Tilman Jens

Ich spotte doch nicht über meinen Vater!

Tilman Jens über das Tabu Demenz, die Beziehung zu seinem Vater und die Debatte, die sein Buch „Demenz“ ausgelöst hat

Tilman Jens

© Kerstin Kockler

Herr Jens, in Ihrem Buch "Demenz" setzen Sie sich auf sehr persönliche Art und Weise mit der Krankheit Ihres Vaters Walter Jens auseinander. Aufgrund der privaten Schilderungen und Ihrer These von der Krankheit des Vaters als Flucht vor der Auseinandersetzung mit seiner Mitgliedschaft in der NSDAP sind Sie von der Presse stark angegriffen worden. Was hat Sie dazu bewogen, das Buch zu schreiben?
Jens: Mich hat die Sprachlosigkeit der Ärzte schockiert. Wir haben ganz spät erst erfahren, dass mein Vater dement wird. Die Ärzte, da bin ich mir sicher, haben das weit länger gewusst, aber sie haben sich nicht getraut, uns etwas zu sagen. Gerade bei meinem Vater, einem Mann der Sprache. Diese Ärzte haben zum Teil bei ihm studiert oder seine Vorlesungen gehört. Seine Ärzte haben immer seine Bücher bekommen, haben sie in ihren Regalen stehen. Sie haben sich nicht getraut und daran ist mir die Größe des Tabus klar geworden. Da wollte ich etwas tun.

Sie beschreiben, wie Ihr Vater seine NSDAP-Mitgliedschaft verschweigt – können Sie sich vorstellen, dass Ihr Vater nicht intentional schwieg, sondern vielmehr unbewusst vergaß?
Jens: Ich glaube es nicht. Ich habe lang darüber nachgedacht. Das schlagende Argument für mich ist: Mein Vater hat ein gutes Jahr vor dem Bekanntwerden seiner Mitgliedschaft in der NSDAP von der geplanten Veröffentlichung in einem Literaturlexikon gewusst. Er hat, als es auf ihn zukam gesagt: „Ich falle aus allen Wolken, warum hat der Mensch von diesem Lexikon mir das nicht vorher zur Autorisierung vorgelegt? Das ist eine Sauerei, ich habe mich nie damit einverstanden erklärt.“ Da habe ich gesehen, wie er, der ein unglaublich aufrechter, mutiger Mann war oder ist, sich zum ersten Mal in seinem Leben nicht getraut hat. Insofern glaube ich nicht, dass er es verdrängt hat, sonst wäre er anders damit umgegangen. Da hätte er zumindest ein Jahr vorher zu meiner Mutter gesagt: „Pass mal auf Inge, da kommt etwas auf mich zu.“

Aber was glauben Sie, ist der Grund für das Verschweigen? Scham?
Jens: Ja. Man muss sich das so vorstellen: Er fand ja schon zurzeit des Faschismus, am Ende des Dritten Reichs das Hitler-Regime inhuman und schrecklich. Er hat Ende ’44 diesen zur damaligen Zeit sehr mutigen Vortrag für den verfemten Thomas Mann gehalten. Aber eine kurze Zeit als 19Jähriger hat auch er mitgemacht. Eigentlich eine Petitesse. Aber das war ihm später unangenehm. Er war Antifaschist und er hat sich über seinen Antifaschismus definiert. Er hätte so viele Möglichkeiten gehabt, es zu sagen – ein paar benenne ich in meinem Buch. Aber dieser geistige Seitensprung war ihm peinlich.

Bedrückt Sie mehr der Umstand, dass Ihr Vater Mitglied der NSDAP war, oder sein Umgang damit?
Jens: Es ist nur das Verschweigen, das mir wehtut, weil er natürlich auch andere Leute unendlich abgekanzelt hat. Ich denke schon, dass da ein Zusammenhang besteht. Wenn diese ganze Generation – bei Grass ist es viel schlimmer, aber auch bei Hildebrandt und Walser, auch bei Genscher, der es wirklich lange vorher wusste – wenn die einfach gesagt hätten: „Ja, auch wir waren dabei – ein Stück weit.“ Die Diskussion um kleine, mittlere, große Nazis hätte sich ein wenig anders gestaltet. Das intellektuelle Klima wäre ein anderes gewesen.
Wenn herausgekommen wäre, dass mein monogamer Vater eine uneheliche Tochter auf der Schwäbischen Alb gehabt hätte – von mir aus! Aber die verschwiegene NSDAP-Geschichte hat mich tief getroffen.

Aber die Möglichkeit, dass er diese Geschichte doch vergessen hat…
Jens: Er vermochte sich ja sehr genau an Ereignisse zu erinnern, die vor 1942, dem Jahr seines Partei-Eintritts lagen. Er hat sich an seine antifaschistische Mutter in einer autobiografischen Skizze aus dem ff erinnert – aber gerade die Monate in der NSDAP sollen gelöscht sein? Nein, das ist schwer vorstellbar und ich frage mich, warum er sich in seiner Widersprüchlichkeit nicht ertragen hat. Er, der so von seiner Glaubhaftigkeit lebte, der einen Redenband „Macht der Erinnerung“ (Patmos Juni 2001, d. Red.) herausgab und einen anderen mit „Reden in erinnerungsfeindlicher Zeit“ (Kindler 1981, d. Red.) untertitelt hat.

Bei Christa Wolf gab es einen ähnlich gelagerten Fall. Sie hat einem Psychoanalytiker geschrieben: „Kann es möglich sein, dass ich meine IM-Tätigkeit vergessen habe?“
Jens: Ich kann zu dem Fall Christa Wolf nicht sehr viel sagen. Ich glaube, dass man so etwas vergessen kann. Aber ich habe meinen Vater gut gekannt und ich kenne ihn gut. Also, die ganze Art, wie er versucht hat sich aus der Affäre zu ziehen…

… finden Sie sehr untypisch für ihn?
Jens: Die ist für ihn absolut untypisch. Meine Mutter sagt nun: „Da war er schon krank.“ Das glaube ich nicht. Ich habe ihn erlebt in dieser Zeit. Aber gut, es sind zwei verschiedenen Sichtweisen. Es geht mir auch ganz gewiss nicht um Schuld. Er wollte sich nicht mehr erinnern und just in dieser Zeit beginnt das Gedächtnis zu versagen. Ich sage nicht, dass er einen Hebel umgelegt hat. Aber es ist eine eigenartige Koinzidenz.

Aber die These von der Krankheit als Flucht ist gerade in diesem Fall natürlich schwierig…
Jens: Die These mag schwierig sein. Aber ich beschreibe sehr genau, was abgelaufen ist. Es wird nie jemand ergründen können, aber für mich war es eine gespenstische Erfahrung, dass der Vater, nachdem er sich nicht erinnert, verstummt. Man könnte sagen, das ist alles reiner Zufall. Aber ich kann das nicht ganz glauben.  Man weiß, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Stress und Demenz, auch zwischen Psychopharmaka und Demenz. Mein Vater hat immer völlig offen über seinen Psychopharmakakonsum gesprochen. In einem Spiegel-Interview sagte er: „Das ist ein Segen und kein Teufelszeug, diese Psychopharmaka.“ Die Dosen haben sich erheblich erhöht nach dieser NSDAP-Geschichte. Zudem gibt es auch einen Zusammenhang zwischen Depression und Demenz. Er war in der Zeit nach dem Bekanntwerden sehr depressiv. Das hat ihn unendlich getroffen, weil er gesehen hat, dass er dabei war, einen Teil seiner Glaubwürdigkeit einzubüßen.

Glauben Sie, Sie selbst könnten zu jedem Zeitpunkt, in jeder Situation aufrichtig sein?
Jens: Nein, gewiss nicht. Aber in so einer zentralen Frage kann ich mir Unaufrichtigkeit schwer vorstellen. Und: Mein großes Kapital ist auch nicht die Moralität. Das war seine Sache. Er ist die moralische Figur. Deswegen hat er damit auch weit größere Schwierigkeiten. Ein Boulevard-Journalist hat im Fall Friedman einmal gesagt: „Jeder darf in den Puff gehen, nur der Papst darf es nicht.“ Man könnte jetzt einwenden, ich idealisiere meinen Vater. Aber das glaube ich nicht. Er hat so aus seinem Antifaschismus, den er gelebt hat, geschöpft, dass er an dieser einen Stelle hätte sagen können: „Auch ich.“ Er wäre ein ganz anderer Mensch geworden. Er wäre damit gewachsen. Das hat er nicht gekonnt und er selber wusste, wie schlimm das war. Er selber wusste, es geht nicht darum, ob er Mitglied in der NSDAP war, es ging darum, dass er es nie gesagt hatte.

Im Buch bezeichnen Sie Ihren Vater auch als den "Mann Ihres Lebens". Wie ist das zu verstehen?
Jens: Dabei bleibe ich: Er hat mich geprägt. Die Lust an Sprache, die Lust am Streit, das ist prägend. Es gibt sicherlich keinen Mann, der mich stärker geprägt hat. Auch später keinen journalistischen Lehrer. Das meine ich mit dieser Aussage: Er ist der Mann meines Lebens. Ich finde das auch nicht, wie Frau Mitscherlich sagt, unerwachsen (die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich kritisierte Tilman Jens für sein Buch scharf, Anm. der Red.). Er war kein Übervater, ich habe nicht unter ihm gelitten. Merke: Nicht jeder Prominenten-Sohn hat einen an der Waffel. Aber: Sich einzumischen bringt Spaß. Das ist eine Lehre, die ich von ihm bekommen habe und das habe ich mit Sicherheit übernommen.

Im Januar 2009 wurde ein Text Ihres Vaters, „Menschwürdig sterben“, mit einem Vorwort Ihrer Mutter neu aufgelegt. Ihr Vater schreibt darin, dass er  nicht als ein dem Gespött preisgegebenes Etwas sterben und der Nachwelt als zuckendes Muskelbündel in Erinnerung bleiben möchte. Widersprechen Sie mit Ihrem Buch nicht dem Wunsch Ihres Vaters, indem Sie ihn in seiner jetzigen Existenz zeigen?
Jens: Nein. Ich halte seine Einschätzung, dass das letzte Bild zählt, für falsch. Bleibt von Heine der Syphilitiker, bleibt von Heinrich Böll das Raucherbein – oder von Beethoven die Taubheit?  Nein. Deren Arbeit wird dadurch doch nichts weniger wert. Ich verstehe die Empörung nicht: „Wie kannst du sagen, dass dein Vater gewindelt wird.“ Sind Windeln eine Schande? Heute werden mehr Erwachsenenwindeln produziert, als Kinderwindeln. Warum verschweigt man das, warum ist das ein solches Tabu? Warum ist das wieder kindlich werden – was man nicht idealisieren sollte – warum ist das eine Schande? Ich denke, dass diese Vorwürfe mehr über die Befindlichkeiten des Feuilletons aussagen, als etwas über dieses Buch. Die haben meinen Vater immer als Geistesheroen, Redner und intellektuellen Superhecht gesehen und nicht auch als Mensch.

Zitiert

Wenn dich etwas beschäftigt, dann mach es öffentlich, dann schreib.

Tilman Jens

Es gehört Mut dazu, Intimes aus dem eigenen aber auch aus dem Leben eines vertrauten Menschen zu offenbaren. Was bewog Sie im Einzelnen dazu?
Jens: Man muss dazu sagen, dass mein Vater immer ein sehr offenes Verhältnis zu Krankheit immer gehabt hat. Er hat über sein Asthma gesprochen, er hat über seine Depressionen gesprochen, was ja auch eine tabuisierte Sache ist. Er hat über die Psychiatrie geschrieben. Er hat gesagt: „Eine Depression ist in etwa so ehrenrührig wie eine Prostatavergrößerung.“ Er selbst hat dieses Tabu Krankheit nicht gekannt. Durch die Rezeption meines Buches habe ich das Tabu noch einmal in seiner ganzen Wucht wahrgenommen. Warum ist die Tatsache, dass ein Babyphon an seinem Bett steht, entwürdigend? „Früher war es ein Mikrofon, jetzt hat er ein Babyphon. Jetzt will der Sohn sich an ihm abschreiben.“ Lasse ich meinen Vater schrumpfen? Ich finde, überhaupt nicht.

Sie schreiben, dass Sie sich mit Ihrem Bruder und Ihrer Mutter einig sind, dass das Leid Ihres Vaters nicht verschwiegen werden soll. Wie ist diese Debatte innerhalb der Familie Jens geführt worden?
Jens: Wir haben uns oft gesehen und wir haben darüber gesprochen. Als der 80. Geburtstag meines Vaters kam wurde das zum Thema, weil gefragt wurde: „Warum ist er nicht mehr in der Öffentlichkeit?“ Was soll man da sagen, etwa: „Er ist ein bisschen traurig und lebt in einer anderen Welt?“ Im März 2008 habe ich in der FAZ einen Artikel darüber geschrieben, aber ich war nicht der Erste. Meine Mutter hat Paul Sahner von der Bunten im November 2007 ein Interview zu diesem Thema gegeben. Nur, darauf ist das Feuilleton nicht angesprungen, weil sie, mit Ausnahme von Marcel Reich-Ranicki, die Bunte nicht lesen. Dann aber kam das große Feuilletontheater: Wie kann man nur! Die ganze Vatermord-Geschichte… Es ist absurd.

Wie gehen Sie mit den Anfeindungen im Feuilleton um?
Jens: Zunehmend mit Wut, weil die zum Teil hasserfüllten Kritiken mit meinem Text nichts zu tun haben. Da wurden zum Teil auch alte Rechnungen beglichen. Man soll mir eine Zeile zeigen, mit der ich meinen Vater demontiere. Ich spotte doch nicht über ihn, ich sage doch nicht: „Gott sei Dank, ist er jetzt klein.“ Ich versuche sein Leid zu beschreiben, auch die eigenen Schmerzen, auch die eigene Unsicherheit in dieser Situation – etwa in der Frage: „Sagt man ihm über seine Krankheit die Wahrheit oder sagt man es ihm nicht?“  Ich halte es für falsch, dass wir  ihm nicht gesagt haben, wie es um ihn steht. Aber ich konnte mich der Argumentation meiner Mutter nicht wirklich widersetzen.

Welche Reaktionen haben Sie erwartet?
Jens: Ich wusste, es gibt Kritik, aber ich habe mir diese Reaktion in dieser Heftigkeit nicht vorstellen können. Insbesondere von Leuten, die zum Zeitpunkt, als sie sich darüber geäußert haben, wie der eigentlich geschätzte Friedrich Schorlemmer, das Buch effektiv nicht gekannt haben. Das ist schon ekelhaft. Ich hätte mir das nicht vorstellen können. Ich hätte mir auch die persönliche Art der Kritik nicht vorstellen können. Ich stehe zu jeder Zeile. Es ist weder mit einer bewussten Provokation noch mit Angst geschrieben.

Es wurde auch kritisiert, dass Sie sich für die Bild-Zeitung als Medienpartner der Vorabveröffentlichung entschieden haben.
Jens: ‚Medienpartner‘ ist zu viel. Aber über den Vorabdruck kann man in der Tat streiten. Das haben wir sehr spontan entschieden mit dem Verlag. Wenn man sagt, ich will etwas gegen das Tabu Demenz tun, dann bietet eine solche Zeitung, die 10 Millionen Leser hat, einfache eine große Öffentlichkeit. Es war keine Marketing-Offensive – ich glaube sogar, dass die Veröffentlichung in der Bild eher kontraproduktiv für den Absatz war. Aber das ist völlig egal, mir ging es um das Thema. Und ich muss sagen, die Bild-Zeitung hat nichts gedruckt, was wir nicht autorisiert haben. Der ‚Igittigitt-Baba’-Habitus von vielen Kulturjournalisten geht mir einfach auf den Senkel. Man saugt gierig die neuesten Trends aus dem Blatt – um sich dann schaudernd abzuwenden. Das ist – mit Verlaub – verlogen. Für mich ist die Bild-Zeitung – ich sage Zeitung, obwohl es mal ein Urteil gab, dass sie gar keine Zeitung sei – nur mit viel Kritik und viel Distanz zu ertragen. Aber ich bekenne freimütig: Ich lese das Blatt.

Auch Ihr Vater hat einmal im Zusammenhang mit Guido Westerwelles Big Brother-Besuch gesagt: „Zunächst einmal: Bei „Big Brother“ heißt ein Redakteur Christoph Jens und ist mein Sohn. Man soll nicht die Nase rümpfen über Menschen, die sich Schauplätze aussuchen, von denen aus sie vielleicht wirksamer werden können als in einer illustren Diskussionsrunde.“
Jens: Mein Vater wusste, wie schon Martin Luther, dem Volk aufs Maul zu schauen. Er hat nicht umsonst einen Jahresrückblick in der Bunten geschrieben.

Hochkultur ist eine Illusion…
Jens: Eben und außerdem: Ich bin keine Hochkultur! Ich schreibe nicht für Iris Radisch und Co. – ganz bestimmt nicht. Das ist eine andere Zielgruppe.

In Ihrem Buch werden zahlreiche prekäre Themen angesprochen. Es geht nicht nur um Demenz, sondern auch um aktive Sterbehilfe – wie hat sich dies entwickelt?
Jens: Am Anfang stand das Tabu Demenz – aber es war klar, dass das kollidiert mit Sterbehilfe. Mein Vater hat, Minuten nach dem er verlangte, von seiner Krankheit durch aktive Sterbehilfe erlöst zu werden, den Satz gesagt: „Aber schön ist es doch.“ Das war eine unglaubliche Szene, insbesondere zu einem Zeitpunkt, an dem ich mir sicher war, dass ich ihm bei seinem Wunsch zu Sterben aktiv unterstützen werde, dass ich den Arzt darum bitten werde. Ein Rezensent hat einmal geschrieben: „Er wirft seinem Vater vor nicht einmal das (den selbstbestimmten Freitod – Anmerk. d. Red.) geschafft zu haben“  Das ist völliger Unsinn. Mein Vater hat für das Recht auf Sterbehilfe gefochten. Er hat ja nicht gesagt: „Jeder muss.“ Ich kann doch nicht hingehen und sagen: „Hier Papi, Du hast das doch 1994 geschrieben, also spritzen wir dich jetzt ins Jenseits.“ Er hat ein neues Leben gefunden, insbesondere durch die Situation mit seiner Pflegerin, also der Tatsache, dass er nicht in ein Heim muss. Gott sei Dank sind die ökonomischen Möglichkeiten da, dass er diese Privatpflege haben kann. Mein Buch ist natürlich auch ein Plädoyer für einen anderen Umgang mit Dementen.

Im Stern haben Sie geschrieben, dass in Ihrer Biographie nicht Ihr Vater das Problem gewesen sei, sondern Ihre Mutter. Können Sie das genauer ausführen?
Jens: Diese Replik war nicht ganz ernst gemeint, es war einfach eine flapsige Reaktion auf das Feuilleton, als es wieder anfing: „Der Vater, das Über-Ich, wie kann man denn als Prominentensohn damit fertig werden und muss man nicht den Vater irgendwie kleinschreiben?“ Man muss nicht, wirklich nicht! Die Psychoanalytikerin Mitscherlich sagt da natürlich: „Gerade dadurch, dass er sagt, er hat mich nicht in den Schatten gestellt, zeigt er, in welcher unbefreiten Situation er ist.“ Ich halte von diesen Ferndiagnosen wenig. Aber ich glaube in der Tat, dass ich mich mit meiner Mutter mehr auseinandergesetzt habe als mit meinem Vater, weil meine Mutter die klassischen Mutterfunktionen nicht ausgeübt hat. Sie hatte mit meinem Vater genug zu tun. Es wird auch kolportiert, mein Vater hätte mir meine Mutter geklaut. Auch das stimmt nicht. Aber manchmal hätte ich gerne eine Mutter gehabt, die mich in den Arm nimmt. Meine Mutter war eher nüchtern und damit befasst die Unternehmung Jens zu deichseln, um zu verhindern, dass mein Vater aus dem Fenster sprang, wenn er einen Roman schrieb. Ich war eher der Vatersohn, mein Bruder eher der Muttersohn. Ich hatte also genug Vater. Er hat mir Spaß am Journalismus, am Schreiben, an der Sprache beigebracht.

Gibt es da noch so etwas wie Konkurrenz?
Jens: Nein! Mein Vater und ich machen grundlegend verschiedene Sachen. Wenn ich jetzt irgendwo Assistent an der Universität Gießen wäre, wenn ich kleine Festreden in der Provinz halten würde, wäre das vielleicht anders. Aber ich bin Journalist. Ich mache Fernsehdokumentationen, was er nie gemacht hätte. Er hätte nie einen Nerv, sich zu den Ringelgänsen auf die Halligen zu stellen oder sich mit sprachlosen Menschen auseinander zusetzen. Ich liebe das. Ich liebe das Reisen und ich bin für meinem Job unendlich dankbar. Nein – es ist kein Konkurrenzverhältnis. Er sah mit Fassungslosigkeit, dass ich mich mit 11 Jahren für Effi Briest nicht interessierte und mich hat manchmal seine Einseitigkeit entgeistert – dies aber alles getragen von einer Beziehung großer Intensität und Sympathie.

Was würden Sie sagen, war für Sie der persönliche Mehrwert, beim Schreiben dieses Buches?
Jens: Da kommen wir wieder auf das Thema: Mann meines Lebens. Eine meiner Lehren war: Wenn dich etwas beschäftigt, dann mach es öffentlich, dann schreib. Er hat gern den Satz von Martin Walser zitiert: „Schreiben heißt, sich umgraben.“ Natürlich ist mir die Situation meines Vaters, auch dieser neue kreatürliche Vater, durch das Schreiben klar geworden. Es ist ja nicht nur ein Abschied, sondern es ist auch eine Entdeckung eines anderen Vaters, die ich nicht schön reden will. Für mich war das auch ein Akt von Befreiung. Nicht Therapie, aber Befreiung.

Gab es Reaktionen aus dem nicht-feuilletonistischen Bereich, die Sie ermutigt haben?
Jens: Ja, in der kleinen Stadt Albstadt-Ebingen zum Beispiel, kam eine Frau zu mir, die einen dementen Angehörigen hat, und sagte: „Dadurch, dass Sie das am Beispiel eines Prominenten beschrieben haben, haben Sie unendlich vielen anonymen Dementen ein Gesicht gegeben.“ Das hat mich tief berührt und beglückt. Ich habe in Tübingen gelesen, in Erlangen, in Freudenstadt und Gütersloh. Und immer gab es höchst intensive Diskussionen. In Erfurt etwa wurde vorher in der Thüringer Allgemeinen geschrieben: „Heute Abend wird ein Buch vorgestellt, das besser nie erschienen wäre.“ Trotzdem – oder gerade deshalb – waren viele Leute bei der Lesung und haben gemerkt, dass in diesem Buch etwas ganz anderes drin steht, als sie dachten. Darum lese ich. Ich werde über fünfzig Lesungen absolvieren. Auch in ganz kleinen Orten wie Kindelbrück und Pfalzgrafenweiler, in Pflegeeinrichtungen, auf dem Kirchenältestentag in Schleiz. Ich freue mich unendlich darauf.

Planen Sie weitere Aktivitäten im Kontext Demenz?
Jens: Ich bin nicht Altenpfleger, ich bin Publizist. Das bedeutet, ich werde weiter aufklären und ich werde die Taschenbuchausgabe, die irgendwann kommen wird, weiter ausbauen. Als nächstes aber schreibe ich ein Buch über das Stigma Vatermord…

Im Ernst?
Jens: … ja ernsthaft. Es erscheint 2010. Ganz sicher.

Ein Kommentar zu “Ich spotte doch nicht über meinen Vater!”

  1. Ullmann |

    Ich habe mir Gestern den Film „ICH,Judas“ angeschaut und war tief beeindruckt von Dramatik, den Judas so ins Blickfeld zu rücken. Das ist ja ein gewaltiger Angriff auf alle theologische Strömungen und Bekenntnisse über Judas. Hier wird schonungslos die phärisärische Denkart der gesamten Christenheit offen gelegt. Es mag schon über 20 Jahre vergangen sein, da bekam ich eben von Walter Jens eine Schreibmaschinenenabschrift , von der der „Verdeidigungsrede des Judas“ zu lesen. War sehr überrascht von Tiefe dieser Auslegung. Später habe ich mehrmals über „Judas, ein Jünger Jesu“, gepredigt. Da gab es immer große Bedenken, den Judas aus der Hölle zu entlassen. – Auch habe ich damals schon den Bericht Ihres Vaters digitalisiert und manchen zu Lesen gegeben. –
    Ihrem Vater kann ich nicht mehr Dank sagen für die Inszenierung in diesem Film, aber Ihnen und ihrer Mutter im Nachhinein, ein herzliches und aufrichtiges Dankeschön!
    Ihr Johannes Ullmann
    Ihr Johannes Ullmann

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