sender finanzieren abendfüllende Dokumentarfilme aber in aller Regel nur noch zwischen 15% und 35 %. Den Rest tragen Filmförderanstalten und die Produzenten bzw. Regisseure, Kameraleute, Editoren etc. u.a. durch Selbstausbeutung.
Gemessen an der Bedeutung des nonfiktionalen Genres für die Erfüllung des Auftrages ist der Finanzierungsanteil der ö/r Anstalten also viel zu niedrig. Die Diskussion über diese mangelhafte Finanzierung tritt seit Jahren weitgehend ergebnislos auf der Stelle – genau wie die damit eng verknüpfte Debatte über den Kern des ö/r Auftrages.

In ARD und ZDF gibt es über 100 Krimiserien bzw. Reihen. Wie stellt sich demgegenüber die Vielfalt beim Dokumentarfilm dar?

Lipp: Es gibt vor allem sehr viel relativ Gleiches. Die AG DOK hat 2019 mit der Studie „Deutschland – Doku Land“ eine vom unabhängigen Medienjournalisten Fritz Wolf verfasste aktuelle Erfassung dokumentarischer Programme veröffentlicht. Aus der geht sehr eindeutig hervor, dass die vom Bundesverfassungsgericht immer wieder eingeforderte Vielfalt zu kurz kommt: Einzelstücke, künstlerische und experimentelle Kinodokumentarfilme, Hintergrund- und Kulturberichterstattung, wirklich differenzierte Auslandsberichterstattung. Nicht zuletzt müssten Zukunftsthemen wie Wissenschaft, Forschung, Technikfolgen-Abschätzung, Digitalisierungs- oder Umwelt-Themen eine noch viel stärkere Rolle spielen. Genauso wie Philosophie, Religion und Kulturwissenschaft.

In der Studie von Fritz Wolf steht aber auch, dass z.B. die ARD pro Jahr etwa 2200 Stunden dokumentarische Neuproduktionen zeigt. Ist das nicht ausreichend?

Lipp: Heruntergerechnet sind das etwa 34 Minuten dokumentarisches Programm ab 15 Minuten Länge pro ARD-Sender und Tag. Angesichts dessen was in der Welt so passiert, empfinde ich diesen Anteil nicht als besonders hoch. Und nur 0,5% bis 1% dieser 2200 Stunden pro Jahr entfallen auf den unformatierten langen Dokumentarfilm. Ein Großteil sind hochformatierte Dokus für bestimmte Sendeplätze. Darunter sehr viel Menschelndes und eine Menge eher oberflächliche Reisefilme.

Können Sie das etwas genauer erläutern?

Lipp: Formatfernsehen muss in seiner Machart möglichst exakt der vermuteten Erwartungshaltung des Zuschauers an einen Sendeplatz entsprechen. Für formatierte Sendeplätze gibt es zum Beispiel oft ein Minutenschema: In den ersten 30 Sekunden soll das Thema dramatisch überspitzt angerissen werden, dann sollen in den nächsten 2-3 Minuten die wichtigsten Protagonisten und deren Herausforderung vorgestellt werden usw. Es wird eine bestimmte Schnittgeschwindigkeit gewünscht, ein spezifischer Einsatz von Musik und Kommentar. Ein weiteres Merkmal ist die häufige Verwendung der Parallelmontage. Bei einem Sendeplatz wie „Menschen hautnah“ (WDR) oder „37°“ (ZDF) werden in der Regel zwei oder drei Geschichten parallel erzählt, man springt also permanent von einem Protagonisten zum nächsten und das Tempo ist enorm hoch, man kann sich kaum auf eine Geschichte bzw. einen Protagonisten einlassen. Hinzu kommt ein ständiges Überbetonen der Emotionalität, womit letztlich versucht wird, dramaturgische Mechanismen des Spielfilms zu kopieren was nicht selten zu einer sehr einseitigen Themen- und Protagonistenwahl führt, wie die Affäre um gecastete Darsteller im WDR beispielhaft zeigt. Gleichzeitig ist aber, obwohl sich das jetzt paradox anhören mag, für eine originär filmische Herangehensweise, die den Bildern selbst Platz einräumt, auf solchen Sendeplätzen in der Regel kein Platz mehr.

Welche Sendeplätze sind Ihrer Ansicht nach ebenso formatiert?

Lipp: Die Formatierung betrifft ca. 80% der dokumentarischen Sendeplätze. Ausnahmen bilden der lange Dokumentarfilm und ein paar wenige verbliebene, freiere Sendeplätze für kürzere Stücke. Formatierung soll Wiedererkennbarkeit herstellen und den Zuschauer binden, sie soll über eine Vertrautheit mit der äußeren Form den Zugang erleichtern, aber auch komplexe Sachverhalte vereinfachen und gefälliger machen. Wenn Sie sich ein paar Folgen der erwähnten Formate anschauen, erkennen Sie die standardisierten dramaturgischen Muster.

Was genau dabei ist das Problem?

Lipp: In der Tendenz werden dort gesamtgesellschaftliche Phänomene, Probleme und Herausforderungen sehr oft anhand von Einzelschicksalen erzählt, die dann meistens auch noch emotional zugespitzt werden. Das ist nicht immer per se schlecht, in der Summe all dieser Filme entsteht aber ein verzerrtes, viel zu emotionalisiertes und drastisches Bild der Wirklichkeit. Man versucht häufig, eine komplexe und widersprüchliche Welt anhand weniger Protagonisten verstehbar zu machen und so deren eigentlich ja immer gegebenen Verlässlichkeitsmangel zu überspielen. Diese de facto Fiktionalisierung durch extreme Verdichtung, verlässliche Erzählmuster und äußere Formen ist in den letzten 30 Jahren zu einer sehr dominierenden Konvention des dokumentarischen Erzählens geworden die kaum noch Freiräume übrig lässt für andere Herangehensweisen.

Wie ist diese Konvention, von der Sie sprechen, entstanden?

Lipp: Aus Gewohnheiten, aus impliziten Annahmen und Theorien über das Geschichtenerzählen, aus expliziten, vermeintlich genau messbaren Reaktionen der Zuschauer und einem immer stärkeren Fokus auf die Quote. Die Messung der Einschaltquote wurde ja ursprünglich als Gradmesser dafür eingeführt, wie, wo und wodurch die Zuschauer am ehesten Werbesendungen konsumieren, sie wurde dann aber sehr schnell auch zum Maßstab im werbefreien Programm und lässt andere qualitative Kriterien oder den Public Value-Gedanken in den Hintergrund treten.
Spätestens seit den 1990er Jahren sind viele Redaktionen schlicht zu einem vermeintlich alternativlosen Marktgedanken übergegangen: ‚Wir müssen dem Zuschauer das anbieten, was er offenkundig goutiert und braucht. Und was das ist, wissen wir über die Quote‘. Und da fängt das Missverständnis des ö/r Auftrags schon an. Denn eigentlich ist der ö/r Rundfunk dazu da, den mündigen Bürger zu wollen und dem Publikum immer wieder Angebote ’nach oben hin‘ zu unterbreiten. Er soll aufklären, informieren, Perspektiven eröffnen, anstatt immer nur das Gleiche zu zeigen.

© Arcadia Film


Viele Länder beneiden Deutschland um das öffentlich-rechtliche System. Klagen Sie nicht auf sehr hohem Niveau?

Lipp: Ich würde nicht sagen, dass das öffentlich-rechtliche System im aktuellen Zustand eine absolute Erfolgsgeschichte ist. Damit meine ich nicht nur die mangelnde Vielfalt.
Wir sehen an den sogenannten „alternativen Medien“, dass es offenbar ein Bedürfnis und auch Akzeptanz für andere Sichtweisen und erzählerische Zugänge gibt. Allerdings besteht hier dann das Problem oft darin, dass die Macher dieser Medien, denken Sie z.B. mal an Ken Jebsen oder Eva Hermann, in die Nähe von Verschwörungstheorien oder politischer Propaganda geraten.
Meiner Ansicht nach hat das im Wesentlichen mit zwei Faktoren zu tun: Einmal wird hier die ganz bewusste, auch provokative, Abgrenzung zum vermeintlichen Mainstream, zur so gescholtenen ö/r „Lügenpresse“ gesucht. Dabei werden aber durchaus immer wieder einmal Argumente zutage gefördert, die in der Debatte ansonsten nicht vorkommen. Auf der anderen Seite sind diese Medienmacher aber chronisch unterfinanziert und können sich in der Regel auskömmlich finanzierte Recherchen, bei denen vor Ort Einsichten aus erster Hand produziert werden, gar nicht leisten, was nicht selten zu eklatanten handwerklichen Fehlern oder auch zur Bildung von Verschwörungstheorien führt.

Der diffamierende Begriff „Lügenpresse“ verdeutlicht eine Skepsis, die sich vor allem auch gegen den ö/r richtet. Woher kommt diese Skepsis?

Lipp: Öffentlich-rechtliche Medien haben zwei Aufgaben: Zu spiegeln, was in der Gesellschaft los ist. Und es einzuordnen. Der Unmut eines nicht geringen Teils der Bürger*innen mit dem Status Quo besteht auch in dem Umstand, dass es kaum mehr Beobachtung, dafür aber sehr viel Einordnung gibt. Das damit einhergehende Gefühl führt aber bei den Bürger*innen heute offenbar vielfach nicht mehr zur gewünschten Orientierung. Sondern es führt zu einem Gefühl der Entmündigung, das oft eher in Ressentiment umschlägt, statt in konstruktive Debatten.
Die Skepsis gegenüber den ö/r Medien hat aber auch mit Ästhetik zu tun, damit, wie wir Geschichten erzählen. Häufig behauptet im TV-Dokumentarismus ja ein auktorialer Erzähler, wie man das Gesehene bewerten soll. Dadurch hören wir den Protagonisten nicht wirklich zu, wir interpretieren Bilder nicht selbst, sondern meist sagt uns ein älterer Mann mit ehrfurchtgebietender Stimme, wie wir sie verstehen sollen. Genauso wirkungsvoll ist der Einsatz der gefühlt immer gleichen, emotionalisierenden Musik die den Zuschauer fesseln soll und ihm gleichzeitig die Botschaft schon unterschummelt. Diese Strategien nähren inzwischen bei vielen Zuschauern Unmut. Dass dieser Unmut sehr viel mit der Form, der Ästhetik zu tun hat ist den meisten Programmverantwortlichen aber gar nicht klar, da bin ich mir ziemlich sicher.

Sie beschreiben eine Verengung im TV-Dokumentarismus, woran machen Sie die fest?

Lipp: Es hat eine Vereinheitlichung von Form und Inhalt gegeben die auch zu einer Verflachung des Zugangs geführt hat. Markt-Player mit globaler Benennungsmacht haben Standards gesetzt: etwa National Geographic und Discovery- und History Channel, die viele Themen mit der immer wieder gleichen narrativen Form umsetzen. Grundsätzlich kann man sagen, dass die überwiegende Mehrzahl solcher TV-Dokumentationen bebilderte Texte sind, sich also nicht in erster Linie auf das Bild verlassen und das, was man darin entdecken könnte. Man verlässt sich aber auch nicht auf das, was einem die Protagonisten sagen. Sondern man verlässt sich auf den gesprochenen Text aus dem Off.
Ich will nicht leugnen, dass es Ausnahmen gibt, kluge Filme mit einer anderen Herangehensweise. Doch grosso modo haben sich bestimmte dramaturgische Konventionen etabliert, die als „professionell“ gelten und nur sehr schwer aufzubrechen sind. Viele Dokumentaristen, die an der Filmhochschule ausgebildet wurden, die ihre Arbeit ernst nehmen und die vielen anderen historisch gewachsenen Formen und Zugänge kennen, hadern damit und liegen dann nicht selten im Clinch mit den ö/r Redakteuren. Weil ihre Arbeit in eine Form gepresst werden soll, die sie aus einer informierten, künstlerischen Perspektive heraus oft gar nicht wollen. Sich da selbst treu zu bleiben ist fast unmöglich, weil das Oligopol der ö/r Auftraggeber kaum zu überwinden ist. Wenn es gelingt, dann meiner Wahrnehmung nach eigentlich nur beim langen, unformatierten Dokumentarfilm. Und auch da ist das schwierig, denn egal wo, das Angebot an gefälligen Stoffen und stromlinienförmigen Zugängen ist nach wie vor weit größer als die Nachfrage.

Warum fehlt, Ihrer Ansicht nach, die Vielfalt an Formen im Dokumentarfilmprogramm des ö/r?

Lipp: Ich glaube, dass Vielfalt nicht wirklich gewünscht ist. Es gibt eingeübte soziale Praktiken, unausgesprochene Prämissen darüber, was dem Zuschauer zumutbar ist, welche Themen und Formen ankommen, wie man ein Thema anpackt, oder eben nicht anpackt. Es ist die Rolle der Redakteure, die Vorstellungen der Regisseure „einzudengeln“ wie mir mal der Programmchef von ZDF Info, Robert Bachem, ganz unverblümt gesagt hat. Das mag innerhalb des von ihm akzeptierten Begründungszusammenhanges auch stimmig sein. Richtig ist es meiner Ansicht nach nicht, denn dadurch kommen eigene Sichtweisen oder offenere filmische Zugänge definitiv zu kurz. Darin besteht in meinen Augen ein nicht heilbares Problem des Redaktionswesens.
Die Gatekeeper-Funktion des Redakteurs kann, mit Maß eingesetzt, in bestimmten Kontexten richtig und auch hilfreich sein. In einer Zeit jedoch, in der sich die Gesellschaft rasend schnell weiter ausdifferenziert, kann man von den paar handvoll Dok-Redakteuren im ö/r TV-System schlicht nicht erwarten, ein wirklich ausreichend gutes Gespür für die zigtausenden, neu entstehenden und auch wieder vergehenden Lebenswelten, Trends, Problemlagen, etc. zu entwickeln. Ein Redakteur kann, auch bei sehr viel Selbstreflexion und gutem Willen, am Ende doch immer nur sich selbst zum Maßstab nehmen.
Ich glaube daher, dass wir künftig neue, zumindest teil-randomisierte Entscheidungsfindungsprozesse für die Produktion von Inhalten brauchen, ohne dass es eine/n machtvolle Redakteur*in gibt, die wesentlichen Einfluss auf Themen, Sichtweisen und Ästhetik ausübt.

Auf den Sendern des ZDF kommen die meisten Dokumentarfilme aus der Reihe „Terra X“. Wie bewerten Sie als Dokumentarfilmer „Terra X“?

Lipp: An dieser Reihe wird ein grundlegendes Missverständnis deutlich: Die Produktionen aus der Reihe „Terra X“ (ZDF) sind keine Dokumentarfilme, sondern hochformatierte TV-Dokumentationen. Um das Label „Film“ zu verdienen, müsste jedes Terra X Stück völlig anders aussehen, denn einen „Film“ zeichnet ja, so jedenfalls die mir geläufige filmwissenschaftliche Perspektive, gerade die je einzigartige Bezugnahme von Form und Inhalt aufeinander aus. Bei Terra X ist aber genau das Gegenteil der Fall, das sind TV-Dokumentationen mit einer maximal geschlossenen Form. Diese Produktionen sind insofern ein gutes Beispiel dafür, wie komplexe Themen in sehr einfache Häppchen zerlegt werden, oft mit viel Fiktionalisierung in Form von Re-Enactment und immer mit einem omnipotenten Erzähler oder sympathischen, gutaussehenden Presentern, fast immer übrigens männlichen Geschlechtes. So versucht man, an sich komplexe Inhalte über eine sehr populistische Machart einem großen Publikum schmackhaft zu machen. Das ist nicht per se falsch. Allerdings wird durch die im Kern immer gleiche äußere Form, die den Zuschauer binden soll, eine Homogenität der Welterfahrung hergestellt, die so in der Realität nicht existiert. Alle Fragen werden beantwortet, maximal darf am Ende vielleicht eine rhetorische Frage stehenbleiben.
Für mich wird dadurch weniger Verständnis als die Illusion von Verständnis erreicht. Es wird auch oft so getan, als würde man wissenschaftlich absolut gesicherte Erkenntnisse wiedergeben, was aber oft nicht stimmt, weil die präsentierten Sachverhalte meist notgedrungen viel zu stark vereinfacht werden. Im Grunde hat sich die populäre Darstellung der Welt hier vom Stand der Wissenschaft immer weiter entfernt. Dazu ein Beispiel aus meiner eigenen Produktionspraxis: Wo sie uns überhaupt noch begegnen (denn eigene Sendeplätze dafür gibt es nicht mehr) begegnen uns die Angehörigen indigener Völker fast ausschließlich als exotische Kulissenschieber. Sie passen so schön in die idyllische Landschaft. Zu Wort kommen sie nur selten, denn das, was sie sagen, will nicht recht zum Format passen. Das war in den 1970er, 80er und 90er Jahren noch anders.
Solche Vereinfachungstendenzen tun der Demokratie aber nicht gut, das Fernsehen giert allerdings nach dieser Einfachheit. Das dokumentarische Genre sollte der Komplexität nicht aus dem Weg gehen und zumindest zwischen diesen Polen vermitteln, das wäre seine wichtigste Aufgabe.

Welche anderen Ansätze und Lesarten würden Sie sich bei TV-Dokus häufiger wünschen?

Lipp: Ich bin Ethnologe und in der Ethnologie hat man sich seit jeher sehr intensiv Gedanken gemacht, wie man fremde kulturelle Wirklichkeit in eine filmische Darstellung übersetzen kann. Da gibt es großartige Filme die Filmgeschichte geschrieben haben. Ein Beispiel aus Deutschland wäre „Schamanen im blinden Land“ von Michael Oppitz, ein vierstündiger Film über den Schamanismus in Nepal, produziert vom WDR (1980). Es gab damals eine ausdifferenzierte Herangehensweise und auch noch Mittel für solche Projekte, der Film hat 500.000 D-Mark gekostet, das entspräche heute ca. 550.000 Euro. Der Film ist ein Klassiker, zieht unverändert die Zuschauer in seinen Bann und wird die Zeiten viel eher überdauern als hunderte von schnell gestrickten Dokus die sofort nach dem Ansehen schon wieder vergessen sind.
Bezeichnend ist, dass sich heute alle Sender aus der Produktion von Filmen oder Filmreihen verabschiedet haben, die explizit das wirklich informierte und differenzierte Näherbringen von fremden Kulturen zum Inhalt hatten. So gab es z.B. seit den 1960er Jahren im WDR, SWR und NDR einen wöchentlichen 45-minütigen Sendeplatz „Länder-Menschen-Abenteuer“. Dort hatte man auch vor 20 Jahren noch die Möglichkeit, als Ethnologe Filme aus einer wirklich wissenschaftlich informierten Perspektive heraus zu machen und mit reflektierten filmischen Mitteln im Fernsehen ein Publikum zu erreichen. Diese Nische gibt es heute nicht mehr.

Warum?

Lipp: Einerseits sind die Etats dafür inzwischen viel zu klein, andererseits will die letzte verbliebene, beim NDR angesiedelte Redaktion, bei „Länder, Menschen, Abenteuer“ zwischen fünf und sieben Protagonisten mit ihren Geschichten pro Film sehen. Es geht also nicht um Tiefe und eine differenzierte Betrachtungsweise, sondern man möchte gerne bebilderte Hochglanzreiseprospekte von 45 Minuten Länge möglichst billig einkaufen. Für mich zeigt das pars pro toto, wie die Bereitschaft in vielen Redaktionen verloren gegangen ist, einem Thema wirklich auf den Grund zu gehen. Und damit ist sukzessive auch die Bereitschaft des TV-Publikums zurückgegangen, sich auf längere Erzählweisen einzulassen.

Wenn eine TV-Doku meist nicht länger als 45 Minuten dauert, hat das dann mit der Aufmerksamkeitsspanne der Zuschauer zu tun oder mehr mit den Sendern, die ihren Zuschauern längere Dokumentarfilme nur ungern zumuten?

Lipp: Die Situation ist widersprüchlich. Denn auf der einen Seite reüssiert im linearen TV und auf Plattformen wie Youtube das Oberflächliche, schnell Vergängliche. Medien Fast-Food. Die sowohl belanglose, wie unpolitische und gleichzeitig oft sexuell aufreizende Miniatur wird derzeit insbesondere von Tiktok auf die Spitze getrieben.
Auf der anderen Seite aber gibt es eine deutliche Gegenentwicklung, denn paradoxerweise haben z.B. die Dokumentarfilmfestivals einen stetig zunehmenden Zuschauerzuspruch. Und in den ö/r Mediatheken werden gerade lange Filme überproportional häufig angesehen. Und zwar in voller Länge, wie die IT-Abteilungen recht gut zeigen können. Es gibt also, als typische kulturelle Gegenbewegung, auch wieder die Lust am Langen und Komplexen. Trotzdem produzieren die ö/r Sender weitgehend wie vor der Digitalisierung und transportieren die hier in 65 Jahren eingeübte lineare Logik nun ins Digitale – wo sie ja eigentlich Freiräume für ganz andere Längen, Themen und filmische Formen hätten.
Bei Netflix ist es ja genau andersherum: Dort gilt nicht, dass jeder Teil einer Serie genau 43 Minuten lang sein soll, sondern da bemisst sich die die Länge nach dem Inhalt. Das ist für die Kreativen zunächst mal ein großer Gewinn, weil so das Wesentliche wieder in den Vordergrund rücken kann, nämlich eine je eigene Symbiose von Form und Inhalt. Die ö/r Programmverantwortlichen haben das meiner Meinung nach noch nicht in ausreichendem Masse verstanden, weshalb sie vielfach noch an den alten Schemata festhalten, was wiederum auch mit eingeübten sozialen Praktiken und den oben schon erwähnten, nicht heilbaren Schwächen des Redakteurswesen zu tun hat. Ich räume allerdings ein, dass sich gerade Einiges ändert, der SWR investiert stärker in Online-Inhalte, ebenso der BR. Es gibt Anzeichen, dass man sich von den starren Format-Schemata zu lösen möchte.

Wenn ich Sie richtig verstehe, verlieren die Sender aber auch durch ein zu ‚flaches‘ Programm Zuschauer…

Lipp: Ja, sie haben meiner Wahrnehmung nach in den letzten 30 Jahren einen beträchtlichen Teil des intellektuellen Publikums verloren, weil sie sich der Verflachung und dem Quotendruck, den die Privatsender aufgebaut haben, in vielen Bereichen kampflos ergeben haben.

Was sagen Sie, wenn die geringe Zahl an Dokumentarfilmen in Das Erste damit verteidigt wird, dass es sich um ein „Vollprogramm“ handelt und man Arte schauen kann, wenn man lange Dokumentarfilme sehen möchte.

Lipp: Aber dann schauen Sie sich das Arte-Programm einmal genauer an. Die meisten Dokumentationen dort sind hochformatiert und die Auswahl der Inhalte ist sehr eingegrenzt: Tiere und Menschen geht immer. Schöne Landschaften aus der Luft, unverfängliche bunte Aufnahmen, der Sendeplatz ‚Arte-Entdeckung‘ ist in der Regel komplett unpolitisch, es gibt kulinarische Reisen durch Italien oder Sendereihen wie „zu Tisch in“ etc. Das hat mit Dokumentarfilm nichts zu tun, sondern das sind Hochglanzmagazine für ein Lifestyle-Publikum. Ja, es gibt auch Ausnahmen, aber der Esprit den Arte in den Gründungsjahren hatte, der ist weg. Der lange Dokumentarfilm fristet auch bei Arte inzwischen ein schlecht finanziertes Nischendasein. Das grand format ist faktisch schon vor Jahren abgeschafft worden. In der Konsequenz hat sich das wirklich anspruchsvolle Publikum oft schon von arte abgewendet.

Wie lässt sich das feststellen?

Lipp: Diesen Umstand hat mir gegenüber letztes Jahr anlässlich des ZDF-Produzententages der Programmchef von Arte Deutschland, Bernd Mütter, ganz unumwunden zugegeben. Arte, so meinte er, hätte bei den Zuschauern einen Akademiker-Anteil von 30 Prozent. Das sei ihm aber noch zu viel. Deshalb wolle er mit den „Einstiegsschwellen“ noch weiter runtergehen, um auch andere Zuschauergruppen zu erreichen. Ich halte das für fatal. Es studieren heute weit mehr als 50% der Schulabgänger, trotzdem hat man sich sehenden Auges ausgerechnet von dieser Bevölkerungsgruppe entfernt obwohl sie Gesellschaft maßgeblich mitgestaltet. Menschen die für mündige Bürger gehalten werden wollen und selbst entdecken und gestalten möchten. Diese Klientel hat man, so ist jedenfalls meine Wahrnehmung, vielfach verloren. Der Begriff „Bildungsfernsehen“ war spätestens seit den 2000er Jahren geradezu ein Schimpfwort. Das kann man auch daran sehen, dass Zukunftsthemen wie Wissenschaft und Technik im Programm fast völlig fehlen – obwohl die für unsere Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind. Unterfinanziert sind diese Programmbereiche sowieso, denn diese Themen werden ja im Grunde ausschließlich im Rahmen von Dokumentationen oder Dokumentarfilmen behandelt für die, wie vorhin erwähnt, lediglich 0,77 % (ARD) oder 2,13% (ZDF) der kumulierten ö/r Gesamteinnahmen investiert wird.

Sehen Sie zumindest bei den Sendezeiten eine positive Entwicklung? Die ARD zeigt ja inzwischen häufiger lange Dokumentarfilme am Montag um 20:15 Uhr.

Lipp: Prime-Time oder wenigstens Second-Prime-Time Sendeplätze gibt es so gut wie nicht. Die AG DOK hat im vergangenen Jahr beim Leipziger Medienrechtler Hubertus Gersdorf ein Gutachten in Auftrag gegeben, mit dem geklärt werden sollte, ob die Politik im Rahmen von Korridoren bestimmte Programmsparten stärker festlegen kann, ohne dadurch in die Programmhoheit einzugreifen. Das Ergebnis war positiv, es wäre also durchaus möglich, ARD und ZDF z.B. dazu zu verpflichten, jede Woche in der Primetime oder der Second Primetime mindestens einen langen unformatierten Dokumentarfilm zu senden, sprich zwei Filme pro Woche.

Was sagen die Sender dazu?

Lipp: Die sagen, das ginge ja gar nicht, weil es so viele Prime-Time-fähige deutsche Dokumentarfilme gar nicht gäbe. Besser kann man das eigene Versagen nicht konstatieren. Wenn man bestimmte Vorstellungen für „Prime-Time“ Dokumentarfilme hat, dann muss man Geld in die Hand nehmen und Strukturen schaffen und eben dafür sorgen, dass es diese Filme in verlässlicher Zahl und Qualität auch geben kann. Oder man muss den Mut haben, andere Kriterien an „Prime Time“ anzulegen als die, die sich derzeit lediglich am Massengeschmack orientieren. Wer sollte denn sonst dafür verantwortlich sein, wenn nicht das ö/r Oligopol als einziger Auftraggeber?

Nun wird die Programmhoheit von den IntendantInnen häufig angeführt, wenn den Sendern Veränderungen im Programm nahegelegt werden. Wird dieses Argument auch ausgenutzt für ein „Weiter wie bisher“?

Lipp: Da würde ich Ihnen nicht widersprechen, das ist auch Teil der Kritik der AG DOK. Das, was der Gesetzgeber will, und das was die Sender machen, ist de facto nicht deckungsgleich. Und auch wenn wir gebetsmühlenartig diese Kritik wiederholen, führt es kaum zu Veränderungen. Wenn im sogenannten „Framing-Gutachten“ der ARD betont wird, es sei „unser gemeinsamer öffentlich-rechtlicher Rundfunk“ oder „die ARD ist die Gesellschaft“ – dann stelle ich fest, dass die Realität anders aussieht. Und das lässt sich mit Zahlen eindeutig belegen. Das gerade schon erwähnte Gutachten von Hubertus Gersdorf zeigt, dass es aus verfassungsrechtlicher Perspektive unproblematisch wäre, wenn die Politik stärkere Vorgaben macht, was die Pflicht zur Programmvielfalt anbelangt.

Welchen Einfluss können eigentlich die Rundfunkräte ausüben?

Lipp: Ich denke, dass die Rundfunkräte die Situation nur sehr bedingt verändern können. Dafür müsste man sie zunächst mal deutlich professionalisieren. Die Rundfunkräte sind ja nicht per se Medienspezialisten. Sie kommen vielmehr aus verschiedensten Berufen und gesellschaftlichen Hintergründen und können vielfach nur sehr eingeschränkt beurteilen, was in den Sendern wirklich passiert. Zudem sind die Räte auch heute noch in politischen Gruppierungen bzw. Freundeskreisen organisiert, das scheint bei Entscheidungsfragen oft wichtiger zu sein als Sachfragen. Die AG DOK hat z.B. eine Vertreterin im WDR-Rundfunkrat, die dort erlebt, wie die Mitglieder ständig mit Zahlenmaterial bombardiert werden – ohne dass diese die Zeit oder das Hintergrundwissen haben, diese Zahlen auch wirklich einordnen zu können. Es hat immer wieder Ausnahmen in Form von einzelnen Akteuren gegeben, die ganz besonders aktiv waren. Aber im Großen und Ganzen scheint mir das Rätesystem tendenziell überfordert zu sein.

Sehen Sie denn auf Seite der Politik schon Bewegung?

Lipp: Ein bisschen, ja. Wenn man sich die im Oktober 2019 neu verfassten Medienprogramme der Bundestagsparteien anschaut, sieht man, dass z.B. SPD, Grüne und Linke inzwischen mit der Vorstellung liebäugeln, dass es für bestimmte Programminhalte eine Art Quote geben muss. Ganz ähnlich, wie Gersdorf das vorgeschlagen hat. Das würde konkret bedeuten: Viel weniger Krimis, Talk und Sport, viel mehr Literaturverfilmungen, Kurzfilm, Animationsfilm und eben das Dokumentarische in allen seinen Spielarten. Eine Studie des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages (PDF) von 2019 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.
Andererseits sehe ich nach wie vor eine gewisse Lethargie im politischen Sektor. Medienpolitik ist nicht unbedingt hilfreich bei der Karriere und wird immer noch nicht so ernst genommen wird, wie man sie eigentlich nehmen müsste. Allerdings bin ich, z.B. angesichts der Reform des deutschen Medienstaatsvertrages, zaghaft optimistisch, dass die Politik erkennt, welche Bedeutung eine kluge Regelung des Mediensektors für die Zukunft unserer Gesellschaft tatsächlich hat und dass dabei eine Reform des ö/r Rundfunks die entscheidende Rolle spielt. Die Überlegungen Gersdorfs fanden dabei Eingang in die Debatte.

Kritik gibt es immer wieder an der finanziellen Ausstattung der Sender. Braucht es für die Erfüllung des Programmauftrags acht Milliarden jährlich?

Lipp: Ich denke, dass das System in vielen Bereichen tatsächlich zu aufgebläht ist. Nach meiner Auffassung haben die Sender in der Vergangenheit über ihre Verhältnisse gelebt, dabei aber spätestens seit dem Aufkommen des privatrechtlich organisierten Rundfunks den ö/r Fokus zu stark aus den Augen verloren, durch den Wettbewerb um die Aufmerksamkeit. Das Gehaltsniveau ist bis heute überdurchschnittlich, entsprechend hoch sind auch die Rentenbelastungen. Das System ist mit 21 ö/r TV-Sendern , die sich in Vielem sehr ähneln, in die Breite mäandert. Wenn man das heute ganz neu aufsetzen würde, würde man mit einiger Sicherheit vieles anders und schlanker machen. Und man muss auch festhalten: Vieles, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk heute doppelt und dreifach anbietet, könnte genauso gut auch der Markt erledigen.
Gerade Fernsehen als Live-Massenmedium, auch ö/r Fernsehen, funktioniert heute vor allem mit den großen, teuren Sportveranstaltungen und mit einem überbordenden Angebot an fiktionaler Unterhaltung, vor allem Krimis, und Shows. Das macht de facto den Markenkern aus, dahin geht ein sehr großer Teil der Ressourcen. In der Logik der Quote ist das tatsächlich auch stimmig, denn die sogenannten „Vielseher“ mit sieben Stunden und mehr täglichem TV-Konsum bestimmen die Quote zu einem überproportional hohen Anteil, einfach weil sie so viel fernsehen: Sport, Krimis, Talk. Etwas überspitzt kann man sagen, dass für diese Zuschauergruppen das Programm besonders attraktiv gemacht wird.

Die Unterhaltung sorgt also für eine Popularität des Angebots…

Lipp: Unterhaltungsangebote sind für die Quote zwar wichtig, rechtfertigen aber das Beitragsprivileg nur zum kleineren Teil. In Wirklichkeit entsteht das Vertrauen der Bürger in das ö/r Rundfunksystem doch vor allem durch die drei anderen in den Rundfunkstaatsverträgen genannten Auftragszielen: Information, Bildung und Beratung. Diese werden auch durch die vielen Spielarten des Dokumentarischen abgedeckt, die jedoch mit viel zu kleinen Budgets und zu wenigen Produktionen abgespeist werden. Das Dokumentarische ist heute de facto ein Feigenblatt für die Existenzberechtigung eines aufgeblähten Systems, das in anderen Bereichen extrem viel Geld ausgibt, um mit öffentlichen Geldern Marktstrukturen begegnen zu können und sich dadurch eine fragliche Legitimität zu erkaufen. Obwohl die Beitragsgelder dafür nicht gedacht sind. Und diese Vermengung zwischen Markt- und Gemeinwohlgesichtspunkten hat weder dem ö/r System, noch uns Filmemachern oder der Gesellschaft insgesamt gutgetan.

Doch die Dokumentarfilme kommen doch dem Gemeinwohl zu gute, oder nicht?

Lipp: Das Problem ist: Anstatt, dass sowohl die Herstellung als auch die Nutzung dieser Filme von den Sendern wirklich voll bezahlt würden und dann der Allgemeinheit wirklich dauerhaft zur Verfügung stehen, sollen wir Produzenten uns darauf einlassen, dass wir solche Filme ohne vollständige Abgeltung der Herstellungskosten produzieren. In der Folge müssen wir dann notgedrungen versuchen, sie anderswo weiter auszuwerten. Etwa durch Verkäufe ins Ausland oder per Video-on-Demand etc. Sehr oft gelingt das aber nicht, z.B. weil das Thema sehr deutsch ist und für einen formatierten deutschen Sendeplatz mit ausschließlich deutschen Protagonisten hergestellt wurde. Die Folge ist, dass wir Produzenten sehr oft unter Kostendeckung arbeiten und die Filme nach einer oder zwei Ausstrahlungen und ein paar Tagen im Netz auf Nimmerwiedersehen verschwinden, wo sie doch eigentlich, weil mit öffentlichen Geldern (leider nur teil-) finanziert, dauerhaft gesehen werden sollten. Eine lose-lose Situation für Produzenten auf der einen und Zuschauer bzw. Gesellschaft auf der anderen Seite.
Versuchen Sie doch mal einen in den letzten Jahren mit öffentlichen Geldern (teil-)finanzierten Dokumentarfilm kostenlos anzusehen, der gesellschaftlich relevant war, kontrovers diskutiert wurde, Spuren hinterlassen hat. Etwa More than Honey (2012), Overgames (2016), Elternschule (2017), System Error (2018), Er_Sie_Ich (2018), Kulenkampffs Schuhe (2018) oder Heimat ist ein Raum aus Zeit (2019. Das wird aus den genannten Gründen schwierig werden.
Es gibt allerdings auch heute schon Ausnahmen.

Zum Beispiel?

Lipp: Die Bundeszentrale für politische Bildung hat eine sehr interessante kostenfreie Mediathek mit gesellschaftlich relevanten, deutschen Filmen aus den letzten Jahrzehnten aufgebaut. Die Plattform ist jedoch zu unbekannt. Kaum jemand wird hier solche Filme suchen, weil man sie da gar nicht vermutet. Außerdem muss man die Frage stellen, warum eine mit einem Haushalt von ca. 50 Mio. Euro im Jahr im Vergleich zu den 9 Milliarden schweren ö/r Anstalten vergleichsweise kleine Institution wie die Bundeszentrale für politische Bildung, eher Lizenzen zahlen kann, die eine langfristige Sichtbarkeit solcher Filme ermöglichen, als ARD und ZDF, deren ureigenste Aufgabe das eigentlich wäre? Tatsächlich lässt sich das ö/r System hier seinen Auftrag mit Steuergeldern der BPB subventionieren. Im Grunde wird da der Bürger zweimal zur Kasse gebeten: er muss Steuergelder für etwas bezahlen, was er eigentlich mit seinen Beitragsgeldern schon beglichen hat.

Wie stellt sich im Moment die Situation für DokumentarfilmproduzentInnen in Deutschland dar?

Lipp: Abgesehen von einer Handvoll größerer Produktionsfirmen haben wir es mit einer Vielzahl an sehr kleinen Unternehmen und Einzelkämpfern zu tun. Wenn man keinen Auftrag hat, lebt man nicht selten vom Einkommen des Partners oder von Grundsicherung. Meiner Wahrnehmung nach funktioniert tatsächlich ein Großteil der Branche so. Alle langen Dokumentarfilme, die bei ARD, ZDF oder arte laufen, sind eben nicht vollfinanziert, sondern haben oft nur eine Kostendeckungsquote von etwa von 60%. Sprich, es fehlen schon 40% der bloßen Herstellungskosten. Von einer angemessenen Abgeltung der Nutzungsrechte ganz zu schweigen. Es hat sich eine Selbstausbeutungsmentalität ausgebildet, die weder für die Branchenteilnehmer*innen, noch für die Gesellschaft insgesamt gut ist. Der Beitragszahler weiß das natürlich nicht und denkt, ö/r Medienproduktionen sind besonders gut bezahlt und er habe daher das Recht, gebührenfinanzierte Filme beliebig zu nutzen. Auch viele nicht mit den tatsächlichen Verhältnissen vertraute Politiker*innen denken: ‚Wir leisten uns das teuerste System der Welt und dann sind diese ganzen Filme nicht in den Mediatheken verfügbar. Was soll das?‘

Gibt es für Dokumentarfilme Wiederholungshonorare, wenn sie im TV erneut ausgestrahlt werden?

Lipp: Nur in seltenen Ausnahmefällen. Paradoxerweise erhalten die wenigen, ohnehin schon privilegierten Festangestellten oder Festen Freien eher ein Wiederholungshonorar als die große Mehrzahl der ganz freien Regisseure. Als Regisseur im Fiction-Bereich hingegen, zum Beispiel beim „Tatort“, erhalten Sie für jede Wiederholung ein Honorar.

Doch es heißt schon länger aus den Sendern, dass zum Beispiel neue Mitarbeiter-Verträge nicht mehr so üppig dotiert sind wie in den 80er oder 90er Jahren.

Lipp: Die hohen Selbstkosten belasten die Budgets aber nach wie vor. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben viele Jahre über ihre Verhältnisse gelebt, zu Ungunsten des Programms und zu Ungunsten der Produktionsszene. Ich habe bisher keinen Senderchef gesehen, der mit gutem Beispiel vorangeht und freiwillig auf, sagen wir mal, 40% seines Brutto-Einkommens verzichtet. Stattdessen sparen sie bei den freien Produzent*innen, die das Programm wirklich herstellen, denn nur dort ist überhaupt noch Spielraum für Sparbemühungen.

Wenn Sie die Anteile für Information, Bildung und Beratung auf der einen und Unterhaltung auf der anderen Seite im öffentlich-rechtlichen Programm vergleichen – sehen Sie da in Bezug auf den Programmauftrag ein Missverhältnis?

Lipp: Ich sehe da ein ganz deutliches Missverhältnis und fühle mich damit im Einklang mit der großen Mehrzahl der Medienjournalisten und -kritiker. Aber auch das Bundesverfassungsgericht hat diese Einseitigkeit immer und immer wieder kritisiert und ein Umdenken eingefordert. Das Problem ist offenbar, dass die Sender dieses Missverhältnis aus purer Existenzangst nicht korrigieren.

Was befürchten die Sender?

Lipp: Wenn sie Forderungen nachkommen würden, wie zum Beispiel 30% Informationsangebote in der Primetime, oder, statt seichter Unterhaltung a la „Traumschiff“, Rosamunde Pilcher oder einer der Dutzenden Krimi-Reihen, mehr Literaturverfilmungen zu senden, oder den Anteil von langen Dokumentarfilmen, Animationsfilmen, Kurzfilmen, Experimentalfilmen oder Kulturberichterstattung zu erhöhen – dann ist die Angst der Sender, dass sie an Zuschauerakzeptanz verlieren. Und wenn sie nur noch eine Minderheit der Bevölkerung erreichen, könnte der politische Druck steigen, die Sender ganz abzuschaffen.

Was sagen Sie Politikern aus Reihen der AfD, die die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Systems ins Spiel bringen?

Lipp: Ich bin unbedingt für ein öffentlich-rechtliches System, weil ich der festen Überzeugung bin, dass der Markt nicht regeln kann, was ein öffentlich-rechtlicher Gedanke und eine entsprechend gut dosierte und gut begründete Umverteilung von Geldern für die Verhandlung von Gesellschaft, auch mit Hilfe dokumentarischer Medien, leisten kann. Das will der Markt nicht. Außerdem leben wir in einer Zeit, in der diese Marktlogik an allen Ecken und Enden zusammenbricht. In vielen Bereichen der Wirtschaft hat der Markt-Gedanke vollkommen versagt, etwa bei der Daseinsfürsorge, der Infrastruktur oder im Gesundheitswesen.
Ich denke, dass wir künftig viel stärker Aspekte einer Gemeinwohlökonomie beachten müssten, wie sie z.B. der österreichische Ökonom Christian Felber formuliert. Wir sollten daher den öffentlich-rechtlichen Gedanken, der ja ein ausgesprochener Gemeinwohl-Gedanke ist, nicht permanent marktliberalen Verwertungsgesichtspunkten unterordnen. Das heißt, den Zuschauer nicht als Konsumenten zu betrachten, sondern als Bürger, dem wir auch etwas zumuten müssen, der sich auch mal anstrengen muss. Wir brauchen das öffentlich-rechtliche System als einen Qualitätsanker, wir brauchen gerade heute unbestechliche, wirklich gut recherchierte und kluge Perspektiven für den Aufbau einer neuen Weltordnung, denn die alte zerfällt gerade.
Leonard Novy, Direktor des Institutes für Medien- und Kommunikationspolitik, hat vor kurzem im Tagesspiegel gesagt, die ö/r Anstalten hätten „Daseinsfürsorge für die demokratische Öffentlichkeit“ zu leisten. Das bringt es auf den Punkt. Der staatsrechtliche Begriff „Daseinsfürsorge“ bezeichnet seit 80 Jahren die Grundversorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen. Dass Novy nun den Qualitätsjournalismus ebenfalls dazuzählt macht die Dringlichkeit des Anliegens auch begrifflich sehr deutlich.

Warum ist es heute undenkbar, dass die Sender für einen Dokumentarfilm ein Budget von 500.000 bereitstellen, wenn etwa das Durchschnittsbudget für eine „Tatort“-Folge bei 1,3 Millionen liegt?

Lipp: Erstens gibt es diese Budgets nicht mehr, unter anderem deswegen, weil die Sender massiv in die Breite mäandert sind und es immer mehr Programmsparten und -kanäle gibt, die alle irgendwie finanziert werden wollen. Zweitens sind einige Sparten, vor allem der Sport, gemessen an seiner Bedeutung für die Erfüllung des Auftrages überproportional teuer. Drittens haben die Anstalten weit über ihre Verhältnisse gelebt und werden heute von Pensions- und Verwaltungslasten erdrückt. Viertens sind, vor allem in den letzten zehn Jahren, die Rundfunkbeiträge nicht nennenswert gestiegen. Fünftens gibt es andererseits, auch angesichts der Größe des Apparates, vielfältige Ineffizienzen. So wird die ARD von 2017 bis 2020 insgesamt 413 Mio. Euro weniger für das Programm ausgegeben haben, als ihr für diesen Zeitraum von der KEF eigentlich 2016 bewilligt worden war. Gleichzeitig kennt man offenbar die eigenen Zahlen nicht, sondern schreit nach einer Erhöhung des Beitrages.

Was tut denn die AG DOK gegen die von Ihnen dargestellte Unterfinanzierung des dokumentarischen Genres?

Lipp: Die AG DOK verhandelt derzeit erstmals seit vielen Jahren mit der ARD über sogenannte „Gemeinsame Vergütungs-Regeln“ (GVR) für die Honorare der Dok-Film Regisseure. Wenn man im bisherigen Lizenzmodell bleibt, müssten die Sender zunächst die Herstellungskosten – hier also die Regiehonorare – drastisch erhöhen. Auf der anderen Seite müssten aber auch die einzelnen Nutzungsformen viel besser vergütet werden als es derzeit der Fall ist, damit z.B. die Mediatheken-Standzeiten deutlich verlängert werden können.

Und wie kann in Zukunft mehr für das dokumentarische Genre erreicht werden?

Lipp: Ich glaube wir müssen, angesichts dieses für fast alle Seiten unbefriedigenden Szenarios, der Politik gut nachvollziehbare Vorschläge für eine Reform des Systems machen. Damit kommen wir mit der AG DOK als Interessenvertretung des dokumentarischen Genres in der derzeitigen Situation meiner Meinung nach weiter, als wenn wir uns weiterhin nur an den teils stark verkrusteten Strukturen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks abarbeiten. Die Gespräche mit den Sendern sind wichtig, es gibt dort viele kluge Leute. Es gibt dort aber auch harte Tendenzen zur Besitzstandswahrung. Die Weichen für die Zukunft müssen also von der Politik gestellt werden. Und die Politik muss ein Interesse daran haben, was ich als den Nutzen des dokumentarischen Genres skizziert habe: ein genauer Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse. Von Akteuren, die dieses Handwerk beherrschen und die unbestechlich sind, weil sie für ihre Arbeit angemessen vergütet werden.

2 Kommentare zu “Die Politik muss den Mut haben, einzelne Bereiche der Öffentlich-Rechtlichen neu aufzustellen.”

  1. U. Hiemann |

    Das Gesagte bestätigt meinen Eindruck über die Qualität oder besser Nicht-Qualität des öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Anteil von qualitativ hochwertigen Dokumentationen im Programm zunehmen würde. Diese kann man nicht aus dem Ärmel schütteln, indem leicht konsumierbares zusammengestellt und mit aufdringlicher emotionaler Musik unterlegt wird. Derartiges ödet mich an. Wiederholt konnte ich zudem feststellen, dass Erläuterungen von Sachverhalten in Dokumentationen nicht so unumstritten sind, wie es behauptet wird. Täglich schaue ich mir das Programm von ARD und ZDF an und komme in der Regel zu dem Ergebnis, dass es sich nicht lohnt. Irgendwie scheint es immer das Gleiche zu sein: Krimis, Laberrunden, Sport bis zum Anschlag, sog. Fernsehen für die ganze Familie, schöne Naturbilder, scheinurige Geschichten aus den Ländern und gekocht wird sowieso ständig. Das öffentliche-rechtliche Fernsehen ist für die gelebte Demokratie wichtig; es sollte besser gepflegt werden.

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  2. Meister |

    Ach Buhre, lass doch mal deine Propaganda sein

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