Ulrich Wickert

Man muss einfach Dinge verbieten.

Ulrich Wickert über sein Buch „Redet Geld, schweigt die Welt“, Ethik in der Wirtschaft, Korruption und Mindestlohn

Ulrich Wickert

© Paul Ripke

Herr Wickert, in Ihrem aktuellen Buch „Redet Geld, schweigt die Welt“ beschäftigen Sie sich vor dem Hintergrund der Finanzkrise mit der immer weiter um sich greifenden Gier in der Finanz- und Wirtschaftswelt und dem damit einhergehenden Verschwinden einst grundlegender ethischer Werte. Ihre Hauptthese dabei ist, dass sich Wirtschaft und Ethik jedoch keineswegs ausschließen, sondern untrennbar zusammen gehören.
Wickert: Ja, und ich finde es sogar sehr wichtig, genau diesen Aspekt herauszustellen und zu betonen. Gerade in der heutigen Zeit gibt es immer mehr Menschen, die den absolut freien Markt beschwören und die – das ist ein Zitat – sagen: „Die Freiheit der Wirtschaft ist die ethische Unabhängigkeit des Handelns“. Das ist für mich absurd; Freiheit ist niemals absolut, sondern wird durch Verantwortung beschränkt. Das Zitat stammt zwar interessanterweise von keinem Ökonomen, sondern von einem Philosophen, dennoch finde ich die Aussage borniert. Es gibt in einer Gesellschaft keine regelfreien Bereiche und die Ethik stellt ja nichts anderes als das Gesamtgerüst der gesellschaftlichen Regeln dar. Die Wirtschaft kann sich von den ethischen Regeln nicht einfach ausnehmen. Auch sie trägt – wie jeder andere gesellschaftliche Teilbereich – Verantwortung für die Gesamtgesellschaft. Deshalb müssen die gesellschaftlichen Regeln aus der Gesamtgesellschaft heraus erarbeitet und dürfen nicht allein von der Wirtschaft bestimmt werden.

Welche ethische Grundregel halten Sie in der Finanz- und Wirtschaftswelt denn persönlich für am Wichtigsten?
Wickert: In erster Linie Gerechtigkeit. Gerechtigkeit im Wirtschaftsleben bedeutet zum Beispiel, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern einen angemessenen Lohn zahlen. Es gibt unter den Ökonomen ja immer wieder Leute, die sich auf Adam Smith berufen, den Urvater des liberalen Gedankenguts. Bereits er hat aber auch gesagt, dass der Lohn für einen Arbeiter nur dann gerecht ist, wenn der Arbeiter davon seine Familie ernähren kann. Genau das ist heute jedoch zunehmend nicht mehr der Fall. In Deutschland gibt es momentan ungefähr 1,4 Millionen so genannte „Aufstocker“. Diese Menschen erhalten von ihrem Arbeitgeber also nur einen geringen Lohn und der Staat zahlt ihnen einen Zuschuss. Gleichzeitig machen die Unternehmen aufgrund der niedrigen Löhne, die sie zahlen, jedoch Gewinn. Das ist absurd und kann nicht richtig sein. Insofern trete ich vehement für einen Mindestlohn ein, so etwas muss endlich auch in Deutschland eingeführt werden. Man kann Leuten nicht fünf Euro in der Stunde zahlen, es müssen mindestens acht oder neun Euro sein.

Sie schreiben über unmoralisches Verhalten in der Wirtschaftswelt, über Korruption, Habgier oder Geldwäsche. Leben wir in Deutschland heute tatsächlich in einer „Bananenrepublik“, wie Sie es schon vor anderthalb Jahren in einer Talkrunde auf Phoenix behaupteten?
Wickert: Zweifellos läuft in Deutschland vieles nicht so, wie es eigentlich sollte und es könnte in vielen gesellschaftlichen, sozialen und politischen Bereichen deutlich besser laufen – eben auch, weil diejenigen, die die Möglichkeit hätten, etwas zu ändern, dies nicht tun. Trotzdem habe ich den Begriff „Bananenrepublik“ in der besagten Talkrunde vielleicht etwas zu polemisch verwendet, denn in Ländern, die den Begriff wirklich verdienen, geht es natürlich noch weitaus schlimmer zu als bei uns. Eine Bananenrepublik wird ja vor allem dadurch charakterisiert, dass dort eine generelle staatliche Willkür herrscht und davon sind wir in Deutschland glücklicherweise weit entfernt.

Dennoch reihen Sie im Buch eine Schreckensgeschichte aus der Finanz- und Wirtschaftswelt an die andere, beim Lesen kommt man kaum aus dem ungläubigen Kopfschütteln heraus. Können Sie sagen, welcher der geschilderten Fälle Sie selbst am sprach- oder fassungslosesten macht?
Wickert: Fassungslos machen mich eigentlich alle Fälle, die mit dem Thema Gier zu tun haben. Sehr abenteuerlich finde ich zum Beispiel die Fälle aus Amerika, bei denen Manager den Gewinn ihrer Unternehmen auf unsaubere Weise um Milliarden nach oben katapultiert haben, um sehr viel höhere Boni einstreichen zu können. Für einen richtigen Thriller halte ich zudem die Geschichte einer Großbank, die von der amerikanischen Drogenfahndung DEA als Geldwaschanlage enttarnt wurde, die 400 Milliarden Dollar aus Drogengeschäften in Mexiko über ihre Konten schleuste. 14 Milliarden davon haben sie sogar in kleinen Scheinen per Lastwagen von Mexiko aus in die USA gefahren! Und das müssen ja irrsinnig viele Lastwagen gewesen sein – 14 Milliarden Dollar in kleinen Scheinen wiegen etwa so viel wie 725 Tonnen Papier. Da bin ich absolut sprachlos.

Sie führen im Buch aber auch positive Beispiele an und schreiben über Unternehmen, die auf ethische Werte Rücksicht nehmen und die trotzdem – oder gerade deshalb – erfolgreich sind.
Wickert: Ja, es gibt glücklicherweise noch viele Unternehmen, für die Gewinn nicht das alleinige Ziel ist und die zeigen, dass es in der Wirtschaftswelt auch ethisch geht. Klar muss jedes Unternehmen Gewinn machen, aber es gibt eine Reihe von Unternehmen, die gleichzeitig die ethischen Werte beachten und eine gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Nehmen Sie beispielsweise die „Otto Group“ oder – das finde ich noch interessanter – die Drogeriemarktkette „dm“. Dieses Unternehmen ist nicht gerade klein und setzt jährlich um die sechs Milliarden Euro um, dennoch sagt der Geschäftsführer Erich Harsch, dass ihm eine Gewinnrendite von einem Prozent genügt. Was „dm“ zusätzlich an Gewinn einnimmt, wird reinvestiert und den Mitarbeitern in Form von höheren Löhnen gezahlt. Wunderbar! Ich finde, es ist kein Wunder, dass dieses Unternehmen stetig wächst.

Wie kann man die Menschen dazu bringen, sich an ethische Regeln zu halten?
Wickert: Wenn jemand im Kleinen gegen die ethischen Regeln verstößt, man ihm aber klarmacht, dass das, was er tut, nicht richtig ist und er sich anschließend dafür schämt, kann das schon wirken. Gerade in der Wirtschafts- und Finanzwelt gibt es aber natürlich immer wieder sehr große Regelverstöße und man kann zu den Bankern schlicht nicht sagen: „Schämt euch mal“, da würden die nur müde lächeln. Man muss einfach Dinge verbieten. In der Realwirtschaft sind viele Dinge verboten, die der Gesellschaft schaden. Mohn darf man zum Beispiel anbauen – das ist auch ganz wichtig, weil ich Mohnkuchen liebe –, man darf aus Mohn jedoch kein Heroin herstellen, weil das der Gesellschaft schadet.

Und in der Finanzwirtschaft?
Wickert: In der Finanzwirtschaft – wobei ich eher von der „Irrealwirtschaft“ sprechen würde – gibt es Verbote dieser Art komischerweise nur selten. Nehmen wir zum Beispiel den Devisenhandel. Natürlich ist er in der Finanzwirtschaft notwendig, man braucht ihn zum Exportieren und Importieren. Er kann aber auch zum Spekulieren eingesetzt werden und richtet sich dann gegen die Währung eines Landes oder gegen den Euro. Diese Art des Devisenhandels ist gesellschaftsschädlich und muss verboten werden. Punkt, fertig.

Da hat man schon fast den Aufschrei der Banker im Ohr, die sicher behaupten würden, das ginge nicht.
Wickert: Das sagen die Banker immer. Man muss es einfach mal machen. Ein anderes Beispiel sind Derivate. Das ist ein großer Bereich, den keiner so richtig versteht, der nicht selbst damit zu tun hat. Nur ein Prozent der Derivate ist sinnvoll, 99 Prozent sind dagegen reine Casino-Derivate und Roulette-Wetten zum Spekulieren. Ich bin der Meinung, Derivate müssten – ebenso wie Aktien – zur Kontrolle bei der Börsenaufsicht eingereicht und angemeldet werden. Und dann kann es eben sein, dass manche Derivate auch mal abgelehnt werden. Alles andere macht gesellschaftlichen keinen Sinn.

Ist die Finanztransaktionssteuer, die kürzlich von der EU-Kommission beschlossen wurde, ein Schritt in die richtige Richtung?
Wickert: Die Finanztransaktionssteuer ist absolut in meinem Sinne und ich finde es vollkommen richtig, dass in der EU Leerverkäufe nun verboten sind. Aber das ist alles Miniatur, man müsste viel mehr machen. Man müsste zum Beispiel die Banken in ihrer Größe beschränken, denn sobald eine Bank zu groß wird, wird sie das, was man „systemisch“ nennt. Sprich: Wenn sie zusammenbricht, bricht auch das Finanzsystem des jeweiligen Landes zusammen – und genau das muss verhindert werden.

Im Buch kommen Sie zu dem Schluss, dass die Leute heute nicht unbedingt habgieriger sind als vor 100 Jahren, aber dass viele Schranken, die die Habgier auf ein erträgliches Maß reduzieren sollen, gefallen sind. Gibt es – neben der Finanztransaktionssteuer – noch weitere Maßnahmen, mit denen die Politik nun gegensteuern müsste?
Wickert: Da gäbe es natürlich sehr vieles, besonders krank ist jedoch unser Gesundheitssystem. Nach Ansicht von Transparency Deutschland beläuft sich der durch Betrug und Korruption angerichtete Schaden in diesem Bereich jährlich auf bis zu 20 Milliarden Euro, das heißt, das Gesundheitssystem ist für Korruption besonders anfällig. In Amerika gibt es deshalb seit vielen Jahren ein Antikorruptionsgesetz, das besagt, dass zum Beispiel Pharmaunternehmen bekannt geben müssen, an welche Ärzte sie Honorare gezahlt haben und Ärzte verpflichtet sind, ihre Einkünfte aus der Pharmaindustrie zu veröffentlichen. Warum gibt es so ein Gesetz in Deutschland noch nicht? Es müsste doch in unser aller Interesse sein. Und es ist erschreckend, dass in einigen deutschen Bundesländern die Staatsanwaltschaften und Kommissariate für Wirtschaftskriminalität so miserabel ausgestattet sind, dass sie nicht effektiv gegen Korruption vorgehen können. Auch daran könnte der Staat natürlich einiges ändern, wenn er denn wollte.

Zitiert

Es gibt in einer Gesellschaft keine regelfreien Bereiche.

Ulrich Wickert

Dann mal ganz platt gefragt: Warum will der Staat nicht?
Wickert: Im Bereich der Gesundheitspolitik liegen die Gründe mit Sicherheit im Lobbyismus. Irgendjemand von der Pharmaindustrie wird schon immer wieder dafür sorgen, dass alles beim Alten bleibt und dass kein Antikorruptionsgesetz eingeführt wird.

Im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Finanzwelt werden häufig auch die viel zu hohen Managerhonorare beklagt. Aber ist die Entlohnung von Fußballern oder Fernsehmoderatoren teilweise nicht ebenfalls unverhältnismäßig?
Wickert: Ich finde, man kann dies nicht pauschal vergleichen, sondern muss jeden Fall individuell beleuchten. Wendelin Wiedeking hat sich bei Porsche unglaublich engagiert; er hat bei Amtsantritt als Vorstandsvorsitzender einen bescheidenen Vertrag abgeschlossen und hat das Unternehmen schließlich in die schwarzen Zahlen geführt – er hat wirklich etwas geleistet und deshalb fand ich seine Entlohnung stets gerechtfertigt. Wenn wir uns den Bereich der Literatur ansehen, gilt das gleiche für Joan K. Rowling. Sie hat mit Harry Potter einfach eine extrem gute Idee gehabt und hat sich ihre halbe Milliarde Pfund deshalb – im wahrsten Sinne des Wortes – verdient. Sowohl Wiedeking als auch Rowling kann man keinen Vorwurf machen. Und so gibt es eben auch unter den Fußballern, Moderatoren oder Filmschauspielern einfach welche, die so einmalige Persönlichkeiten sind, dass sie das, was sie einnehmen, durchaus verdienen.

Bereits in Ihren früheren Sachbüchern wie „Der Ehrliche ist der Dumme“ oder „Die Zeichen der Zeit – Was ist aus Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geworden?“ beschäftigten Sie sich mit Tugenden und Werten. Woher kommt Ihr besonderes Interesse für dieses Themengebiet?
Wickert: Ich denke, da kommen zwei Dinge zusammen. Zum einen fühle ich mich als deutscher Staatsbürger mit all seinen Rechten und Pflichten und sehe mir die Gesellschaft, in der ich lebe, natürlich aus der Perspektive des Staatsbürgers an. Zum anderen bin ich aber auch politischer Journalist, interessiere mich also dafür, was in unserer Gesellschaft nicht funktioniert und stelle mir die Frage, warum es nicht funktioniert. Und da entdecke ich selbstverständlich immer wieder Dinge, bei denen ich der Meinung bin, dass sie nicht richtig laufen und geändert werden müssten. Ich denke mir: Indem ich meine Rollen als Staatsbürger und politischer Journalist kombiniere und über Missstände und mögliche Lösungen schreibe, kann ich vielleicht dem einen oder anderen aufzeigen, was er selbst tun kann, um bestimmte Dinge zu verbessern oder Missstände zu beheben.

Besondere Popularität erlangten Sie durch die „Tagesthemen“, die Sie von 1991 bis 2006 in der ARD moderiert haben. Vermissen Sie die Sendung bisweilen?
Wickert: Nein, überhaupt nicht. Und auch dafür gibt es wieder zwei Gründe: Erstens habe ich die Sendung 15 Jahre lang moderiert, was natürlich eine sehr lange Zeit gewesen ist. Zweitens wusste ich bereits drei Jahre vor meiner letzten Sendung, dass ich aufhören würde; das war damals eine gemeinsame Entscheidung der ARD und mir. Dadurch habe ich den Abschied von den „Tagesthemen“ lange vorbereiten können und ich hatte einfach auch Lust, noch einmal etwas vollkommen anderes zu machen, mich noch einmal neu zu erfinden. Bücher hatte ich nebenbei ja immer schon geschrieben, darauf wollte ich fortan meine ganze Aufmerksamkeit richten. Vor ein paar Jahren ist dann ja auch noch meine Büchersendung im „Wickerts Bücher“ bei NDR Kultur dazugekommen. Die läuft zwar nur ein Mal im Monat, aber trotzdem steckt sehr viel Arbeit darin und das macht großen Spaß.

Am 11. Septembers 2001 haben Sie fast viereinhalb Stunden am Stück live durch die „Tagesschau“-Sondersendung zu den Terroranschlägen in den USA geführt. War dies die schwierigste Sendung in Ihrem journalistischen Leben?
Wickert: Ja, das ist gar keine Frage. Ich habe im Laufe der Jahre natürlich eine Reihe schwieriger Sendungen moderiert, aber diese war besonders schwierig, weil eben die Situation so kompliziert und das Ereignis so dramatisch gewesen ist. Es war alles sehr chaotisch. Der Aufnahmeleiter führte während der Live-Sendung zum Beispiel einen Mann ins Studio, der neben mich gesetzt wurde, ich hatte aber keine Ahnung, wer das eigentlich war, weil ich gerade eine Schalte zum Korrespondenten hatte. Und ich konnte meinen Studiogast ja schlecht nach seinem Namen fragen, weil mein Mikro offen war und dann der Zuschauer meine blöde Frage gehört hätte. Also habe ich während der Schaltung einen Zettel mit der Frage „Wer sind Sie?“ geschrieben und habe ihn meinem Studiogast zugeschoben. Er hat dann auf die selbe Art geantwortet und ich habe erfahren, dass er vom Katastrophendienst kam. So konnte ich die Situation gerade noch retten.

Erinnern Sie sich im Zusammenhang mit den „Tagesthemen“ auch an eine richtige Blamage, einen richtigen Reinfall?
Wickert: Mein größter Reinfall war sicherlich mein erstes Interview mit Regine Hildebrandt, die damals SPD-Sozialministerin in Brandenburg gewesen ist. Ich habe meine erste Frage gestellt – und sie hat darauf sechs Minuten lang geantwortet! Wer Regine Hildebrandt kennt, weiß, dass sie reden konnte wie ein Wasserfall, und ich konnte sie überhaupt nicht stoppen. Ich konnte keine Zwischenfrage stellen, sie redete einfach weiter. Und das hat meinen ganzen Zeitplan durcheinander gebracht, weil das komplette Interview eigentlich nicht länger als drei, vier Minuten hätte sein sollen. Dass ich es nicht geschafft habe, sie zu unterbrechen, ist vielleicht meine größte Niederlage. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – war Regine Hildebrandt eine Frau, die ich sehr bewundert habe.

Sie verkörperte einen Typus Politiker, den es heute wahrscheinlich gar nicht mehr gibt. Man hatte immer den Eindruck, ihr wirklich vertrauen zu können.
Wickert: Absolut. Für einen Fernsehbericht habe ich mal ein Wochenende mit ihr in Brandenburg verbracht. Ich erinnere mich noch an eine bestimmte Situation. Wir waren auf der Straße unterwegs und Regine Hildebrandt wurde von einem älteren Ehepaar angesprochen, das ihr erzählte, dass es ihm finanziell sehr schlecht gehe. Und anstatt irgendwelche Phrasen zu dreschen wie das vielleicht andere Politiker in dieser Situation getan hätten, ist Regine Hildebrandt wirklich auf die Sorgen des Ehepaares eingegangen. Sie hat einen regelrechten Fragenkatalog durchgearbeitet: „Haben Sie das schon gemacht? Das gemacht? Haben Sie alles noch nicht gemacht? Dann manchense erst mal das – ich verspreche Ihnen, danach geht es Ihnen besser.“ Ich fand das wunderbar. Sie hat den Leuten nicht nach dem Mund geredet, sondern hat ihnen auf den Zahn gefühlt und hat wirklich versucht, ihnen zu helfen. Solche Politikerpersönlichkeiten fehlen heute wirklich.

Bereits mit 14 Jahren haben Sie Ihren ersten Zeitungsartikel geschrieben – einen Bericht über den Pariser Eifelturm, der in der Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung veröffentlicht wurde. Hatten Sie bereits damals den Wunsch, Journalist zu werden?
Wickert: Nein, den Wunsch hatte ich eigentlich nie, im Grunde bin ich nur durch Zufall in diesem Beruf gelandet. Ich habe Jura studiert, weil ich ursprünglich Diplomat werden wollte, so wie mein Vater. Während des Studiums habe ich dann allerdings festgestellt, dass das doch nicht das Richtige für mich ist, hätte aber niemals gedacht, dass ich den Journalismus, mit dem ich mich damals hobbymäßig beschäftigt habe, mal zu meinem Beruf machen könnte.

Sie haben ja auch mal gesagt, dass Sie Ihre Arbeit eigentlich nie als Arbeit wahrgenommen haben, weil Sie immer Dinge tun konnten, die Ihnen Spaß gemacht haben. Können Sie sagen, was die schönste Zeit in Ihrem beruflichen Leben war?
Wickert: Ich glaube, die Zeit als Korrespondent war die schönste, weil ich dort am unabhängigsten war. Sowohl als Korrespondent in Paris als auch in New York und Washington war ich weitgehend frei darin, Themen zu suchen und konnte mich somit fast immer mit Dingen beschäftigen, die mich sowieso interessiert haben. Die Zeit bei den „Tagesthemen“ war später auch sehr spannend, weil die Arbeit für diese Sendung – auch wenn man sich das vielleicht gar nicht so vorstellen kann – eine sehr kreative und abwechslungsreiche Arbeit war. Wir waren jeden Tag aufs Neue bemüht, eine gute Sendung zu machen und wenn eine Sendung dann doch mal ein Flop war, war man enttäuscht, hat aber versucht, es gleich am nächsten Tag besser zu machen.

Und gerade Sie waren bei der Gestaltung der „Tagesthemen“ oftmals besonders kreativ. Ich erinnere mich an eine Sendung vom Sommer 2000, in der Sie alle Beiträge mit „Faust“-Zitaten anmoderiert haben.
Wickert: Stimmt, das war eine sehr merkwürdige Geschichte. Ich hatte in meinem „Tagesthemen“-Büro beim NDR in Hamburg immer bestimmte Bücher im Regal, von denen ich sagte, dass sie in jedem Fall griffbereit dastehen müssten. Das waren zum Beispiel die Bibel, der Koran oder eben Goethes „Faust“, weil ich der Meinung bin, dass der „Faust“ so etwas wie ein deutsches Gedächtnis ist. Als dann klar war, dass wir in einer „Tagesthemen“-Ausgabe über die Premiere von Peter Steins „Faust I“- und „Faust II“-Inszenierung in Hannover anlässlich der Expo berichten würden, wollte ich diesen Bericht mit einem „Faust“-Zitat anmoderieren. Ich habe dann angefangen, im „Faust“ zu lesen und habe dabei so eine Fülle von guten Zitaten entdeckt, dass ich den Einfall hatte, die komplette Sendung mit „Faust“-Zitaten zu gestalten – und tatsächlich habe ich dann in jeder Anmoderation für die Beiträge ein „Faust“-Zitat versteckt. Ich habe das nicht aufgelöst, doch einige Zuschauer haben es bemerkt und haben sich darüber gefreut.

Vor der Landtagswahl 2010 in Nordrhein-Westfalen meinten Sie in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“, dass Sie niemals die Piratenpartei wählen würden. Mittlerweile ist die Partei in Berlin ins Abgeordnetenhaus eingezogen und hofft sogar auf einen Erfolg bei der nächsten Bundestagswahl. Hat sich ihr Blick auf die Piraten inzwischen verändert?
Wickert: Vorweg: Sie haben meine Aussage gerade sehr verkürzt wiedergegeben. Ich habe damals gesagt, dass man in jedem Fall wählen gehen soll, denn jemand, der nicht zur Wahl geht, darf hinterher nicht meckern. Und in diesem Zusammenhang habe ich dann hinzugefügt: „Wenn Ihnen keine der Parteien zusagt, wählen Sie meinetwegen die Piraten, obwohl ich ihr Programm nicht vertrete. Aber besser die Piraten wählen als gar nicht wählen.“ Mein Blick auf die Partei hat sich in der Zwischenzeit auch nicht verändert. Aber ich sehe mich bestätigt. Der Piratenpartei ist es gelungen, ein Umdenken in den anderen Parteien anzustoßen. Die etablierten Parteien bemerken plötzlich „Oh, da passiert was“ und müssen sich neu positionieren. Man sieht das daran, dass die Grünen und die FDP sich vehement von den Piraten abzugrenzen versuchen, nach dem Motto „Wir sind die wahre Netzpartei“ oder „Wir sind die Partei der wahren Freiheit“. Insofern ist es den Piraten immerhin gelungen, längst fällige Debatten anzustoßen.

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