Uwe Seeler

Was die Schwalben betrifft, sind wir mittlerweile schlimmer als die Italiener.

Uwe Seeler über seinen Spitznamen, Vereinstreue, Fairness auf dem Spielfeld, Schiedsrichter und die EM 2012

Uwe Seeler

© Werner Treimetten

Herr Seeler, Sie sind im vergangenen November 75 Jahre alt geworden. Welche war die glücklichste Zeit in Ihrem Leben?
Ich kann erfreulicherweise sagen, dass ich mein ganzes Leben lang glücklich war. Die Kriegsjahre und die Nachkriegszeit war natürlich nicht ganz einfach. Aber meine Eltern haben alles versucht, um mir eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Ich musste zwar die Schuhe meiner Schwester anziehen, um auf den Straßen Fußball spielen zu können. Aber auch das sind schöne Erinnerungen.

In Hamburg kennt man Sie unter Ihrem Spitzname „Uns Uwe“. Wer hat diesen eigentlich erfunden?
Das waren die Fans. Die riefen immer „Uwe, Uwe, Uwe“ um mich anzufeuern. Und irgendwann riefen sie eben „Uns Uwe“.

Die Menschen nennen Sie heute noch Uns Uwe, weil Sie ein Mensch des Volkes sind. Sie gelten als eine offene und immer freundliche Person. Ist es an manchen Tagen nicht schwer, diesem Image gerecht zu werden?
Eigentlich nicht. Ich bin einfach so wie ich bin. Das Schönste auf der Welt ist es, normal zu sein. Meine Eltern haben mich so erzogen, immer mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben, anderen Menschen zu helfen und nett zu sein. Natürlich kommen manchmal viele Menschen auf mich zu. Aber schließlich wollte ich früher auch, dass die Menschen mich im Stadion anfeuern. Es ist ein geben und nehmen. 

Kommen wir zu Ihrer aktiven Fußballkarriere. Damals war Fußball praktisch nur ein Nebenerwerb, im Mittelpunkt stand der Beruf. Sie waren als Adidas-Vertreter in ganz Deutschland unterwegs, waren die Kunden nicht überrascht, wenn ein Fußballstar ihnen Schuhe verkaufen wollte?
Natürlich waren sie überrascht. Sie wollten dann viel über den Fußball und den HSV wissen. Oft wurde ich zum Kaffee oder Spargelessen eingeladen, damit ich viel erzähle. Aber es war natürlich nicht einfach, Leistungssport und mein Beruf als Vertreter, ich bin jährlich rund 60.000 Kilometer durch Deutschland gefahren, miteinander zu vereinbaren.

Haben Sie dann teilweise unterwegs trainiert?
Natürlich. Bei meinen ersten beiden Touren habe ich mich bei anderen Vereinen angemeldet und mittrainiert. Aber das führte dazu, dass ich bis spät in die Nacht Autogramme geben musste. Daher habe ich später alleine trainiert, bin gelaufen und habe Gymnastik gemacht.

Dabei hätten Sie diesen Beruf gar nicht nötig gehabt. Im Alter von 24 Jahren erhielten Sie ein lukratives Angebot von Inter Mailand. Ihnen wurde ein Jahresgehalt von 1,2 Millionen Mark geboten. Beim Hamburger SV verdienten Sie damals rund 15.000 Mark im Jahr. Wie kann man so ein Angebot ablehnen?
Genau genommen war das Angebot von Inter Mailand noch höher. Wir haben drei Tage lang verhandelt und das Angebot stieg und stieg. Aber ich habe mich aus dem Bauch heraus für meine Sicherheit entschieden. Mir war meine berufliche Existenz als Vertreter einfach sehr wichtig. Die Karriere hätte in Mailand schließlich auch negativ verlaufen können. Große Geldsummen haben mich ohnehin nicht sehr gereizt, weil ich aus einfachen Verhältnissen komme. Ich habe mich für den sicheren Weg entschieden und das nie bereut. Außerdem wollte ich Hamburg nicht verlassen.  

Was haben Ihre Frau und Ihre Mannschaftskameraden beim HSV zu dem Angebot gesagt?
Meine Frau meinte, ich soll das ganz alleine entscheiden. Meine Mannschaftskameraden haben allerdings gesagt, dass sie mich gerne in der Mannschaft behalten würden, man solch ein lukratives Angebot aber annehmen muss. Sie hätten mich sogar mit Blumen zum Flughafen gebracht. Als ich das Angebot ablehnte, haben manche ungläubig mit dem Kopf geschüttelt. Viele konnten nicht verstehen, dass ein Mensch so viel Geld ablehnt.

Diese Identifikation mit dem Verein und der Stadt scheint den heutigen Spielern zu fehlen.
Ja, so etwas gibt es nicht mehr und wird es vermutlich auch nicht mehr geben. Ich bin früher beim HSV groß geworden, heutzutage werden die Spieler aus der ganzen Welt zusammengekauft.

Als eingefleischter HSVer muss es Sie doch stören, wenn ohnehin schon reiche Fußballer ihren Verein verlassen, nur um ein paar tausend Euro mehr zu verdienen.
Fußball ist ein Geschäft geworden. Manche Spieler küssen beim Torjubel ihr Vereinslogo und eine Woche später verlassen sie den Verein. Das kann man gut oder schlecht finden. Mich stört vielmehr, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis aus den Fugen geraten ist. Ich spreche nicht von den Spitzenspielern, sondern von den vielen Durchschnittsspielern, denen viel zu viel Geld gezahlt wird.

Und der Fan muss das letztendlich in Form von Eintrittspreisen bezahlen.
Genau, und das darf man nicht überspannen. Es ist doch bereits sensationell, dass tausende Fans ihr ganzes Geld sparen, um ihre Mannschaft zum Beispiel bei Auswärtsspielen zu unterstützen. Aber wenn die Eintrittskarten teurer und teurer werden, werden die Stadion bald wieder leerer sein. Das ist schon jetzt erkennbar, besonders in Italien und England. Eintrittskarten beim Fußball dürfen nur so teuer sein, dass sich jeder einen Stadionbesuch leisten kann. Notfalls müssen die Spielergehälter dafür gesenkt werden.

Das dürften die Spielerberater anders sehen. Wie beurteilen Sie dessen Rolle im heutigen Fußball?
Es gibt ein paar gute Spielerberater, die ihrer Funktion wirklich gerecht werden und die Spieler karrierefördernd beraten. Aber das sind leider wenige. Die meisten wollen nur das schnelle Geld machen und den Spieler dazu bringen, möglichst häufig den Verein zu wechseln, damit sie selbst eine fette Provision bekommen. Dass dieser Schritt eventuell verkehrt ist, der Spieler beim neuen Verein vielleicht nur auf der Ersatzbank sitzt, ist vielen egal.

Sie hatten damals keinen Spielerberater?
Nein, so etwas brauchten wir nicht. Selbst als ich mit Inter Mailand verhandelt habe, war ich ganz alleine.  

Zitiert

Fußball ist ein Geschäft geworden und das Preis-Leistungs-Verhältnis ist aus den Fugen geraten.

Uwe Seeler

Kommen wir zum Thema Fanausschreitungen…
Ja, die bereiten mir große Sorgen. So etwas gab es zu meiner aktiven Zeit nicht. Die Fans haben ihre Mannschaft angefeuert, es wurde aber nie gewalttätig. Es kann nicht sein, dass einige Zuschauer dem gegnerischen Fan eins in die Fresse hauen, wenn die eigene Mannschaft verloren hat.

Wie kann man das wieder in den Griff bekommen?
Vermutlich muss man einfach härter durchgreifen. Aber das ist sehr schwierig. Trotz der vielen Kontrollen lässt sich bis heute nicht verhindern, dass manche Zuschauer Feuerwerkskörper in das Stadion bekommen. Ich bedauere diese Entwicklung sehr.

Im vergangenen Jahr gab es einen Suizidversuch des Bundesliga-Schiedsrichters Babak Rafati, der aufgrund des öffentlichen Drucks unter Depressionen litt. Sind die Schiedsrichter heutzutage überfordert?
Schiedsrichter haben es nicht einfach. Viele Spieler und Trainer, die auf der Verliererstraße sind, geben dem Schiedsrichter die Schuld, anstatt auf die eigenen Fehler zu schauen. Das war früher nicht viel anders. Aber ich denke, dass die Aggressivität gegenüber Schiedsrichtern gestiegen ist. Das geht bereits im Jugendfußball los. Ich habe von einem 12-Jährigen gehört, der dem Unparteiischen mit beiden Beinen ins Kreuz gesprungen ist, weil dieser falsch gepfiffen hat.

Profifußballer werden nicht gewalttätig, diskutieren aber häufig mit dem Schiedsrichter, teilweise gibt es Rudelbildungen. Sind die Profis schlechte Vorbilder?
Teilweise schon. Fußballprofis sagen oft, sie wollen gar keine Vorbilder sein. Sie sind es aber und sollten sich dementsprechend verhalten. Die Kinder sehen die Profis im Fernsehen und machen genau das nach. Und das betrifft leider auch den Umgang mit dem Schiedsrichter.

Machen auch die Schiedsrichter Fehler?
Ich denke, dass die Schiedsrichter mehr zu ihren Entscheidungen stehen sollten. Niemand kann fehlerfrei pfeifen. Aber wenn ein Schiedsrichter zum Beispiel kein Elfmeter gibt, dann sollte er später keine Wiedergutmachung betreiben, indem er ein zweifelhaftes Foul pfeift.

Mit einem Videobeweis könnten Fehlentscheidungen verhindert werden…
…aber dafür würde ein Spiel dann drei oder vier Stunden dauern. Ich denke, die Tatsachenentscheidungen des Schiedsrichters sollten beibehalten werden.

Sollten dann vielleicht die Spieler ehrlich sein und zugeben, wenn sie zum Beispiel ein Handspiel begangen haben?
In meiner Zeit waren die Spieler tatsächlich oft ehrlicher, aber damals ging es nicht um soviel Geld.

Heutzutage gehen die Profis oft noch einen Schritt weiter und lassen sich theatralisch fallen, obwohl sie überhaupt nicht berührt wurden.
Leider, denn das ist sehr unsportlich. Was die Schwalben betrifft, sind wir mittlerweile schlimmer als die Italiener, über die wir uns früher aufgeregt haben.  

Stichwort Leistungsdruck: Der Selbstmord des ehemaligen Nationaltorhüters Robert Enke ist nun mehr als zwei Jahre her. Damals hieß es, der Leistungsdruck sei oftmals zu groß. Haben Sie das Gefühl, dass sich seitdem etwas verändert hat?
Wenn jemand Leistungssport betreibt, egal in welcher Sportart, herrscht immer ein großer Leistungsdruck. Das war bei uns früher nicht anders. Die Medien haben uns damals genauso kritisch bewertet wie heute. Und wir hatten neben dem Druck auf dem Fußballfeld auch noch den Druck im normalen Berufsleben. Ich denke, dass der Fußball dieses Problem nicht beheben kann. Trainer und Sportler können vielleicht aufmerksam darauf achten, wie es den Kameraden geht. Aber in der Hektik, zwischen Training und Punktspielen, ist das sehr schwer.

Sie haben drei Töchter. Haben die eigentlich mal Fußball gespielt?
Nein, Mädchen haben damals noch kein Fußball gespielt. Meine Töchter haben andere Sportarten betrieben, zum Beispiel Handball und Leichtathletik.

Wie ist denn Ihre Meinung zum Frauenfußball?
Früher war ich der Meinung, Frauen sollten kein Fußball spielen. Aber die Entwicklung ist sehr positiv. Unsere Frauen spielen guten Fußball. Ich habe mir die Spiele bei der Weltmeisterschaft gerne angeguckt. Manchmal spielen die Frauen schöneren Fußball als die Männer.

Kommen wir abschließend noch einmal zur Europameisterschaft 2012: Schließen Sie sich der weit verbreiteten Meinung an, dass Deutschland der Topfavorit ist?
Wir gehören auf jeden Fall zu den Mitfavoriten. Die Gruppe ist natürlich mit der Niederlande, Dänemark und Portugal schwierig. Aber wir können ja auch nicht immer nur gegen San Marino, Aserbaidschan und Kasachstan spielen. Und wenn die deutsche Nationalmannschaft weiterhin so spielt wie jetzt, sind sie auch in dieser Gruppe der Favorit.

Gibt es unter den deutschen Nationalspielern jemanden, der dem Spielertyp Uwe Seeler ähnlich ist?
Letztendlich hat jeder Fußballer seine eigene Art zu spielen. Aber von der Einstellung und vom Kampf her ist Miroslav Klose mir relativ ähnlich. Er geht nach vorne und ist ein guter Kopfballspieler. Daher freut es mich besonders, wenn er gute Leistung bringt. Er ist in der Mannschaft ein Positivum. Er arbeitet für das Team, bereitet vor, schafft Luft für seine Kollegen und macht Tore.

Also soll Bundestrainer Joachim Löw lieber Miroslav Klose anstatt Mario Gomez einsetzen?
Am liebsten wäre es mir, wenn er beide einsetzt. Wenn du vorne so stark besetzt bist, müssen die Gegner Angst haben.   

Uwe Seeler wurde 1936 in Hamburg geboren, als Sohn des Fußballers Erwin Seeler. Mit zehn wurde er von seinem Vater beim HSV angemeldete, mit 16 stand er bei einem UEFA-Jugendturnier auf dem Platz, kurz darauf spielte er für die HSV-Ligamannschaft, mehr

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