Wolfgang Bergmann

Zurzeit ist unsere Kultur auf einem Selbstmordtrip.

Familien-Experte Wolfgang Bergmann über sein Buch „Warum unsere Kinder ein Glück sind“, Bindungsintensität, familienfeindliche Globalisierung und die narzisstische Besetzung von Kindern durch ihre Eltern

Wolfgang Bergmann

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Herr Bergmann, in den letzten Monaten scheint das Interesse an Büchern über Erziehung gewachsen zu sein, Michael Winterhoffs „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ und ähnliche Veröffentlichungen verkaufen sich in hoher Auflage – wie erklären Sie sich den Erfolg von Erziehungsratgebern?
Bergmann: Als erstes bin ich mir gar nicht so sicher, ob diese Bücher wirklich von Eltern gelesen werden. Aber fest steht, dass weder die Sozialtheorie, noch die Kriminalsoziologie und die Psychotherapie heute eine Antwort auf die Frage hat, wie wir das Soziale in Kindern verankern wollen. Und wenn die gesellschaftliche Verbindlichkeit nicht als Wert des individuellen Selbstgefühls verankert ist, dann wird eine Gesellschaft auseinanderdriften. Dann sucht jeder nur seinen Vorteil auf Kosten aller anderen. So eine Kultur kann nicht auf Dauer überleben.

Woran machen Sie fest, dass das Soziale bei den Jugendlichen schwindet?
Bergmann: Zum Beispiel an der Zunahme von Computersucht. Manche Kinder spielen nicht nur einfach zu viel, sondern zerstören sich ihre Zukunft und verfallen in Panikattacken, wenn sie nur eine Schule von Weitem sehen. Und wir haben allgemein bei Jugendlichen eine Zunahme des Cannabis- und Alkoholkonsums. Da suchen die Eltern jetzt natürlich nach Lösungen. Und für viele ist das die Rückwendung zu den guten, alten Werten.

Die da sind?
Bergmann: Die guten, alten Werte sind in Deutschland geprägt von Disziplin und Ordnung. Sie hören ständig: „Bei uns war das  alles anders, bei uns wurde noch pariert.“ Viele unsichere Eltern lassen sich davon auch anstecken. Das Problem ist nur: Mit Bestrafung stiften Sie bei Kindern keinen Gehorsam sondern Respektlosigkeit. Die meisten Eltern wissen das nicht. Ein zusätzlicher Effekt ist die massive, fast epidemische Zunahme der Hyperaktivität bei Kindern.

Welche Lösungsvorschläge bieten Sie an?
Bergmann: Ich für meinen Teil versuche gegen den Strom zu schwimmen und zu sagen: Wenn das Kind älter als 10 oder 11 ist, können Sie gar nicht mehr viel machen. Moderne Kinder haben tausend Möglichkeiten allem auszuweichen. Wenn die 14 Jahre alt sind, was wollen Sie da machen? Ihr Kind in den Keller einsperren oder es verprügeln? Die Eltern sind angewiesen auf die Bindungsintensität, die in den ersten Jahren entsteht. Nur dadurch entsteht Gehorsam. Wenn Sie die aber durch das Disziplingetue oder durch eine normative Erziehung – der Pädagoge Bernhard Bueb etwa schwärmt in seinen Büchern von Uniformen für Kinder – zerstört haben, dann ist die ganze Pubertät ein einziges Unglück. Nicht nur für das Kind, auch für die Eltern. Deswegen muss man rechtzeitig warnen.

Ihre Ausführungen in Ihrem neuen Buch „Warum unsere Kinder ein Glück sind“ zeigen, dass sowohl Kinder als auch Eltern mit der derzeitigen Lebenswirklichkeit nicht zurechtkommen. Sind wir heute überfordert, weil wir mit uns selbst überfordert sind?
Bergmann: Ja, ganz offensichtlich. Wir bewegen uns in ständiger Hektik. Das geht ganz früh bei den Kindern los. Es gibt immer mehr Mütter, die nähren ihr Kind noch, aber sie stillen es nicht mehr, das Kind wird nicht mehr still. Diese Aufmerksamkeit, dieses Ineinanderverweben, ist aber die erste, wichtige Grundlage für eine Gefühlssicherheit. Wenn die verloren geht, schwimmen die Kinder immer zwischen Freude und Ärger und jederzeit kann der Absturz kommen.
Hektik und Überforderung haben aber auch eine familienpolitische Seite: Wir schützen die Familie nicht. Ich kenne kaum eine junge Familie, bei der die Eltern nicht bis auf die Knochen erschöpft sind. Zusätzlich ist das Kind auf eine Weise in das Zentrum des Selbstbewusstseins der Eltern bzw. ihrer Partnerschaft gerückt, die für das Kind überfordernd ist. Was ist, wenn ich versage? Vielleicht wollen Mama und Papa sich dann trennen. Vielleicht haben sie sich dann nicht mehr lieb. – Diese Situation ist natürlich auch von Seiten der Eltern Ausdruck davon, dass sie untereinander keine Verbindlichkeit gefunden haben, sondern diese nur noch über das Kind herstellen.

Würden Sie sagen, dass die gesamtgesellschaftliche Situation Ursache für die pädagogische Ohnmacht vieler Eltern ist?
Bergmann: Ja, wir haben unter den Erwachsenen eine breite Sinnsuche. Wir stehen an der Grenze dessen, was an Individualisierung möglich ist. Wir sind umlagert, unsere Kinder noch mehr, geradezu durchdrungen von Medienrealitäten, in denen in perfektionierten Glücksversprechen gesagt wird: „So ist das richtige Leben.“ Gleichzeitig wird signalisiert: „Du wirst es nie erreichen. Du bist nicht perfekt genug.“ Dies sind alles unsägliche Belastungen, und jede wäre ein einzeln zu analysierendes Thema. Damit kommen viele Eltern nicht klar.
Gleichzeitig haben wir ein tiefes, bedrohtes Existenzgefühl. In der heutigen Zeit weiß ein gut ausgebildeter Vater nicht mehr, ob er seiner kleinen Tochter in zwei Jahren noch das Kinderzimmer zur Verfügung stellen kann. Das ist abhängig von irgendwelchen Finanzspekulationen in Hong Kong oder New York. Wir haben unser Schicksal nicht mehr in der Hand, auf eine Art und Weise, wie das noch nie vorher der Fall war.

Könnte man sagen, dass Kinder im Grunde genommen nicht in unsere Leistungsgesellschaft passen, weil sie viel zu dysfunktional sind?
Bergmann: Ja, da gebe ich Ihnen völlig recht. Der Zusammenbruch der Nationalökonomie und die Globalisierung der Finanzmärkte, insgesamt das Globalisierungsgeschehen und die Familien, die Eigenarten der Familien, die Sesshaftigkeit, die Verlässlichkeit, das Langsame, das eine Familie braucht, die beiden Modelle passen nicht zusammen. Die Globalisierung in all ihren Erscheinungsformen ist familienfeindlich. Und die so unter Druck geratenen Familien neigen dann natürlich dazu, sich den Kindern gegenüber ungeschickt, narzisstisch zu verhalten.

Kinder scheinen in unserer heutigen individualisierten Gesellschaft für viele eine Einschränkung der persönlichen Freiheit zu bedeuten.
Bergmann: Wenn die wirtschaftliche Existenz geregelt wäre, dann sind Kinder keine Einschränkung. Kinder sind wirklich eine unendliche Bereicherung. Das weiß auch jeder, der ein Kind hat, es gibt überhaupt keine tiefere Liebesbindung als zum eigenen Kind, das ist etwas Menschheitsgeschichtliches. Das muss es auch sein, sonst wären wir längst ausgestorben.
Die Gesellschaft muss heute verschiedene Modelle für Eltern herstellen. Dazu gehört auch, dass jemand, der drei Jahre zu Hause bleiben will, dazu sozial die Möglichkeit bekommt. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, die auf die Kreativität und Intellektualität ihrer kommenden Generationen angewiesen ist, dann dürfen wir diese Intellektualität und die ihr zugrunde liegende Emotionalität, die Gefühlsgewissheit und die Bindungssicherheit, die Voraussetzung für soziales Leben ist, nicht verarmen oder gar verdorren lassen. Zurzeit ist unsere Kultur aber auf einem Selbstmordtrip.

Zitiert

Wenn das Kind älter als 10 oder 11 ist, können Sie gar nicht mehr viel machen. Moderne Kinder haben tausend Möglichkeiten allem auszuweichen.

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Weil Sie die familienpolitische Seite ansprachen: Was würden Sie der Politik empfehlen, was sollte man anders machen?
Bergmann: Für mich geht die gegenwärtige familienpolitische Richtung absolut in die falsche Richtung. Das ist eine ganz merkwürdige Geschichte, die angesprochene Bindungsforschung ist ja kein Einfall von mir, sondern es ist das sicherste, was wir psychologisch wissen. Das Kinderbetreuungsgesetz widerspricht in elementaren Sätzen den Ergebnissen dieser Bindungsforschung. Das weiß auch Frau von der Leyen, aber sie verliert kein einziges Wort darüber. Sondern sie sagt: Die Kinder werden gefördert, wenn sie früh in Einrichtungen kommen. – Ein einjähriges oder gar acht Monate altes Kind, das mit anderen zusammenkommt, das lernt aber nichts Soziales, das erkennt den Anderen noch gar nicht. Das ist noch ganz in seiner Körperlichkeit gebunden und ist an und über Mama und Papa dabei, seine Weltwahrnehmung zu entwickeln. Aber soziale Kontakte oder gar Solidarität, wie ich mitunter höre, können Kinder frühestens in ersten Spuren nach dem 18. Lebensmonat entwickeln. Wir rechnen damit, dass sie 18 Monate brauchen, um über ein kohärentes, einheitliches Ich-Gefühl zu verfügen. Vorher haben Kinder überhaupt kein Ich-Gefühl. Also können sie es auch nicht mit anderen austauschen.

Bauen Sie damit nicht auch große Schuldgefühle auf Seiten der Eltern auf, die ihre Kinder in Betreuungseinrichtungen geben?
Bergmann: Nun ja, da muss man jetzt differenzieren, weil das keine Frage von schwarz oder weiß ist. Natürlich findet in einer hochtechnologisierten und organisierten Gesellschaft das soziale Leben nicht mehr im Raum der Familie statt. Sondern das soziale Leben findet wesentlich im Beruflichen statt und die Attraktivität einer Person, einer Frau oder auch eines Mannes hängt im Wesentlichen von dieser Berufstätigkeit ab. Das heißt, junge Mütter stehen heute vor der schwierigen Entscheidung, entweder ganz für ihr Kind da zu sein und dafür auf ihre Karriere bzw. schlicht auf ihre berufliche Existenz zu verzichten. Das bedeutet auch: Verzicht auf ein soziales Leben, auf die Vielfältigkeit von Kontakten und die Option andere Menschen kennen zu lernen. Oder aber sie geben das Kind in eine Krippe, wenn es acht Monate oder ein Jahr alt ist.

Dabei geht es doch aber vielen Eltern gar nicht so sehr um Selbstverwirklichung, sondern oft nur um die bloße wirtschaftliche Existenz.
Bergmann: Genauso ist das. Die Eltern heute eilen keiner Karriere entgegen, sondern sie müssen arbeiten. Anders geht es gar nicht. Wenn man die Mütter fragt: Wenn ihr genügend Geld und Kontakte hättet und nicht arbeiten gehen müsstet, würdet ihr dann die Kinder auch in die Krippe geben? – Dann entstehen plötzlich Mehrheiten, die einer ganz anderen Zeit entstammen. Das heißt, wir brauchten etwas, was alle alten Kulturen hatten und alle naiven Stammeskulturen heute noch haben: Die Familie und vor allem Mutter und Kind müssen in den ersten Lebensmonaten im Zentrum der Gemeinschaft stehen. Es ist Aufgabe der Gemeinschaft, dieses Leben zu versorgen, zu beschützen und ihm eine gesellschaftliche, eine soziale Ordnung zu geben.
Aber es gibt noch ein andere Sache: Ich habe meine Tochter herzinniglich geliebt und wir hatten unsere heiligen Stunden auf dem Spielplatz. Aber nach einer Stunde wurde es mir langweilig. Da habe ich gesagt: Pass auf, du spielst jetzt weiter und ich gehe erst einmal einen Cappuccino trinken, ich will meine Zeitung lesen. Ein Kind allein ist für sechs, sieben Monate eine unendlich spannende Aufgabe, vielleicht auch für ein Jahr. Aber dann ist es auch genug.

Wie sähe Ihrer Ansicht nach eine gute Lösung für dieses „Problem“ aus?
Bergmann: Wir brauchen gute Krippen und die sind Mangelware trotz bestehendem Qualitätsschlüssel. In Hannover zum Beispiel haben wir Krippen mit 15 Kindern und drei Erzieherinnen – das ist Kindesmisshandlung! Stellen Sie sich mal vor, eine Erzieherin wickelt ein Kind, die zweite beschäftigt sich mit einem anderen Kind und die dritte hat Urlaub oder ist krank. Was machen da die anderen 13 Kinder in der Zeit? Sie starren ins Leere. Dort passiert Verödung von seelischem Leben, von sozialen Möglichkeiten und auch die Aufgabe von Intellektualität. Es gibt einige gute Krippen-Modelle, da lasse ich auch mit mir reden. Ich denke, es muss der Mutter möglich sein, ohne irgendwelchen sozialen Ängste solange mit ihrem Kind in der Krippe zu bleiben bis sie das Gefühl hat: Jetzt kann ich gehen. Mütter spüren das, Kinder spüren das auch. Und dann brauchen wir für drei Kinder, besser für zwei Kinder eine Erzieherin. Anders geht das nicht. Ein Kind verlangt soviel Aufmerksamkeit, Ausdauer, Berührung und Körperlichkeit. Mehr als zwei drei Kinder bekommen Sie nicht auf die Reihe, dann ist Schluss. Alles andere ist Misshandlung von Kindern.

Sie vertreten in Ihrem Buch auch die These, dass viele Verhaltensauffälligkeiten von Kindern ein Effekt des egoistischen Bedürfnisgefüges in heutigen Paarbeziehungen ist.
Bergmann: Egoistisch hat mir einen zu moralischen Unterton. Es ist eher eine Verfasstheit in den heutigen Beziehungen. Das hat mit der Individualisierungskultur zu tun und damit, dass die Kleinfamilie immer kleiner wird. Heute ist es die Regel, dass Papa und Mama beständig ihre Bedürfnisse miteinander verhandeln. Also wenn Mann und Frau sich heute sagen „Ich liebe dich“ – dann heißt das eigentlich: Du erfüllst meine Bedürfnisse, zwar noch nicht optimal aber weitgehend. Wenn das der Partner aber nicht mehr tut, gibt es keinen Grund mehr, zusammen zu sein. Deswegen auch der Wunsch, in die Kirche zu gehen und die leiblich mystische Einheit bei der Eheschließung zu erleben. Der Wunsch nach Einheit ist bei den Menschen vorhanden, aber in unserer Kultur nicht angelegt. Wir bräuchten eine Kultur der Bindungsfähigkeit, in dem der Satz „Ich bin, weil Du bist“ nicht nur eine rhetorische Formel ist. Wenn wir uns ineinander spiegeln und finden, dann geben wir uns nicht bei jeder Kleinigkeit auf. Das wäre der Anfang.

Inwiefern hängen denn diese Dinge mit den Verhaltensauffälligkeiten zusammen?
Bergmann: Ein Kind rückt nun automatisch in das Zentrum dieser Familie  und soll nach außen hin präsentieren, was für eine tolle Partnerschaft das ist, was für ein toller Vater, was für eine tolle Mutter wir sind. Diese narzisstische Besetzung, und die kann Ihnen jede Kindergärtnerin, jeder Kindertherapeut bestätigen, ist hochproblematisch. Daraus entstehen auch solche Haltungen wie: „Wahrscheinlich ist mein Kind hochbegabt, deswegen versagt es in der Schule.“ Oder: „Mein Kind muss mit zweieinhalb Jahren Chinesisch lernen, damit es später auf dem Weltmarkt bestehen kann.“ Das Kind trägt in gewisser Weise die Beweislast für die partnerschaftliche Existenz der Ehe durch sein Leistungs- und Selbstdarstellungsvermögen. Das ist schon eine elende Geschichte.

Sie gehen soweit, zu sagen, dass diese narzisstische Besetzung des Kindes durch die Eltern zu einer Kränkung beim Kind führen kann und damit zu den Phänomenen wie Computersucht, Essstörungen und Selbstverletzung führt.
Bergmann: Aus frühkindlichen Bindungsstörungen geht oft eine gewisse Unfähigkeit eines Kindes hervor, sich vertrauensvoll auf die Eigenart und Fremdheit der Welt einzulassen, sich mit seiner Körperlichkeit, mit seinem Intellekt und letztlich mit seiner Sprache mit der Welt zu versöhnen.
Dann kommt der Leistungsgedanke: „Ich muss das ABC mit zweieinhalb Jahren schaffen“ oder „Ich brauche die Gymnasialempfehlung, sonst ist Mama gekränkt, und Papa hat sie nicht mehr lieb“. Das hält kein Kind durch. Im Grunde ist es ein Wunder, dass unsere Kinder überhaupt noch seelisch so gesund sind. Insofern gibt es da einen Zusammenhang, den man aber etwas breiter ansetzen muss. Ich behaupte, dass Hyperaktivität, die zunehmende Körper-Selbstbild-Störung, damit zusammenhängt, dass ein Kind nicht genug Körperlichkeit und Zeit und Raum und Geborgenheit entdeckt hat. Dann suchen Kinder die Glücksbilder in den sie ständig umlagernden Medien. Sie suchen in den perfektionierten Körpergestalten und stehen dann verzweifelt vor einem Spiegel und erkennen sich selbst nicht als liebenswert wieder. Wenn aber Papa oft genug gesagt hat: Du bist das süßeste Kind auf Erden, spielen mediale Vorbilder eine unwesentlichere Rolle. Meiner Tochter habe ich einmal gesagt: „Wenn du eine fünf in Mathe hast, ist das zwar nicht schön, aber weißt du was das wirkliche Problem ist? – dass Papa keinen Cappuccino hat. Also Küken, ab, besorge mir sofort einen Cappuccino.“ Und die Kleine, wie befreit, rast los. Da haben Sie den Gehorsam und das Väterliche schiebt sich wie ein Schutz gegen den Leistungszwang, der von der Schule auf das Kind ausgeübt wird.

Reicht dieses Modell aus, um Taten wie beispielsweise den Amoklauf in Winnenden zu erklären?
Bergmann: Ja. Wir sehen inzwischen ein gewisses Muster – auch in Anbetracht aller Individualität und Vorsicht bei Ferndiagnosen. Oft sind die Kinder schon ganz früh isoliert gewesen. Das heißt: Dieses Ich-lerne-mich-selber-über-das-Spielen-mit-anderen-kennen hat nicht stattgefunden. Und ich lerne, nicht weil ich mich selber immer in den Mittelpunkt schieben muss, sondern weil ich einfach Freude am Spiel mit anderen habe. Ich gucke den Anderen an, der guckt zurück und ich werde mit mir selber bekannt in dem Spiel. Das setzt all das, was ich eben skizziert habe, voraus: Welterfahrung, Körpererfahrung, Geschicklichkeit. Geschickte Kinder sind beliebt und werden auch schneller in die Gruppen gewählt, man spielt mit ihnen usw. Auch Bindungssicherheit: Ich bin ein liebenswertes Kind, also gehe ich vertrauensvoll auf die anderen Kinder zu. Das hat hier alles gefehlt, deswegen sind die isoliert. Die werden ja nicht isoliert, weil die anderen Kinder bösartig sind, sondern weil die anderen Kinder ihre Bindungsunfähigkeit spüren und sich dann fast instinktiv zurückziehen. Sie sind also isoliert, sind oft Leistungsversager, haben meist ehrgeizige Eltern – im Fall von Winnenden diesen Porschefahrer-Vater mit seinem Schießgewehr. Da kann man sich vorstellen, was dieser erfolgreiche Klein- oder Großunternehmer diesem pausbäckigen, fast kindlich anmutenden Jungen vorgehalten hat: Du bist ein Looser, aus dir wird nichts!

Das ist jetzt aber Spekulation…
Bergmann: Also, das muss der Vater gar nicht gesagt oder gewollt haben. Aber in der Weltwahrnehmung des Jungen war das drin. Isoliert, ein Versager und dann setzt sich ein seelischer Mechanismus oder eine seelische Abfolge in Gang. Kein Kind ist in der Lage, sich selber zu sagen, dass es ein Verlierer ist. Das würde man auf die Dauer auch gar nicht durchhalten. Also baut man in seinem Hinterkopf ein Gefühl auf, Ich-Ideal nannte Freud das, ein Gefühl einer Selbstidealisierung, die aber mit der Realität überhaupt nicht übereinstimmt. Und insofern ist es eine zornige und eine hybride Selbstidealisierung. Dieses zornige, hybride Ideal kann ich in den Computerspielen detailreich und ästhetisch fein zelebrieren: „Ich bin der Erschaffer und der Vernichter. Ich bin Gott gleich und ich kann die universale Katastrophe auslösen.“ Dann kommt die eine reale Versagenserfahrung, danach die andere, vielleicht auch das hübsche Mädchen, das mich nicht will. Dann kommt Papa nach Hause, spielt mit seinem Schießgewehr und sagt: „Junge aus dir wird irgendwie nichts.“ – Irgendwann überwiegt der Zorn und inszeniert sich nach den Bildern der Computerspiele. So kommt ein Kurzschluss wie der des Amoklaufs zu Stande. Es heißt immer, die Computerspiele wären Schuld, sie sind aber nur der letzte Transformator.

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