Wolfgang Clement

Unsere Neigung zum gesetzgeberischen Perfektionismus ist beängstigend.

Wolfgang Clement über das Verhältnis von Politik und Medien, Personalprobleme in den Parteien, Transparenz, Bürokratieabbau und die Idee, die Zahl der Bundesländer zu halbieren

Wolfgang Clement

© Verlag Herder

Herr Clement, Sie sind gestern (02.05.2010) in Düsseldorf Marathon gelaufen. Wie geht es Ihnen?
Clement: Ich war nach dem Marathon wirklich groggy. Und so schlecht wie diesmal war ich noch nie, ich spreche deswegen auch nicht über die Zeit. Ich war ein bisschen  kränkelnd und  schlecht vorbereitet und  habe mich da nur durchgekämpft. Doch das war mir eine Lehre.

Muss man topfit sein, um den Job als Politiker durchstehen zu können?
Clement: Das muss man. Aber auch sonst, nicht nur als aktiver Politiker, muss man sich fit halten. Wenn man älter wird, merkt man das um so nachdrücklicher. Deshalb jogge ich seit 15 Jahren fast täglich.

Was haben Sie im Politikalltag als besonders anstrengend empfunden?
Clement: Eine Sache sind die oftmaligen  Wiederholungen von Reden und Diskussionen in sich nur leicht verändernden Kreisen. Jedes politisch wichtige Thema müssen Sie pro Woche in mindestens drei bis vier Zirkeln – also Fraktionsvorstand, Fraktion, Präsidium, Parteivorstand und sofort – erörtern. Immer in ähnlicher Dramaturgie und mit immer  ähnlichen Fragestellungen, das ist enorm ermüdend.
Das andere ist natürlich der gesellschaftliche Teil, Sie haben viele abendliche Termine, überwiegend  nicht zum Feiern, sondern zu Reden und zu Gesprächen, nicht selten  mit mehr oder weniger sinnvollem Essen und Trinken. Zudem haben Sie eigentlich kein Wochenende, das fällt flach – also, Sie haben schon ein paar mehr Strapazen als in anderen Berufen. Und deshalb ist es gut, sich fit zu halten.

Schlafen Sie heute länger?
Clement: Ja. In meiner aktiven Zeit in Berlin habe ich 3-5 Stunden geschlafen, heute ist es etwas mehr. Früher habe ich morgens um sechs Uhr meinen Lauf gemacht, heute wird’s etwas später.

Bei dem Arbeitspensum, das Sie beschreiben, wundert es einen gar nicht mehr, wenn viele Politiker nach einer Legislaturperiode im Minister- oder Kanzleramt sehr runtergekämpft aussehen.
Clement: Ja, das stimmt. Ich glaube auch, dass man etwa als Regierungschef nach zwei Perioden in der Regel  am Ende seiner Kräfte ist. Außer Helmut Kohl, bei ihm war das anders, der hatte nach der Wiedervereinigung noch seine ‚zweite Luft’, wie man im Boxen sagen würde. Aber das war die große Ausnahme, normalerweise ist man  nach zwei Perioden ziemlich ausgepowert.

Sie haben zusammen mit Friedrich Merz das Buch „Deutschland 2.0 – Was jetzt zu tun ist“ veröffentlicht. Vor Beginn Ihrer politischen Laufbahn haben Sie auch als Journalist über Politik geschrieben – schließt sich da jetzt für Sie ein Kreis?
Clement: Ich betrachte das als meine dritte berufliche Phase. Ich schreibe ziemlich viel und  bin in verschiedenen Funktionen unterwegs. Das ist für mich eine schöne Lebensphase, weil ich sie selbst gestalte. Und für die  Schreiberei spielt es sicher eine Rolle, dass ich weit  über 20 Jahre journalistisch tätig war.

Was denken Sie heute über das Verhältnis zwischen Medien und Politik?
Clement: Der Einfluss der Medien ist schon immens. Es ist zwar nicht so, dass man mit einer Zeitung oder einem anderen Medium die Politik von heute auf morgen verändern kann. Aber die Medien verstärken Einflüsse oder drängen sie zurück. Deshalb haben wir es mit äußerst raschen Konjunkturen der politischen Diskussion zu tun. Nehmen Sie das Thema Klimawandel: Vor Kopenhagen hatte es eine enorme Wucht, es schien in Deutschland und Europa alle anderen Themen beiseite zu drücken. Doch nach dem Gipfel war das Thema selbst wie weggeblasen. Es beherrschen von heute auf morgen andere Themen die Szenerie und der Einfluss, die Lautverstärkung durch die Medien ist enorm. Entsprechend kurzatmig ist die Politik geworden.

Wie war das zu Ihrer Zeit als Journalist?
Clement: In meiner journalistischen Zeit – bis weit hinein in die  80er Jahre – war es noch anders. Jedenfalls habe ich es so wahrgenommen, dass die Politik sehr viel ruhiger, langfristiger arbeitete und dachte. Allerdings war damals auch die Medienlandschaft eine andere, nicht so bunt und vielgestaltig wie jetzt. Heute redet man wirklich von einem Tag zum anderen, das ist ein Prozess, der immer mehr an Tempo gewinnt. Dabei spielen die neuen Medien eine wesentliche Rolle und darauf muss sich die Politik einstellen. Kommunikation ist heute die Hälfte der Politik.

Aber Ihren Worten nach scheint diese Wandlung der Medien, das immer Schnellere, nicht unbedingt förderlich zu sein für die Gestaltung von Politik.
Clement: Es ist schwieriger und die Akteure müssen darauf eingestellt sein, müssen damit umgehen können. Das ist aber noch keineswegs gewährleistet. Ich glaube, dass die Akteure in der Politik – wie übrigens auch in der Wirtschaft – noch dabei sind, sich auf diese neue Welt der totalen Kommunikation einzustellen. Wir haben es hier mit einem Zeitenwandel zu tun, zu dem das Internet maßgeblich beigetragen hat. Es hat den öffentlichen Diskurs, das öffentliche Gespräch von Grund auf  verändert und nicht wenige in  Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind damit  zur Zeit noch überfordert.

Sie sprechen im Buch darüber, dass Angela Merkel als Kanzlerin noch nicht der ‚große Wurf’ gelungen ist. Glauben Sie, dass das damit zusammenhängt? Mit der Entwicklung der Medien und der Veränderung des öffentlichen Diskurs?
Clement: Ja und Nein. Ich muss schon sagen, dass jemand wie Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Helmut Kohl ihrer Regierungszeit von Anfang an eine gewisse Perspektive gegeben, ihren Stempel aufgedrückt haben. Bei Helmut Kohl beispielsweise war es zunächst  der europäische Gedanke, da wusste man, dass die deutsche Regierung eindeutig in Richtung Europa ging und immer Entscheidungen im Zweifel zu Gunsten der Union fällen würde. Dann kam die deutsche Einheit, das war zwar ein ganz anderer Prozeß – aber in der Zielsetzung nicht minder klar. Diese Orientierung gibt es heute nicht in der deutschen Politik. Auch nicht in der europäischen Politik. Und es fehlen die Persönlichkeiten, die die Politik in vergleichbarer Weise prägen.

Es fehlt das Personal?
Clement: Es ist jedenfalls so, dass in den entscheidenden Phasen der Politik, soweit ich sie seit dem zweiten Weltkrieg kenne und persönlich seit den 60er Jahren mit einiger Aufmerksamkeit verfolge, immer Personen die Richtung beeinflusst, bestimmt und geprägt haben, namentlich die deutschen Kanzler. Das ist heute nicht der Fall. Das mag ungerecht sein gegenüber Frau Merkel, weil die Politik heute viel internationaler ist als damals. Doch leider ist es bis heute auch nicht gelungen, der europäischen Politik eine eindeutige Richtung zu geben. So haben wir in Europa eben sehr widersprüchliche Entwicklungslinien, bei denen auf der einen Seite vor allen Dingen Großbritannien eine Rolle spielt und andererseits Kontinentaleuropa, wo sich Frankreich und Deutschland aber bisher noch nicht eindeutig und richtungweisend zu Wort melden.

Aber noch mal zu den Akteuren in der Politik, Sie schreiben es fehlt an „integren Persönlichkeiten“…
Clement: Nein, ich spreche von Persönlichkeiten, die die Richtung weisen, die gibt es derzeit  nicht an der Spitze der Parteien. Ich erlebe das in wöchentlichen Diskussionen: viele Bürger sind unsicher, wollen Orientierung.. Viele suchen das Gespräch über die Politik und über die Entwicklung unserer Gesellschaft – aber sie finden kaum Gesprächspartner.

In Ihrem Buch heißt es, die mutlosen Politiker würden sich nicht trauen auszusprechen, was die Stunde geschlagen hat. Was genau fürchten die mutlosen Politiker?
Clement: Ich glaube, dass die entscheidenden Politiker in Deutschland heute durchaus  wissen, was geht und was nicht geht: dass beispielsweise unser Gesundheitssystem so nicht weiter gefahren werden kann wie bisher, dass wir dringend Wachstumskräftigungen brauchen, die wir aber nicht mit Geld herbeiführen können – das ist alles bekannt. Nur die Konsequenzen daraus zu ziehen, klar auszusprechen, was ist, daran mangelt es. Dafür war der Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen ein typisches Beispiel. Da gab es niemanden, der gesagt hätte, dass wir die Politik jetzt ohne einen Zuwachs an Geld gestalten müssen. Doch wir müssen sparen und wir müssen trotzdem ein starkes, kräftiges Wachstum mobilisieren, wenn wir aus der Schuldenkrise herauskommen und den nächsten Generationen ein intaktes Deutschland übergeben wollen.
Und so weiß auch ein jeder, dass wir in Anbetracht des demografischen Wandels unser Gesundheitssystem nicht mehr so finanzieren können, wie wir es zur Zeit tun. Doch wir mogeln uns über die Zeit, von einer Reformrunde in die nächste, jedes Jahr gibt es eine neue. Die Spielräume werden dabei immer geringer, weil immer noch zusätzlich Geld ausgegeben und nicht gesagt wird, dass hier nichts mehr zu verteilen ist. Dieser Teufelskreis  muss durchbrochen werden! Ich glaube, dass die meisten Politiker das wissen, aber Sorge haben, dass sie die Menschen für die notwendigen Reformschritte noch nicht gewinnen können.

Also eine Befürchtung der Sorte: Wer die Wahrheit sagt, wird nicht gewählt.
Clement: So ähnlich.  So soll es ja auch der Kanzlerin mit dem sogenannten Reformparteitag der CDU vor der Bundestagswahl 2005 widerfahren sein. Wir hatten zur Zeit der  Reformen der Agenda 2010 ähnliche Befürchtungen. In der damaligen Situation schien  es ziemlich sicher, dass wir die Wahl nicht gewinnen würden und es war ein Wunder und nur dem harten Wahlkampf von Gerhard Schröder zu verdanken, dass wir Sozialdemokraten es doch  noch in die große Koalition schafften. Wir waren in einer Situation, in der man einfach sagen musste – und das gilt auch heute -: Ich muss versuchen, die für unser Land unabweisbar notwendigen Reformen zu realisieren, auch um den Preis, nicht mehr wiedergewählt zu werden. Irgendwann ist eben die Probe auf’s Exempel fällig, dass die Landesinteressen tatsächlich wichtiger sind als die Parteiinteressen.

Es scheint also die Annahme weit verbreitet zu sein: Wer zu viel verändert, verliert beim Wähler.
Clement: Bisher war es so, dass europäische Reformregierungen zumeist verloren haben. Aber wahrscheinlich haben wir Fehler gemacht, ich auch, weil wir die Bürger nicht genügend einbezogen und auf die Notwendigkeit von Veränderungen vorbereitet haben. Peer Steinbrück hat ja einmal untersuchen lassen….

… Forscher sollten herausfinden, unter welchen Bedingungen Menschen Reformen akzeptieren, wie Sie im Buch schreiben…
Clement. Daraus ergab sich, kurz gesagt, daß man die Bürger für Reformen gewinnen muß. Aber nehmen Sie  nur die Diskussion um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Das ist doch immer noch ein politisches Vor- und Zurück anstelle klarer Aussagen und Leitlinien. Dabei ist nicht einmal ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren auf die Dauer hinreichend. Vernünftiger ist es vermutlich, das Renteneintrittsalter mit dem stetigen Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung zu dynamisieren – wie sonst könnten wir den demografischen Wandel gestalten?

Wenn Politiker sich nicht trauen, die Wahrheit auszusprechen – hat das dann mit Machterhaltung zu tun?
Clement: Natürlich, jedenfalls mit dem Versuch der Machterhaltung. Aber das scheitert, sobald sich herausstellt, dass Reformen zu spät kommen. Die Regierung Schröder begann 1998 noch in der Zeit einer Illusion, da gab es die New Economy und man glaubte, ohne grundlegende  Veränderungen auszukommen.  Im Gegenteil, man hat damals sogar den Demografie-Faktor aus dem Rentensystem gestrichen – bis dann die New Economy-Blase geplatzt ist wie eine Seifenblase. Danach hat man noch zwei Jahre gebraucht, um festzustellen: Wir müssen den Hebel komplett umlegen, hin zur Reformagenda 2010.

Zitiert

Das Internet hat den öffentlichen Diskurs von Grund auf verändert und nicht wenige in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind damit zur Zeit noch überfordert.

Wolfgang Clement

Was können Sie denn heute als Buchautor aussprechen, was Sie als Politiker nicht konnten oder nicht durften?
Clement: Wir durften und dürfen sehr viel. Und wir haben schließlich und endlich ja auch einiges an Reformen zuwege gebracht. Aber jetzt haben Friedrich Merz und ich mit unserem Buch versucht, ein umfassenderes  Reformprogramm vorzulegen. Wobei unser Augenmerk gerade Veränderungen gilt, die kein zusätzliches öffentliches  Geld kosten. Man hat ja sonst den Eindruck, wirtschaftliches Wachstum sei  nur mit Hilfe staatlicher Konjunkturprogramme zu bewerkstelligen, also mit erheblichem  öffentlichen Finanzaufwand. Doch was wir beschreiben – ob Bürokratieabbau, Föderalismusreform, eine umfassende Innovations- und Investitionspolitik – das läuft auf eine grundlegende Erneuerung für unser Land hinaus und verlangt ein neues Denken.

Beim Schreiben dürften Sie doch aber jetzt wesentlich freier sein, als noch als aktiver Politiker, oder? Ist man im Amt nicht sehr an die Parteilinie gebunden, offizielle Sprachregelungen, Denkverbote?
Clement: Nein, so einfach ist es sicher nicht. Aber natürlich ist die Kompromißarbeit, die ja im Kern des demokratischen Prozesses steht, nicht immer geeignet, ein klares Meinungsbild abzugeben. Da kann man in einem gemeinsamen Buch, das wir ja  bewusst über die Parteigrenzen hinweg geschrieben haben, durchaus  anders arbeiten. Wobei es eine interessante Erfahrung ist, die wir gemacht haben: Friedrich Merz und ich haben keine Kompromisse geschlossen, jeder hat seine Texte geschrieben – und dann haben wir festgestellt, dass wir die Texte des jeweils  anderen nahezu vollinhaltlich unterschreiben konnten.

Eine von Ihnen beschriebene Maßnahme ist eine Föderalismus-Reform, bei der die Anzahl der Bundesländer auf acht halbiert wird. Ganz ehrlich, glauben Sie an die Durchsetzbarkeit so eines Unterfangens?
Clement: Ursprünglich habe ich auch  nicht daran geglaubt. Inzwischen sehe ich aber zwei Aspekte. Der erste:  Wenn sie schon da ist, dann ist eine Krise für tiefgreifende Reformen der richtige Zeitpunkt, dann sollte  die Bereitschaft zu grundlegenden Veränderungen größer sein als wenn alles – scheinbar – gut läuft.  
Und das zweite ist, dass ich, wenn ich unterwegs bin, insbesondere im Norden Deutschlands eine erhebliche Bereitschaft zu Veränderungen feststelle. So  gibt es eine Untersuchung der IHK in Kiel, die besagt, dass die Mehrheit der Bürger Schleswig-Holsteins sehr wohl für ein Zusammengehen mit Hamburg zu gewinnen ist – und zwar mit Hamburg als Hauptstadt. Das wäre ja  immerhin ein Anfang.
Ähnliche Töne hört man aus Niedersachsen, wo Ministerpräsident Wulff neulich eine Bemerkung gemacht hat, die in die Richtung einer Veränderung der Landesgrenzen im Norden ging.
Das reicht natürlich noch nicht, aber es geht darum, den Anfang zu machen, um zu einer Veränderung zu kommen, die ganz Deutschland gut täte. Wenn überhaupt, dann geht’s nur jetzt.

Aber das Thema Identität dürfte für die Bürger dabei eine wesentliche Rolle spielen…
Clement: Da bin ich nicht so sicher.  Ich glaube zum Beispiel, dass die Fusion von Berlin-Brandenburg im Wesentlichen an der Sorge der Brandenburger gescheitert ist, dass Berlin mit seinen Schulden auch noch über Brandenburg kommen werde. Was hingegen die Identifizierung von Bürgern mit ihrer Gebietskörperschaft angeht, so gilt sie viel eher den Kommunen als den Ländern. Wir haben ja auch  kaum historisch gewachsene Länder in Deutschland. In diesem hoffentlich rascher zusammenwachsenden Europa ist jedenfalls die engmaschige föderale Struktur, die wir heute haben, nicht zeitgemäß und auch nicht wettbewerbsfähig.

Doch selbst wenn die Identitätsfrage kein Problem darstellt, so wahrscheinlich doch die angestrebte Machterhaltung in den Länderstrukturen…
Clement: Bleiben wir ruhig bei der Sache.  Neulich hat der Oberbürgermeister von Kiel sicher  nicht ganz zu Unrecht gefragt: Wozu gibt es eigentlich eine Landesstruktur mit diesen Kompetenzen, etwa in der Schulpolitik? Wozu muss ich eigentlich  Weisungen von Beamten des Landes einholen, die mit Sicherheit nicht mehr wissen als die Beamten meiner Stadt?
Oder was sagt man zu den Klagen von vielen Bürgern, von Arbeitnehmern mit Kindern, die über Landesgrenzen hinweg kaum noch ihren Wohnsitz ändern können, weil sie dann in die nächste Schulstruktur geraten? Wir bekommen mit dem heutigen System doch nicht einmal gemeinsame Schulstandards hin, insbesondere im Bildungsbereich gibt es eher Isolierungs- statt Modernisierungstendenzen.

Entbürokratisierung ist eines Ihrer zentralen Themen als Politiker gewesen. Waren Sie oft frustriert?
Clement: Ja. Da war ich  ich frustriert über unsere mangelnde Fähigkeit, auch meine eigene, dieses wesentliches Thema systematisch statt  immer nur punktuell anzugehen. Aber weiter war  das Bewusstsein damals noch nicht, jedenfalls nicht meines. 
Heute gibt es in Berlin eine Kommission unter Johannes Ludewig, die zwar systematisch arbeitet und entsprechende Vorschläge vorlegt, der aber das fehlt, was man zum Abbau von Bürokratie dringend braucht, nämlich eine  Realisierungskompetenz.. Da muß jetzt noch ein wesentlicher Schritt voran gelingen, denn dies ist ja eine wichtige Möglichkeit,  ohne zusätzliches Geld wirklich Kräfte frei setzen zu können.
Und als ein wesentliches Thema des Bürokratieabbaues empfehle ich der Kommission dann noch die Abschaffung nahezu aller 7-Prozent-Priviilegien in unserem Mehrwertsteuerrecht, wie es die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ vorgeschlagen hat.  Das wäre ein richtiger Schritt auf dem Weg der Entbürokratisierung und der Vereinfachung unseres Steuerrechts.

Wo sehen Sie denn die Hauptgründe für Bürokratisierung? Ist das ein Mentalitätsproblem?
Clement: Das ist unser deutscher Hang, alles zu normieren. Wir geben keine Verantwortungs- und Ermessensspielräume mehr und haben eine Neigung zum gesetzgeberischen Perfektionismus,  die beängstigend ist. Da sind wir offensichtlich auch weitaus führend: Auf einer Konferenz von Steuerberatern hörte ich kürzlich , dass von den 180.000 Steuerberatern  in Europa 80.000 allein in Deutschland benötigt werden. Das  Beispiel der deutschen Mehrwertsteuer mit ihren unsäglichen Privilegien für Hundefutter, für Maulesel, Rennpferde , Trüffel und Skilifte  ist so deprimierend, das man sich dessen schämen könnte.

Sie haben als Politiker Interessen der Gesellschaft verfolgt, heute sind Sie für die Interessen der Wirtschaft unterwegs. Was erfüllt Sie persönlich mehr?
Clement: Die sehr verschiedenen Aufgaben, die ich heute wahrnehme, nehme ich sehr gern wahr. So war es auch, als ich politische Verantwortung trug. Ich versuche stets das, was ich übernommen habe, mit ganzer Kraft und aller Sorgfalt zu erfüllen.

Aber wo ist die Genugtuung größer, wenn man etwas für die Bevölkerung erreicht hat, oder für ein Unternehmen?
Clement: Entschuldigung,  aber für ein Unternehmen zu arbeiten und etwas für ein Unternehmen in unserem Land bewirken zu können, ist sehr wohl auch im allgemeinen, also im gesellschaftlichen Interesse.

Viele Kritiker haben Sie in der Nähe der FDP gesehen, lange bevor Sie es selbst im September 2009 per Wahlempfehlung ausgesprochen haben. Haben Sie sich die Jahre zuvor auch selbst schon politisch bei Positionen der FDP wiedergefunden?
Clement: Um es in der mir eigenen Einfachheit zu beantworten: Ich bin Sozialdemokrat, sozial-liberal geprägt und rot-grün erfahren.

Doch ein großer Teil der Bevölkerung ist skeptisch gegenüber der FDP, vor allem gegenüber dem wirtschaftsnahen Kurs. Können Sie das nachvollziehen?
Clement: So jedenfalls nicht! Es gibt in Deutschland rund dreieinhalb Millionen mittelständische Unternehmen. Meinen Sie wirklich, diese Unternehmer und übrigens auch viele ihrer Mitarbeiter  hätten etwas gegen eine wirtschaftsnahe Politik? Ich meine, es ist sehr wichtig, daß es hierzulande eine liberale politische Kraft gibt, die natürlich – wie andere auch – gelegentlichen politischen Konjunkturen unterworfen ist. Übrigens, von unseren Grundwerten, so hat  Willy Brandt seiner Partei hinterlassen,  ist mir die Freiheit der wichtigste…

Gilt Ihre Antwort auch  in Hinblick auf das Wachstumsbeschleunigungsgesetz?
Clement: Wenn Sie damit auf die Absenkung des Mehrwertsteuersatzes für die Hotelbranche anspielen, will ich klar sagen, dass ich dies schon  als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen gefordert habe, übrigens ebenso wie der bayerische und andere Ministerpräsidenten auch.  Wir sind nun `‘mal von neun Ländern umgeben und in all diesen Ländern gilt, soweit ich sehe, eine mehr oder weniger abgesenkte Mehrwertsteuer. Dieses Konkurrenzproblem an den europäischen Grenzen zu lösen, mag nicht das wichtigste Anliegen der deutschen Politik sein, aber es ist ein berechtigtes!

Wie wichtig ist Transparenz für eine funktionierende Demokratie?
Clement: Nichts ist wichtiger. Nur, die Parteien, die  allerorten  Transparenz einfordern, stellen denselben  Anspruch an sich selbst offensichtlich nicht, insbesondere nicht bei der Auswahl des politischen Personals. Das ist eine ein erhebliches Manko und ich hoffe, daß die Einsicht, daß man die Kandidaturen zu deutschen Parlamenten nicht in Hinterzimmern aushandeln sollte, wächst und  auch irgendwann Früchte trägt.

Und Transparenz in Bezug auf das Verhältnis von Politik und Wirtschaft?
Clement: Sie  meinen das Thema Parteispenden? Da haben wir ja eine weitgehende Transparenz. Der nächste Schritt wäre, Parteispenden durch Unternehmen zu verbieten.  Aber ich fürchte, das würde die parteilichen Erwartungen an den Staat nur wachsen lassen.

Was halten Sie von einer Organisation wie Transparency International?
Clement: Das ist so ähnlich wie beim Steuerzahlerbund, also eine private Organisation, legitim wie andere auch, mit zumeist, aber nicht stets bemerkenswerten Beiträgen.

Transparency International fordert unter anderem eine dreijährige Karenzzeit für ausscheidende Politiker, bevor sie in die Wirtschaft gehen.
Clement: Auf diese Weise landen wir eben beim Allzeit-Politiker, gewissermaßen von der Wiege bis zur Bahre. Ich bin für das genaue Gegenteil, also: so viel Austausch und Wechsel wie möglich und sinnvoll zwischen den politischen, den öffentlichen und den privaten Seiten unseres gesellschaftlichen Lebens.

Die Bürger sehen es zumindest mit Argwohn, wenn Politiker Dinge beschließen, von denen Sie kurze Zeit später in einem Unternehmen profitieren.
Clement: Wenn der Vorwurf  zutrifft, ist er berechtigt. Sonst nährt er nur Vorurteile, von denen wir genug haben.

Und der Wechsel von Gerhard Schröder in das Konsortium für die Ostsee-Pipeline?
Clement: Dieser Wechsel war aus meiner Sicht im Interesse unseres Landes.

Aber wenn Gerhard Schröder als Noch-Kanzler das Projekt Ostsee-Pipeline vorantreibt und wenige Monate später in den Aufsichtsrat der Betreibergesellschaft wechselt schadet dies dem Vertrauen der Bürger in die Politik. Sehen Sie das nicht so?
Clement: Nein. Ich halte es für einen  großen Vorteil für unser Land und übrigens auch für die weitere europäische Entwicklung, daß der frühere Bundeskanzler eine außerordentlich wichtige Rolle im deutsch-russischen Verhältnis spielt.

Wie zeitaufwendig sind heute Ihre Mandate in den Aufsichtsräten?
Clement: Sie  sind ähnlich zeitaufwendig wie die Aufgaben  und Verpflichtungen, die ich ehrenamtlich übernommen habe.

Anmerkung: Das Interview mit Wolfgang Clement wurde am 03.05.2010 telefonisch geführt. Wolfgang Clement hat das Interview autorisiert und in der hier veröffentlichten Form freigegeben. Nicht freigegeben wurden Antworten auf die folgenden Fragen und Einwürfe:
“Die politische Entscheidung hin oder her – für den Bürger stellte es sich so dar, dass die Partei eine große Spende aus der Hotelbranche erhielt und dann die Steuersenkung durchsetzte.“
“Halten Sie demnach Schlagzeilen wie jene über Guido Westerwelle hinsichtlich der Zusammenstellung seiner Delegation für die Südamerikareise im März 2010 für unnötig?“
“Sie meinen eine Missgunst von Seiten der Bevölkerung gegenüber den Politikern?“
“Hat es Sie geärgert, dass einem die Bevölkerung für einen Job, der einem nur 3-5 Stunden Schlaf lässt, am Ende nicht mehr gönnt?“
“Spielen für ein Unternehmen mehr Ihre Fähigkeiten als Wirtschaftspolitiker eine Rolle, oder geht es eher um Kontakte und Netzwerke?“
“Was würden Sie als Ihre beste Fähigkeit in der Politik bezeichnen?“
“Wo waren Sie in der Politik besonders gut?“
Weiterhin wurden an mehreren Stellen die Wörter „dass“ in „daß“ und „muss“ in „muß“ geändert. Die jetzige Fassung ist um 28 Prozent kürzer als die vom Interviewer erstellte Fassung.

Wolfgang Clement hat die Kürzungen in bzw. ganzer Antworten auf Nachfrage schriftlich begründet, u.a. damit, dass bestimmte Aspekte schon „hundertmal abgefragt und beantwortet“ worden seien und es bestimmten Fragen an Originalität fehle. Der Standpunkt von Planet Interview zur Praxis der Autorisierung (formuliert im Jahr 2006)  kann hier nachgelesen werden.

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