Stefan Aust

Ich weiß ziemlich genau, an welchem langen Hebel man hier sitzt.

Stefan Aust über Ehrlichkeit unter Politikern, die TV-Dokumentation "Fall Deutschland", politische Verantwortung als "Spiegel"-Chefredakteur und ob sich mit realistischen Fakten Wahlen gewinnen lassen

Stefan Aust

© Der Spiegel / Monika Zucht

Herr Aust, die Ausstrahlung Ihrer dreiteiligen Dokumentation "Der Fall Deutschland" ist durch die vorgezogene Bundestagswahl unerwartet in Wahlkampfnähe geraten. Sind Sie froh darüber?
Aust: Ja, ich bin darüber sehr glücklich. Weil die Themen, die wir in dieser dreiteiligen Serie versucht haben, herauszuarbeiten, sind natürlich die Themen, die in diesem Wahlkampf die entscheidende Rolle spielen. Eben die Probleme, welche die Regierung Schröder-Fischer kaputt gemacht haben, weil sie sie nicht bewältigen konnten. Vielleicht wäre das auch zu viel verlangt gewesen, denn die Ursachen dieser Probleme liegen zum Teil ja sehr viele Jahre zurück. Aber die Regierung hat sie zumindest nicht entschieden genug angepackt.
Ich freue mich jedenfalls, dass die Serie in einer Zeit gesendet wird, in der sich die Leute so etwas angucken, um eine Grundlage für ihre Wahlentscheidung zu bekommen.

Glauben Sie denn, Sie können mit solch einer TV-Dokumentation Einfluss nehmen auf den Wahlkampf?
Aust: Also, man sollte sich als Journalist nicht übernehmen. Man soll über die Dinge schreiben, aber man sollte sich nicht vornehmen, die Dinge zu gestalten. Denn dann würde man sich zu viel vornehmen und es würde auch auf Kosten der Glaubwürdigkeit gehen. Das, was wir machen können, ist – und das ist schwierig genug – auf die Probleme hinzuweisen, ohne einen taktischen Hintergedanken. Ein Politiker hat ja immer das Problem, dass er, um eine Mehrheit zu erlangen, zu verteidigen oder an die Regierung zu kommen, dazu neigt, die Dinge ein bisschen anders darzustellen, eben so, dass sie ihm nutzen. Das haben wir nicht nötig, wir können die Dinge so schreiben und so zeigen, wie wir sie wirklich sehen und wie es das Ergebnis unserer Recherche ist. Das macht uns ein ganzes Stück unabhängiger und manchmal sind deswegen unsere Analysen auch haltbarer als die von Politikern.

Aber als Medienmacher sind Sie und ist der "Spiegel" auch Teil der Wahlkampfmaschine.
Aust: Nein, wir sind nicht Teil einer Wahlkampfmaschine sondern Teil einer Aufklärungsmaschine. Wir wollen den Leuten ungeschminkt die Wahrheit sagen, wie wir es recherchieren. Und das müssen wir nicht zielgerichtet für einen bestimmten parteipolitischen Zweck machen. Ich glaube, wir würden unseren Job missverstehen, wenn wir in Wahlkämpfe eingreifen wollten. Wir greifen auf eine indirekte Weise ein, indem wir den Menschen Informationen geben, die sie besser in die Lage versetzen, ihre eigene Entscheidung zu fällen.

Ihre Dokumentation mahnt für die politische Zukunft Deutschlands eine neue Ehrlichkeit unter Politikern an, die gegenüber den Bürgern die Realität nicht weiter beschönigen sollen; Kurt Biedenkopf bezeichnet es als eine "Reform des Denkens", die stattfinden muss. Wie lange glauben Sie, wird diese Reform noch brauchen?
Aust: Ich glaube, wir sind mittendrin. Vor 15, 20 Jahren konnte man die Realität noch ein Stück ignorieren, weil sie nicht so durchschlug. Die Verschuldung des Landes haben die Leute nicht so richtig bemerkt, die Politiker konnten viele Dinge kaschieren, man konnte Wahlgeschenke auf Pump machen… – das hat vor ein paar Jahrzehnten noch einigermaßen funktioniert. Heute allerdings, bei fünf Millionen Arbeitslosen und de facto einer Stagnation der Wirtschaft, ist das nicht mehr durchzuhalten. Und dass Gerhard Schröder, dass auch andere in seiner Partei und in der Opposition angefangen haben, die Probleme zu benennen und sich darüber zu streiten, wie man sie lösen kann, ist ein Zeichen dafür, dass man die Probleme in diesem Land nicht mehr ignorieren kann.
Wir sind in einer außerordentlich schwierigen Situation, wir sind in einer vollkommen neuen Welt, die geprägt wird von der Globalisierung, von einem Wirtschaftssystem, das rund um den Erdball geht, mit Lohnunterschieden mit unterschiedlichen Investitionsraten, unterschiedlichen Wachstumsraten usw. Da können wir beim besten Willen nicht mehr so weitermachen, wie bisher. Und das hat sich glaube ich bis zu den meisten Politikern rumgesprochen.

Die Politiker sind mittlerweile ehrlicher geworden?
Aust: Ja, ich glaube, sie sind ein Stück ehrlicher geworden und wir müssen gleichzeitig höllisch darauf achten, dass sie – wenn sie denn mal so eine ehrliche Phase haben – auch dabei bleiben. Dass sie nicht in dem Moment, in dem sie dann an die Macht kommen, wieder all das vergessen, was sie vorher an Themen benannt haben. Wir dürfen uns von Politiker nicht immer wieder das Blaue vom Himmel versprechen lassen.

Was macht denn einen Politiker eigentlich so unehrlich? Ist es der reine Machterhaltungstrieb?
Aust: Nein, das wäre zu einfach. Ich glaube, dass man – auch gerade weil man ständig, und auch aus gutem Grund sehr kritisch auf Politiker blickt – manchmal vergisst, dass Politiker nicht nur auch Menschen sind, sondern dass sie sogar in ihrer Mehrzahl sehr verantwortungsbewusste, sehr hart arbeitende, intelligente Leute sind, die von der Materie, mit der sie sich beschäftigen, sehr häufig sehr viel Ahnung haben. Ein Politiker muss heute zu Thema A, morgen zu Thema B und übermorgen zu Thema C sprechen und er darf in der Öffentlichkeit, in der Diskussion keine Fehler machen. Man darf Politiker also weder moralisch, noch intellektuell, noch von ihrem Arbeitsansatz her unterschätzen. Aber: ihre wesentliche Aufgabe besteht darin, für ihre Partei und ohne Zweifel auch für sich selbst Mehrheiten zu organisieren. Und in einer solchen Situation gerät das Ziel, was sie tatsächlich, ganz ehrenwert erreichen wollen, häufig aus dem Blickwinkel. Wenn sie die Priorität haben, eine Wahl gewinnen zu müssen, geraten die mittel- oder längerfristigen Perspektiven leicht in den Hintergrund. Das ist leider ein Problem, welches vielleicht sogar demokratie-, also systemimmanent ist. Dennoch gibt es Möglichkeiten für Politiker, sich darüber hinwegsetzen.

Aber lassen sich mit realistischen Fakten heutzutage überhaupt Wahlen gewinnen?
Aust: Ich glaube, ja. Weil die Bevölkerung in der Zwischenzeit so weit ist, dass sie bereit ist, auch unbequeme Wahrheiten zu akzeptieren. Die Leute wissen, was die wirklichen Prioritäten zurzeit sind. Im Augenblick ist halt nicht die Verteilungsgerechtigkeit das Wesentliche, sondern das Wichtigste ist, dass die Unternehmen funktionieren und die Leute Arbeitsplätze haben. Und in dem Moment, wo die Wirtschaft wieder brummt, können wir auch wieder über Verteilung reden. Aber im Augenblick ist es außerordentlich wichtig, dass die Wirtschaft überhaupt wieder in Schwung kommt.

Nun laufen die drei Teile Ihrer Dokumentation beim ZDF nicht zur Prime-Time, sondern jeweils erst am späten Abend. Ist das nicht ein bisschen schade?
Aust: Nein, wir sind auf einem guten Sendeplatz, der sehr adäquat ist für eine solche Produktion. Jeder Sender hat ja sein bestimmtes Programmprofil und seine bestimmte Zielgruppe. Das geht schon damit los, dass die großen Privat-Sender ihren Erfolg vor allem in der Altersklasse von 14-49 messen. Bei den öffentlich-rechtlichen spielt diese Einteilung keine so große Rolle, weshalb sie dort schon mal ein insgesamt älteres und damit auch in Wahrheit breiteres Publikum haben.
Jetzt muss man dazu sagen, dass so ein Projekt ja auch schwierig ist. Das ist eine hochkomplizierte Thematik, die halt nicht aus Rock’n’Roll-tanzenden nackten Frauen besteht, sondern das sind Berichte und Interviews mit älteren Herren über eine harte, trockene, schwierige, komplizierte Materie. Und wenn man so etwas bei einer öffentlich-rechtlichen Anstalt auf so einem herausgehobenen Sendeplatz bringen kann, ist man natürlich froh.

Aber ist es nicht ein wenig auch ‚Preaching to the converted‘ wenn Sie im Spätprogramm des ZDF über Deutschlands Wege in die Krise berichten, zu einer Zeit, wo vielleicht eh nur die Menschen zugucken, die die Lage bereits verstanden haben?
Aust: Nein. Sie müssen natürlich ein bestimmtes, politisches, wirtschaftspolitisches und historisches Interesse haben, um sich so eine Sendung anzuschauen. Aber wir haben schon mit den späten Sendeplätzen von "Spiegel TV" bei RTL oder Sat.1 die Erfahrung gemacht, dass die Leute sich für diese Themen außerordentlich stark interessieren. Es geht ja um deren Leben, um deren Existenz, es geht um deren Rente und Arbeitsplätze.

Zitiert

Als Journalist soll man über die Dinge schreiben, aber man sollte sich nicht vornehmen, die Dinge zu gestalten.

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Aber die Chance, jene breite Masse zu erreichen, die letzten Endes auch die Wahlen entscheidet – ist die hierzulande letztlich nur bei der "Bild"-Zeitung gegeben?
Aust: Nein, ich glaube nicht, dass die "Bild"-Zeitung wirklich das Bewusstein für die Probleme des Landes schärft, weil die Probleme des Landes sich eben nicht auf ein paar Schlagzeilen reduzieren lassen.

Anders gefragt: Wie können die Medien mithelfen, den bereits angesprochenen Reformprozess des Denkens voranzutreiben?
Aust: Indem sie sich damit beschäftigen, indem die Sendeanstalten Raum dafür zur Verfügung stellen, indem auch Journalisten sich an so etwas ranmachen. Das ist ja unbequem, das ist nicht einfach und auch nicht so wahnsinnig attraktiv, sich als Reporter mit den Problemen dieses Landes in der Vergangenheit und heute zu befassen. Aber ich habe den Eindruck, dass es sich wirklich lohnt, weil die Leute sich dafür interessieren.

In Ihrer Dokumentation sind einige führende Ex-Politiker mit sehr ehrlichen Statements, teilweise auch Eingeständnissen zu sehen. Inwiefern hing diese Ehrlichkeit auch mit den beiden Interviewern, Ihnen und Claus Richter von "Frontal21", zusammen?
Aust: Ich glaube, die Tatsache, dass Claus Richter und ich uns mit dieser Sache beschäftigt haben, die wir in diesem Gewerbe schon ein bisschen länger vertreten sind und den der ein oder andere seit vielen Jahren kennt, hat vielleicht bei manchen das Vertrauen geweckt, zu sagen, was man über die eigene Rolle von damals wirklich denkt.

Hängt das auch mit Ihrer Position als einer der wichtigsten Chefredakteure in Deutschland zusammen?
Aust: Das mag auch mit dazu beigetragen haben, wobei ich das aber nicht überschätzen will. Im Endeffekt sind die von uns interviewten Politiker natürlich alles gestandene Leute, die ihre Rolle im Leben gespielt haben und die wissen, worüber sie reden. Die lassen sich nicht – bloß weil jetzt jemand gerade Chefredakteur des "Spiegel" ist – dazu bringen, Sachen zu sagen, die sie sonst nie sagen würden. Das sind Leute, die sich mit sich selbst und ihrer Zeit, mit ihren richtigen und falschen Entscheidungen, ziemlich intensiv auseinandergesetzt haben.

"Der Fall Deutschland" zeigt natürlich auch, wie sehr die Entwicklung des Landes vom wirtschaftlichen und gesellschaftliche Klima abhängt. Inwiefern ist denn der "Spiegel" prägend für das Klima in Deutschland? Welche Verantwortung sehen Sie da?
Aust: Wir haben eine ziemlich große Verantwortung. Wir dürfen uns nur nicht einbilden, dass wir direkt Politik machen, wir sollten das auch nicht versuchen. Aber in dem Moment, in dem über Politik berichtet wird, in dem man Hintergründe aufdeckt, Zusammenhänge herstellt, ist man natürlich auch politisch aktiv. Und da haben wir sicherlich einen ziemlich großen Einfluss in diesem Land, auch was das politische Klima anbelangt. Ein kleines Beispiel: wir haben uns kürzlich sehr, sehr kritisch in einer vernichtenden Titelgeschichte mit Hartz IV und der Reform des Arbeitsmarktes auseinandergesetzt, die wir ursprünglich von der Grundidee her sehr positiv begleitet hatten. Denn wenn heute über Hartz IV behauptet wird, dass sei ein gewaltiger Eingriff in den Sozialstaat und in die Rechte der Leute mag das zwar bei ganz bestimmten Personengruppen stimmen. Insgesamt handelt es sich aber viel mehr um eine gewaltige Aufblähung des Sozialstaates. Und das mal zu benennen, zu sagen: durch diese Reform ist es nicht billiger, sondern gravierend teurer geworden, als vorher – das ist unsere Aufgabe. Und dadurch prägen wir natürlich auch die Art, wie die Menschen auf die Realität blicken.

Berührt Sie diese Verantwortung auch persönlich?
Aust: Ja, die berührt mich, das ist gar keine Frage. Ich weiß ziemlich genau, an welchem langen Hebel man hier sitzt. Und ich mache mir das nicht leicht. Ich denke sehr häufig und sehr intensiv darüber nach: können wir das eigentlich machen? Aber, wenn Sie anfangen, taktisch mit dieser publizistischen Verantwortung umzugehen, wenn Sie sich sagen "jetzt setzen wir dieses Mittel ein, um dieses oder jenes zu erreichen, oder wir setzen es nicht ein, weil sonst möglicherweise das Gegenteil von dem herauskommt, was man persönlich gerne anstreben würde" – dann liegen sie schon falsch. Das Wichtigste ist, dass wir uns auf das konzentrieren, wofür wir unseren Job machen. Nämlich, etwas über die Gegenwart, über die Realität zu berichten und den Leuten – ohne Rücksicht darauf, ob es dem einen oder dem anderen schadet oder nutzt – soweit wie es geht, die Wahrheit zu sagen.

In "Der Fall Deutschland" werden bestimmte falsche Weichenstellungen in Politik und Wirtschaft seit der Nachkriegszeit benannt. Zu welchem Zeitpunkt in der jüngeren Vergangenheit haben Sie denn selbst mal gedacht: Hier wurden Weichen falsch gestellt, hier schlittert Deutschland in die Krise, in der das Land heute angekommen ist?
Aust: Ich mache das hier beim "Spiegel" jetzt schon seit fast zehneinhalb Jahren. Und von Anfang an haben wir uns sehr intensiv mit den wirtschaftlichen und sozialen Problemen des Landes befasst. Wir haben zum Beispiel vor der Bundestagswahl 1998 endlose Serien darüber gemacht, was verändert werden muss in diesem Land, im Rentenbereich im Gesundheitsbereich, bei der Steuerpolitik… – wir sind das alles durchgegangen und haben sehr deutlich aufgeschrieben, was unser Meinung nach verändert werden muss und wo welche Probleme liegen.
Als dann die rotgrüne Koalition drankam, haben wir gesehen, dass die eigentlich die wenigen, Reformschritte, die Helmut Kohl noch gemacht hatte, gleich als Erstes kassiert hat. Und ehrlich gesagt, da habe ich gedacht: Ich gucke nicht richtig.

Abschließend die Frage: In welchen Zeiten hat der "Spiegel" die höhere Auflage – in der Krisenzeit oder in den politisch eher ruhigen Phasen?
Aust: Immer in Krisenzeiten, das ist ja logisch. Die "Tagesschau" hat auch mehr Zuschauer nach dem 11. September…

Ein extremes Beispiel.
Aust: Ja, aber in Wahrheit ist es natürlich so: immer dann, wenn die Leute sich für die Veränderung der Weltlage, für Konflikte in der Politik, für Krisen, Katastrophen und Wahlkämpfe interessieren, ist die Auflage logischerweise höher.

Und in welchen Zeiten arbeiten Sie lieber?
Aust: Also, in aufregenden Zeiten macht das hier natürlich viel mehr Spaß als wenn es langweilige Zeiten sind.

Ein Kommentar zu “Ich weiß ziemlich genau, an welchem langen Hebel man hier sitzt.”

  1. Mistral |

    DIE „objektive“ Realität?

    Stefan Aust verbreitet also die „objektive“ Realität! Wohl vielmehr das, was die Chicagoer Schule, v. Hayek & Co als die „ökonomischen Wahrheiten“ ansehen würden. „Reformen“ nach deren Verständnis haben ja immer supi geklappt….na ja nicht in Deutschland, aber in anderen Ländern…..hmm..nicht in ALLEN Ländern aber doch in UK/USA…später…zumindest teilweise….

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