Tobias Zielony

Nachrichtenfotos tragen Codes, die wir entziffern.

Fotograf Tobias Zielony über die Grenze zwischen Dokumentar- und Kunstfotografie, ikonografische Nachrichtenbilder, das Dogma des Objektiven und die Suche nach Motiven

Tobias Zielony

© Diane Vincent

Herr Zielony, Sie haben sich als Student und Dozent sowohl mit Dokumentarfotografie als auch mit künstlerischer Fotografie beschäftigt. Macht für Sie diese Unterscheidung eigentlich Sinn?
Zielony: In meiner Arbeit trennt sich das nicht so genau, aber die Unterscheidung macht schon Sinn. Wenn man das Gebiet in der Lehre so eingrenzen kann, macht es das einfacher. In Essen habe ich meine Studenten losgeschickt, um zu fotografieren, was im Ruhrgebiet gerade los war. Ich habe denen gesagt: „Ihr müsst Leute kennenlernen, die ihr vorher nicht kanntet.“ Einer war bei einem Nokia-Werk, das vor der Schließung stand, ein anderer hat in einer Waschstraße Leute fotografiert. Das habe ich schon eher in einer dokumentarischen Tradition gesehen, so wie ich das bei meinem Studium in Großbritannien gelernt habe. Es kommt auch auf den Kontext an: Wenn eine Arbeit für Magazine oder Tageszeitungen gedacht ist, würde man in den meisten Fällen sagen: Das ist dokumentarisch.

Aber wo ordnen Sie Ihre eigenen Foto-Arbeiten ein?
Zielony: Ich habe mich bewusst für den Kontext Kunst entschieden.

Haben Sie?
Zielony: Ja, mit dem Wechsel von Newport, wo ich Dokumentarfotografie studierte, nach Leipzig in die Klasse von Timm Rautert. Was ich bis dahin gelernt hatte, reichte mir nicht. Ich habe im Magazin-Bereich nicht den richtigen Kontext für meine Arbeit gesehen und dachte, im künstlerischen Bereich habe ich mehr Autonomie. Meine Arbeit kann mehr Ambivalenz verkraften, in ihr kommen verschiedene Traditionen oder Strömungen aus der Fotografie und anderen Bereichen der Kunst zusammen. Dabei zitiere ich auch das Dokumentarische und überlege, wie man das heute weiterdenken kann. Auch im Hinblick auf bestimmte Themen, die ich nicht einfach so durchs Raster fallen lassen möchte, nur weil man das Gefühl hat, man darf das nicht mehr fotografieren.

Was fällt denn durchs Raster?
Zielony: Als ich in Großbritannien war, habe ich zum Beispiel in einer Bergarbeitersiedlung mit 80 Prozent Arbeitslosigkeit fotografiert – eigentlich ein klassisches, sozialdokumentarisches Thema. Doch im Pressebereich hätte es kein Interesse dafür gegeben, weil es losgelöst war von tagespolitischen Ereignissen. Und dann war die Idee: Die hocken da seit zehn, 20 Jahren und es passiert nichts, aber ich will trotzdem damit arbeiten. Für mich ist es trotzdem ein Thema.

Steckte dahinter eine Art sozialer Intention?
Zielony: Ja, am Anfang sicherlich schon. Heute würde ich das nicht mehr so eindeutig sagen.
Gleichzeitig habe ich überlegt: Das Dokumentarische ist ja aus verschiedenen Gründen in eine Krise geraten – wie kann man die Scherben aufsammeln und versuchen, ohne einen riesigen ideologischen oder moralischen Überbau, den diese Fotografie vielleicht noch bis in die 70er Jahre hatte, trotzdem weiterzumachen? Daraus ist dann ein künstlerisches Projekt geworden, für das ich keine Rechtfertigung wie „Ich will die Welt verbessern“ oder „Ich will zeigen wie es wirklich ist“ brauche.

Wo liegen denn die Grenzen der künstlerischen Fotografie zur Dokumentarfotografie? Ab wann ist ein Bild, das Sie ausstellen, Kunstfotografie?
Zielony: Ich glaube nicht, dass das unbedingt in dem Bild selber liegt.

Es wird durch den Kontext festgelegt?
Zielony: Ja, und ich glaube, dass die Grenzen fließend sind. Ich denke, dass das Dokumentarische von Anfang an auch eine Konstruktion war. Die Dokumentarfotografie hat zwar so getan, als wenn Sie ein objektives Bild von der Wirklichkeit zeigt, sie war aber trotzdem immer eine Form von Zuschreibung, Inszenierung, Konstruktion, ein bewusst gewählter Ausschnitt. Oft war sie eingebaut in eine Rahmenhandlung wie: „Das sind die anderen, die Armen“ oder „Denen müssen wir helfen“ oder „Wir schauen auf die herab“.

Diese Grenze löst sich auf?
Zielony: Wenn ich über meine eigene Arbeit spreche, dann ist mein Argument, dass diese Trennung zwischen der realen Welt und dem Bild davon nicht aufrechterhalten werden kann. Weil der Alltag der Menschen durchdrungen ist von Bildern, die sie nutzen, um sich eigene Identitäten zusammenzubauen und Rollen einzunehmen. Und dann ergibt sich die Frage: Was mache ich als Fotograf, wenn es so eine reine, objektive Form der Fotografie nicht gibt oder nie gegeben hat? Wo gehe ich hin? Was für Bilder mache ich?

Wie blicken Sie dann auf normale Nachrichtenfotos?
Zielony: Interessanterweise sind ja gerade die Bilder aus Konfliktgebieten in hohem Maße konstruiert. Oft wird versucht mit einem Bild einen ganzen Konflikt zu erzählen: Im Hintergrund sieht man brennende Autos, vorne eine Frau mit Kopftuch, die um jemand trauert. Solche Fotos sind im hohen Maße eine Fiktionalisierung dessen, was tatsächlich passiert. Die tragen auch eigene Codes, die wir entziffern. Wir gucken diese Bilder an und denken: „Aha, Konflikt, aha, Menschenrechtsprobleme.“

Was wäre daran falsch?
Zielony: Meine Kritik daran ist gar nicht so sehr, dass es konstruiert ist, sondern, dass es uns oft den Blick auf andere oder tieferliegende Konflikte verstellt. Wir betrachten die Bilder als etwas Vertrautes, weil wir es gewohnt sind, sie so zu lesen.

Aber wenn man sich trauernde Menschen zum Beispiel auf den World Press Photos anschaut, hat man doch oft den Eindruck einer gelungen Momentaufnahme, oder nicht?
Zielony: Nein, absolut nicht – wenn man weiß, wie solche Bilder gemacht werden. Das ist genau die Form von Fotografie, der ich absolut tief misstraue.

Warum?
Zielony: Die Frage ist doch die: Was machen diese Leute anders als zum Beispiel Menschen in Ägypten, die mit ihren Handys fotografieren? Was ist der Mehrwert, wenn ich einen berühmten Magnum-Fotografen dahin schicke?

Die Qualität des Bildes.
Zielony: Ja, aber was soll diese Qualität darstellen? Geht es um den Verkaufswert oder den Wiedererkennungswert? Ich glaube, dass sich da eine Art von Bildsprache eingeschlichen hat, die auch zu einer Form von Abstumpfung bzw. Austauschbarkeit führt. Ich habe das Gefühl, wir schauen auf die Bilder, aber gucken nicht durch die Bilder durch, weil sich bestimmte Konventionen drüber geschoben haben. Es entstehen ikonografische Bilder, die im besten Fall einen ganzen Konflikt in Form einer Fiktion zusammenbringen. Aber ich würde nicht sagen, dass die im objektiven Sinne repräsentativ sind. Sie sind repräsentativ, weil wir diese Repräsentation so hinnehmen und das als Code verwenden, für unsere Art über Dinge zu sprechen, die woanders in der Welt passieren.

Zitiert

Bilder aus Konfliktgebieten sind in hohem Maße konstruiert.

Tobias Zielony

War letztlich auch die Diskussion um die Nachbearbeitung des World Press Photo 2013 von Paul Hansen ein Resultat jener Bildsprache, an die wir uns so sehr gewöhnt haben?
Zielony: Das ist eine vollkommen lächerliche Diskussion, ob das Bild nachbearbeitet oder gestellt ist. Schon wenn ein Fotograf irgendwo hingeht, löst er eine Veränderung der Situation aus, oder wenn er einen Ausschnitt bestimmt.
Mich erinnert das an historische Gemälde, wo die Maler versucht haben, einen ganzen historischen Moment in einem Bild zu vereinen: vorne der König, hinten die Schlacht und dazu kommt noch der Bote – dabei ist all das nicht gleichzeitig passiert. So etwas machen inzwischen auch viele Krisenfotografen.

Und solche Bilder als real und wahrhaftig einzustufen wäre falsch?
Zielony: Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich gestern ein paar Bildjournalismus-Studenten erzählt habe, als sie meine Ausstellung besuchten. Die müssen sich im Studium natürlich mit diesem Dogma des Echten, Objektiven rumschlagen, das habe ich ja auch durchgemacht. Im ersten Studienjahr hat einer von uns in Newport in einem Waschsalon fotografiert. Der Professor meinte dann zu ihm: „Das Bild wäre besser geworden, wenn du die Tür von der Waschmaschine zugemacht hättest.“ Der Student hat dann geantwortet: „Aber die stand doch offen.“ Da hat der Professor gesagt: „Ja und? Dann mach sie halt zu!“ Das war für mich ein Aha-Moment, wo ich mich ganz schnell verabschiedet habe von der Idee, dass das Bild die Wahrheit sagt oder dass es überhaupt eine Wahrheit im Bild gibt.

Wenn man nun in Ihrer Ausstellung „Jenny Jenny“ eine Vase auf dem Nachttisch sieht, haben Sie diese dann zurechtgerückt?
Zielony: Die Vase stand da. Aber wenn ich etwas verändern würde, hätte ich auch kein Problem damit. Ich mache das allerdings selten. Ich glaube, dass so etwas wie Glaubwürdigkeit auch aus Subjektivität oder Empathie entstehen kann. Es bleibt immer eine Verbindung zu den Menschen, die ich kennenlerne, zu den realen Orten, an die ich gehe.

Sie sagten in Interviews: „Ich habe keine Angst davor, die Dinge zu verunklaren.“ Und: „Mich interessiert der Umstand, dass bei vielen Serien eine Verwirrung über die Orte entsteht.“ Warum dieses Verunklaren und Verwirren?
Zielony: Es geht darum, dass die Betrachter mit ihren vermeintlichen Sicherheiten alleine gelassen werden. Die stehen vor den Bildern und wissen nicht, ob das eine Schauspielerin, eine Prostituierte oder eine gute Freundin ist.

Wäre es Ihnen als Betrachter denn auch recht, wenn Sie in einer Ausstellung nicht genau wissen, was Sie sich gerade anschauen?
Zielony: Ich habe damit gar kein Problem.
Ich finde es wichtig, dass die Leute in einen Bereich geraten, wo sie ihr eigenes Netz von Erklärungen verlassen müssen, wo sie mit Menschen und Emotionen konfrontiert sind, auf die sie sich einlassen müssen. Viele Leute werden dann vielleicht sogar aggressiv und fragen sich: „Wo bin ich hier?“ Es ist interessant, wenn die Leute ihre eigenen Wahrheiten hinterfragen müssen. Allerdings lasse ich sie auch nicht vollkommen alleine…

Im Begleittext zu „Jenny Jenny“ heißt es lediglich „Es geht um junge Frauen, von denen einige ihr Geld mit Sexarbeit verdienen. Doch die Realitäten und Rollen sind fließend“.
Zielony: Na ja, aber wenn ich jetzt unter ein Foto einen Erklärungstext schreibe a la „Susi P., 40 Jahre, aus Potsdam“, dann ist das für den Betrachter nur eine vermeintliche Sicherheit, weil er meint, zu verstehen, worum es geht. Aber im Endeffekt versteht er fast genauso wenig. Das ist ja meine Kritik an einer Form von Fotografie, die uns das Gefühl gibt, vertraut zu sein mit allen möglichen Konflikten und gleichzeitig vielleicht auch verhindert, dass wir uns näher damit auseinandersetzen.

Also versorgen Sie den Betrachter Ihrer Fotos lieber mit wenig Informationen…
Zielony: Ich habe für „Jenny Jenny“ viele Interviews gemacht, sie aber am Ende doch nicht in die Arbeit integriert. Es war wirklich diese Idee, die Leute mit den Bildern alleine zu lassen, ohne biographische Angaben, damit man diesen Menschen auf den Bildern begegnet als die Personen, die sie zu sein scheinen, dann aber nicht weiterkommt. Man weiß nicht, wer sie eigentlich sind, was die für ein Leben führen – das kann man sich ausdenken. Wenn man sich die Bilder anschaut, wird im Kopf eine Geschichte entstehen, man muss sie miteinander verknüpfen und daraus eine Narration oder Fiktion konstruieren.

Haben Sie die Fotos für die Serie „Jenny Jenny“ nach ästhetischen Kriterien ausgewählt?
Zielony: Ästhetik ist sicher ein wichtiger Faktor, aber ich würde es nicht darauf reduzieren. Die Bilder müssen natürlich auch als Einzelbilder funktionieren. Aber im Endeffekt entsteht ja etwas Neues aus der Zusammenstellung.

Angesichts dieses Zusammenwirkens: Könnte man ein Bild einzeln kaufen?
Zielony: Das weiß ich noch nicht. Eigentlich gehört die Serie zusammen. Es ist aber in der Vergangenheit schon öfter passiert, dass ich die Serien aufgebrochen habe. Das verändert das Bild natürlich schon sehr radikal, wenn man es aus einer Serie herausnimmt. Aber aushalten müssen die das. Ich glaube schon, dass jedes Bild für sich alleine stehen kann, es erlangt dann aber eine andere Bedeutung.

Die Bilder aus „Jenny Jenny“ sind zum Teil sehr intim, gleichzeitig wahren Sie eine gewisse Distanz zu den Protagonisten…
Zielony: „Protagonisten“ ist für meine Arbeit ein interessanter Begriff. Den benutzt man ja sonst in der fiktionalen Literatur oder im Spielfilm, aber damit könnte ich sehr gut leben. Die Menschen in meinen Bildern sind einerseits sie selbst, gleichzeitig werden sie auch Protagonisten in meiner Arbeit.
Was die Nähe und die Distanz anbelangt: Ich denke, das ist eine fotografische Haltung, die meine Bilder von Anfang an geprägt hat, dass man das Gefühl hat, man ist sehr nah dran und gleichzeitig unendlich weit weg. Dieser Widerspruch korrespondiert mit meiner Rolle als Fotograf, ich gehe ja nicht hin als der beste Freund, als Familienmitglied oder was auch immer.

Wobei es über Ihre Serie „Trona“ heißt, Sie hätten mit den Jugendlichen in der amerikanischen Bergbausiedlung Trona gelebt.
Zielony: Dieses „mit den Leuten leben“ ist so ein pseudokumentarisches Dogma, das habe ich auch beim Studium immer wieder gehört: „Du musst dahin fahren, Schlafsack mitnehmen, alles essen was die Jugendlichen dort essen, jede Droge nehmen usw.“ Wenn man das durchzieht, ist das ein interessanter Ansatz, doch bei mir ist das anders. Ich verbringe viel Zeit mit den Leuten, unterhalte mich mit ihnen, aber ich biedere mich nicht an. Ich werde nicht für drei Monate Teil der Gang, das ist nicht meine Strategie. Das bedeutet ja nicht, dass man seine Gefühle abschaltet oder nicht empathisch ist.

Man liest, Sie suchten Ihre Motive am „Rand der Gesellschaft“.
Zielony: Ja, aber das ist nicht meine Formulierung.

Sie gefällt Ihnen nicht?
Zielony: Da ist schon etwas dran. Oft gibt es Leute, die gesellschaftlich marginalisiert sind, zum Beispiel weil für sie die Teilhabe an Bildung, Arbeit, Reichtum usw. erschwert ist. Ich bin bei meiner Arbeit mit so einer Zuschreibung aber sehr vorsichtig. Das hat auch mit der Tradition des Dokumentarischen zu tun, die sich gerne solche „Randgruppen“ vorgenommen hat, Prostitution ist da ein klassisches Thema. Der Vorwurf an die dokumentarische Fotografie war immer, dass sie diese Trennung von „wir“ und „die anderen“ nicht aufgelöst, sondern durch einen hegemonialen Blick auf die Welt da draußen, dieses Gefälle noch verstärkt hat.

Was für Orte suchen Sie dann als Fotograf?
Zielony: Als ich in Newport studierte, wurde allen Studenten gesagt: „Wer es schafft, hier zu fotografieren, der kann überall auf der Welt fotografieren.“ Weil Newport der langweiligste Ort ist, den es gibt.
Ich habe mich damals tatsächlich gefragt: Wo gehe ich als Dokumentarfotograf überhaupt hin? Irgendwo muss die Welt ja stattfinden! Die klassische Antwort wäre, dort hin zu gehen, wo Konflikte sind, wo Demonstrationen stattfinden, nah dran, wo die Tagespresse denkt, das sind jetzt wichtige Momente. Doch mein Gedanke war eher: Warum ist etwas, das weit weg ist, wichtiger, als die Leute, die sich jeden Tag hier im Parkhaus treffen? Was gibt es hier für Orte, die vielleicht nicht nur an sich interessant sind, sondern auch größere gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge darstellen können, oder zumindest mit ihnen in Beziehung stehen?

Sie hätten keine Motivation gehabt, zum Beispiel 2011 während der ägyptischen Revolution nach Kairo zu fliegen?
Zielony: Ich hatte damals tatsächlich so einen Impuls, habe mich aber gefragt: Was soll ich da jetzt machen? Das Problem als Fotograf ist doch immer, dass man sich an der sichtbaren Oberfläche der Dinge entlang bewegen muss. Mir war klar, wenn ich dort hingehe, würden mich auf keinen Fall die Demos und Auseinandersetzungen interessieren. Da gibt es genügend Leute, die das zum Beispiel mit dem Handy fotografieren und auf Twitter stellen, die machen das wahrscheinlich besser als ich. Mich würden tiefer liegende gesellschaftliche Zusammenhänge oder Prozesse interessieren, was aber auch bedeuten würde, dass ich viel mehr Zeit dort verbringen müsste.

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.