Yared Dibaba

Immer aufzufallen ist lästig.

TV-Moderator Yared Dibaba über sein Verständnis von Heimat, das Finden der eigenen Identität und die Wahrnehmung seiner Person über die Hautfarbe

Yared Dibaba

© NDR/Uwe Ernst

Berlin-Mitte, wir treffen uns zum Interview in einem kleinen Kaffeladen am Hackeschen Markt.

Herr Dibaba, auf wie vielen Sprachen kennen Sie einen Begriff für Heimat?
Dibaba: Heimat ist eigentlich ein typisch deutsches Wort. Die Engländer sagen „home“, die Oromo sagen „bijakoo“, der Plattdeutsche sagt „Heimoot“. Genauso vielfältig wie der Begriff Heimat für jeden individuell ist, gibt es auch in jeder Sprache einen verschiedenen Begriff. Nicht zuletzt gibt es aber auch ein ganz anderes Verständnis von Heimat.

Und welcher Begriff kommt dabei Ihrem Verständnis von Heimat am nahesten?
Dibaba: Alle und keiner. Zunächst denkt man, der Heimatbegriff wäre ganz klar und meint: Da, wo man her kommt. Doch je länger man sich damit befasst, desto mehr Facetten tun sich auf. Heimat ist ja nicht nur dieses Fleckchen Erde, sondern es ist auch die Familie, das Essen, Musik, bestimmte Feste, Freunde, Bücher und nicht zuletzt die Sprache. Für mich persönlich ist es auch der Kaffee.

Deshalb haben wir uns hier getroffen. Sie haben in Bremen eine Kaufmannsausbildung bei einem Kaffeeröster gemacht.
Dibaba: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man die Heimat in sich trägt. Wenn man in sich zu Hause ist und seine Wurzeln mitnimmt. Und ich kann sagen: Wenn ich Kaffee rieche, fühle ich mich wohl.

Ist Heimat grundsätzlich etwas Positives?
Dibaba: Heimat ist etwas, das einem ein Gefühl von Geborgenheit gibt. Das braucht man als Mensch. Klar, man will immer was Neues kennen lernen und neue Reize aufnehmen – aber man freut sich auch, wenn etwas Vertrautes da ist.

In Ihrem Buch zitieren Sie einen Song von Herbert Grönemeyer: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl.“
Dibaba: Ja, es ist auch ein Gefühl. Trotzdem ist es auch ein Ort. Es ist beides. Wenn ich durch Oromia fahre, oder wenn ich durch Falkenburg fahre – das ist der Ort in Norddeutschland, wo ich aufgewachsen bin –, sind alle Gefühle, die ich mit diesem Ort verbinde, sofort wieder da.

Hat der Heimatbegriff in einer globalisierten Welt eine andere Bedeutung bekommen?
Dibaba: Ich glaube, es ist wichtig, auch in einem globalisierten Leben eine Form von Heimat für sich zu haben. Ob man es nun definiert oder ob man es lebt, das ist nicht entscheidend. Gerade wenn man durch die Gegend reist, und mal hier ist und mal da. In China sind viele Deutsche, die nur drei, vier Jahre dort leben. Sie treffen sich in deutschen Vereinen und haben dort ihren Stammtisch. Oder in San Francisco, da gibt es einen deutschen Stammtisch, die treffen sich jeden Donnerstag und trinken ein deutsches Bier. Für diese Menschen ist es wichtig, zumindest ein bisschen Heimat zu haben.

Gibt es etwas, das Sie persönlich überall mit hinnehmen? Haben Sie bestimmte Rituale, die nie fehlen dürfen, egal wo auf der Welt Sie sich gerade befinden?
Dibaba: Ich nehme auf jede Reise meine Gitarre mit. Obwohl ich nicht gut spiele. Einfach, um ein bisschen zu klimpern. Ich nehme überhaupt total viele Sachen mit. Bücher, Filme. Ich weiß, dass ich nicht alles brauche. Ich habe das immer auf meinem Schreibtisch im Hotel. Ich habe auch eine Reisematratze dabei, die man auf jedes Bett legen kann, damit ich immer das Gefühl habe, ich schlafe gleich. Das ist mein bisschen Vertrautheit, das ich brauche, wenn ich auf Reisen bin.

Wenn Sie heute Heimweh haben: Spielt in Ihren Gedanken dann eher Oromia in Äthiopien, wo Sie geboren sind, oder Norddeutschland, wohin Sie mit Ihrer Familie im Alter von zehn Jahren vor dem afrikanischen Bürgerkrieg flüchteten, eine Rolle?
Dibaba: Heimweh habe ich nach meiner Familie, das ist dann Norddeutschland. Wenn ich auf Reisen bin und nach zwei Wochen Heimweh habe, ist es auch Norddeutschland, weil ich vorher von dort weggefahren bin und es meine aktuelle Heimat ist, in der ich wohne. Meine „zweite Heimat“ sozusagen. Die erste ist Oromia und da will ich unbedingt mal wieder hin. Denn es gibt natürlich auch Heimweh nach Oromia.

Wann waren Sie zuletzt da?
Dibaba: 1994, also vor 15 Jahren.

Das ist ziemlich lange her.
Dibaba: Das ist sehr lange her.

Warum so lange?
Dibaba: Es gibt politische Unruhen in Teilen des Landes und deswegen bin ich etwas vorsichtig dabei, als Familienvater in Krisengebiete zu fliegen.

In Ihren Beschreibungen klingt Ihre Kindheit wie ein einziges Abenteuer. Auf der einen Seite herrschte zwar der Krieg, andererseits schwärmen Sie von der paradiesischen Landschaft und erzählen davon, wie Sie mit Freunden Affen und Geiern hinterher jagten. Sie haben eine Menge Spaß gehabt.
Dibaba: (lacht). Absolut.

Es muss doch als Zehnjähriger ganz schön schwierig gewesen sein, das Land zu verlassen.
Dibaba: Das stimmt. Ich habe schließlich meine Freunde, meine kleine Rasselbande, dort gehabt und es ist für jedes Kind traurig, so etwas zurücklassen zu müssen. Wir haben unser Revier gehabt, das Wetter war gut, das Essen war lecker. Das sind Dinge, die man als Kind schön findet. Auf der anderen Seite habe ich mich auch gefreut, dass wir die Möglichkeit hatten, das Land zu verlassen, denn die Bedrohung des Bürgerkrieges war ja immer da.

Über den Umweg Kenia kamen Sie im Alter von zehn Jahren nach Norddeutschland und haben sich dort in kurzer Zeit gut eingelebt.
Dibaba: Was auch daran lag, dass ich bereits deutsch sprechen konnte, da ich mit vier Jahren schon einmal kurzzeitig in Deutschland war und in Osnabrück in den Kindergarten gegangen bin. Natürlich war trotzdem alles neu für uns, aber wir konnten gut damit umgehen, weil es eben kein Kulturschock in dem Sinne war. Wir sind in einem Dorf groß geworden, wo wir auch sehr gut aufgenommen wurden. Es wurde uns leicht gemacht, uns einzuleben.

Dennoch waren Sie schon allein wegen Ihrer Hautfarbe etwas Besonderes.
Dibaba: Wir sind aufgefallen. Komplett. Die Leute haben sich nach uns umgedreht. Im Schwimmbad. Beim Einkaufen. Das hat mich total genervt. Immer aufzufallen ist lästig. Wir haben uns auch umgedreht, wenn wir einen Schwarzen gesehen haben. Doch wir haben geguckt, weil wir uns gefreut haben. Schließlich gab es 1979 in dieser Gegend nicht so viele Schwarze.

Haben Sie sich ausgegrenzt gefühlt?
Dibaba: Es gab natürlich den einen oder anderen, der irgendwelche Sprüche gemacht und „Neger“ und andere Dinge dieser Art gesagt hat. Aber im Großen und Ganzen war es eine sehr entspannte Zeit.

Sie haben dann auch im plattdeutschen Kinderchor gesungen. Wie ist man dort mit Ihnen umgegangen?
Dibaba: Gut. Wir waren in einer Dorfschule auf dem Land. Und dort waren alle recht weltoffen und tolerant.

Zitiert

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man die Heimat in sich trägt. Wenn man in sich zu Hause ist und seine Wurzeln mitnimmt.

Yared Dibaba

Sie erwähnten bereits, dass Sie die Sprache bereits beherrschten, als Sie nach Deutschland kamen, um dort in die Schule zu gehen. Wie wichtig ist Sprache als Integrationsfaktor?
Dibaba: Sprache ist total wichtig. Vor allem in Deutschland. Wenn man in den USA mit einem Akzent spricht, finden die Menschen das meistens interessant. Die Qualität, wie jemand Englisch spricht, ist nicht so wichtig. In Deutschland hingegen spielt es eine große Rolle, dass man gutes Deutsch spricht, das man sich gut ausdrückt. Nicht zuletzt daran wird gemessen, wie weit man integriert ist. Sprache ist in jedem Land, in das man kommt, ein Schlüssel zur Gesellschaft.

Also, Sie sagen: Wenn man nicht fließend Deutsch spricht, ist man also nicht so richtig respektiert in der Gesellschaft?
Dibaba: Man hat es auf jeden Fall schwieriger.

Dass es Ihnen so leicht gefallen ist, sich in Norddeutschland einzufinden, lag vermutlich nicht nur daran, dass Sie die Sprache konnten, sondern dass Sie bereit waren, sich auf die Kultur einzulassen. Und deshalb sogar plattdeutsch gelernt haben.
Dibaba: Ja. Ich war neugierig, verschiedene Dinge abzugleichen. Denn die Menschen auf dem Land in Norddeutschland haben eine ähnliche Mentalität wie die Oromos auf dem Land. Also war es auch nicht ganz fremd für mich. Auch die Menschen bei uns auf dem Land sind erstmal Fremden gegenüber ein bisschen misstrauisch. Sie gucken erstmal, was ist das für einer, was will der von mir. Auf der anderen Seite gibt es auch eine gewisse Offenheit. Ich glaube, wenn man weiß, wo man herkommt, kann man andere Kulturen auch besser verstehen und sich auch darauf einlassen. Deswegen bin ich auch so offen für Norddeutschland gewesen.

Gibt es etwas, das typisch norddeutsch an Ihnen ist?
Dibaba: Das kann ich gar nicht sagen. Ich weiß nicht, welcher Teil in mir norddeutsch, welcher Oromo ist. Ich glaube, es ist wirklich ein Mix aus allem. Ich kann sagen, dass ich so ein bisschen das norddeutsche Understatement mag, dieses Zurückhaltende, obwohl ich kein zurückhaltender Mensch bin.

Wenn Sie aus mehreren Kulturen verschiedene Dinge zu Ihrem persönlichen Kulturenmix zusammenwürfeln könnten – was dürfte dabei nicht fehlen?
Dibaba: Ich mag zum Beispiel die New Yorker Mentalität, die in Manhattan vorherrscht. So ein bisschen innovativ, ein bisschen verrückt. Bisschen was Schnelles. Ich mag auch die chinesische Mentalität gerne. Die Chinesen sind ja auf der einen Seite sehr diszipliniert und sehr auf die Gemeinschaft fixiert. Das Individuum nimmt sich sehr zurück. Das Individuelle findet man wiederum in New York, wo jeder sein eigenes Ding macht. Was mich auch sehr beeindruckt hat, war die Heimatverbundenheit der Plattdeutschen in Sibirien. Dann die Leichtigkeit und Energie der Brasilianer, die ich sehr faszinierend finde. Von jedem ein bisschen mitzunehmen, das wäre schon nicht schlecht.

Noch einmal zurück zum Thema Hautfarbe: Wie stark werden Sie heute über Ihre Hautfarbe wahrgenommen?
Dibaba: Hautfarbe spielt eine Rolle. Und ich werde auch als Schwarzer wahrgenommen. Das ist einfach so.

Stört es Sie?
Dibaba: Ich glaube, wenn ich als Weißer platt schnacken würde, wäre es nicht so besonders, als wenn ich es als Schwarzer tue. Da ist natürlich schon ein kleiner Bruch drinne. Wenn ich in den USA in einer Großstadt herum laufe, falle ich überhaupt nicht auf. Das ist natürlich sehr angenehm. Wenn ich in Sibirien drehe, kommen die Leute aus den Häusern gelaufen und drücken mir ihre Kinder in die Hand, damit wir uns gemeinsam fotografieren lassen. Aber auf eine neugierige, sympathische Art. Generell will ich natürlich wahrgenommen werden über die Qualität meiner Arbeit, nicht über meine Hautfarbe.

Sie haben aber dennoch mit Stereotypen tu tun, nehme ich an. Betitelt werden Sie beispielsweise oft als der „norddeutsche Afrikaner“ oder „der Schwarze, der platt snackt“. Ganz raus kriegen Sie es aus den Köpfen nicht.
Dibaba: Ich profitiere ja auch davon. Das darf man nicht untern Tisch kehren. Das macht das Ganze ja auch interessant oder witzig. Man fragt sich: Wieso kann der jetzt plattdeutsch? Andererseits ist es eigentlich das Normalste von der Welt, denn ich bin in Norddeutschland groß geworden. Und interessiere mich für Sprachen. Das ist vielleicht das Besondere: Dass ich mich für Sprachen interessiere und da einfach hinterher gegangen bin. Das, was ich mir wünsche ist, dass es zukünftig total egal ist, wo ein Mensch herkommt.

Wie viele Sprachen sprechen sie?
Dibaba: Deutsch, Englisch, Französisch, Oromiffa, Amharisch, Plattdeutsch und ein bisschen Spanisch.

Da stellt sich die Frage: In welcher Sprache denken Sie?
Dibaba: Es kommt auf die Gedanken an, die man hat. Wäre ich jetzt viel mit Engländern zusammen, würde sich in meinem Gehirn alles auf Englisch abspielen. Wenn ich viel mit Oromos zusammen bin, ist natürlich Oromiffa in meinem Kopf da. Wenn ich von jemandem träumen würde, der Oromiffa spricht, würde ich mich auf Oromiffa mit ihm unterhalten. Meistens ist es Deutsch, weil ich den größten Teil meines Lebens auf Deutsch verbringe.

Es hat also mit den Menschen zu tun?
Dibaba: Genau. Und mit den Situationen.

Neben Heimat ist Identität ein weiteres Stichwort. Wann haben Sie die Frage nach der eigenen Identität für sich beantworten können?
Dibaba: Eigentlich als ich 1994 das zweite Mal in Oromia war. Wir sind ja mehr oder weniger unfreiwillig weg von dort. Die Sehnsucht war immer groß. Nach den Menschen, nach dem Land, nach diesem Teil in mir. Das ist ein ungestilltes Bedürfnis. Dann war ich zwei Wochen da, eine sehr intensive Zeit. Ich habe meine Oma wieder gesehen, war an den Orten, wo mein Vater geboren wurde, wir waren in dem kleinen Ort, wo ich aufgewachsen bin. Das stillt diese Sehnsucht und auch die Identität. Weil dann weißt du: Da gehörst du hin, es gibt das alles noch, es gibt Menschen, die deine Sprache sprechen.

Man muss es selbst erleben…
Dibaba: Ja. Natürlich weiß ich es alles im Kopf. Aber wenn man es erlebt, ist es etwas anderes.

Ist es das Gefühl, theoretisch immer zurückgehen zu können, weil man erfahren hat: Es existiert, es ist nicht verloren?
Dibaba: Ja, genau. Wenn man weiß, wo man herkommt, ist es auch einfacher, woanders Fuß zu fassen. Dadurch dass ich unsere Sprache kann, unsere Kultur kenne, habe ich eine gewisse Identität und konnte mich so auch auf Norddeutschland total einlassen. Es gab dann den Moment, wo ich sagen konnte: Ich bin auch Norddeutscher. Ich hatte ein ganz anderes Verhältnis dazu.

Inwiefern war das vorher anders?
Dibaba: Als Oromo, als Schwarzer in Deutschland, hat man natürlich auch oft das Gefühl, man gehört hier nicht hin. Weil man anders aussieht, weil die Leute sich nach einem umdrehen. Wenn man gesagt bekommt „Du sprichst aber gut Deutsch“, wird einem ja eigentlich signalisiert: „Du bist keiner von hier.“ Wenn ich nach Oromia komme, dreht sich kein Mensch nach mir um. Es sei denn, der merkt, dass ich ein Tourist bin.

Wann zuletzt wurde Ihnen das Gefühl gegeben, Sie gehören hier nicht hin?
Dibaba: Ach, das ist schon lange her. Wie gesagt: Diese Reise 1994 nach Oromia hat da an meiner eigenen Einstellung schon eine Menge verändert.

Es gibt auch heute Fremdenfeindlichkeit. Die NPD hat im Thüringer Landtagswahlkampf für Aufsehen gesorgt, indem sie einen schwarzen Politiker zur „Heimreise“ aufforderten, ihn offen anfeindeten. Welche Erfahrungen haben Sie mit Ausländerfeindlichkeit gemacht?
Dibaba: Es gab Begegnungen mit Skinheads, wo es auch körperlich wurde, wo ich einfach auch Angst hatte, weil es gefährlich war. Das ist jedoch schon ein paar Jahre her. Ich halte mich an Orten auf, wo es diese Gefahr nicht gibt. Ich weiß natürlich, wo etwas passieren könnte und meide diese Gebiete. Ansonsten ist mir im Alltag persönlich noch nichts passiert. Die meisten Menschen, denen ich begegne, kennen mich auch irgendwoher oder sehen: Der kann gut deutsch, der kann sich ausdrücken. Natürlich gibt es aber auch Ecken, wo Menschen wegen Ihrer Hautfarbe angegriffen werden und wo es ihnen an den Kragen geht. Dagegen müssen wir alle etwas tun.

Wenn Sie sagen, es gab Begegnungen, bei denen es körperlich wurde: Werfen solche Erfahrungen einen zurück, was das Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland anbelangt?
Dibaba: Nein, überhaupt nicht. Das hat mit meinem Heimatgefühl, meiner Verbundenheit mit Norddeutschland, nichts zu tun. Nur weil da ein paar Idioten rumlaufen und sagen, du gehörst hier nicht hin, ändert sich nichts daran.

Ist Rassismus ein großes Problem in Deutschland?
Dibaba: Es existiert. Jeder Rassist ist ein Problem. Und jeder Rassist ist einer zu viel. Da ist die einzige Antwort null Toleranz. Warum soll jemand wegen seiner Herkunft verfolgt werden? Da hat kein Mensch das Recht dazu.

In Ihrem Buch schreiben Sie von deutschen Tugenden. Und offenbaren: Sie sind ein Anhänger deutscher Bürokratie.
Dibaba: Ich war in Rio und bin beklaut worden. Es war Freitagnachmittag. Als ich zum Konsulat ging, sagte mein Pass ist weg und dass ich am Montag unbedingt einen neuen brauche, wurden alle notwendigen Informationen sofort aus Deutschland hingefaxt. Am Montag hatte ich einen neuen Reisepass, der mit der Hamburger Behörde abgeglichen wurde. Mehr geht nicht! Man erkennt natürlich auch viele Deutsche an diesen Tugenden. Die sind immer pünktlich. Wenn wir Interview-Termine haben, sind die fünf Minuten vorher da.

Heute waren wir beide recht pünktlich. Deutsche Tugenden sind Ihnen insofern wohl auch nicht ganz fremd.
Dibaba: Wobei ich finde, dass diese Tugenden nie zum Selbstzweck dienen sollten. Einige übertreiben das einfach und sind extrem pedantisch. Es ist auch mal schön, wenn man fünfe grade lassen kann. Das fehlt bei den Deutschen manchmal.

Sie sprechen in Ihrem Buch auch von den Traditionen der verschiedenen Kulturen – und wünschen sich, dass die erkennbar bleiben.
Dibaba: Ja, weil man versucht, alles gleich zu kämmen. Das ist schade, weil etwas verloren geht. Wenn ich nach Sibirien gehe, will ich auch, dass es dort nach Sibirien riecht und die Leute, anders als auf anderen Orten auf der Welt, bei jeder Gelegenheit einen Wodka auf den Tisch packen. Das gehört dazu. Genauso wie die Weißwurst in Bayern.

Was genau ginge verloren, wenn das nicht mehr so wäre?
Dibaba: Ich finde es erschreckend, wenn ich in eine Shopping Mall gehe, ob in Nairobi, in China oder in Hamburg, und alles sieht gleich aus. Es gibt auch viele Bars und Kneipen, die das gleiche Design haben. Es kommt immer wieder vor, dass ich in Amerika auf dem Land oder in Südafrika am Strand Dinge sehe, die ich aus Hamburg kenne. Da denke ich mir: Was soll das? Es laufen dort zwar andere Menschen herum, einen anderen Unterschied gibt es aber nicht.

Abschließend: Gibt es heute Momente, wo sie sich fremd, heimatlos fühlen?
Dibaba: Ich habe mich in China und in Sibirien total fremd gefühlt – aber nicht unwillkommen.

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