Rolando Villazón

Kultur ist die Seele der Gesellschaft.

Tenor Rolando Villazón über das Meer, die Kultur in seiner Heimat, zeitgenössische Musik und die Funktion der Oper in einer Gesellschaft

Rolando Villazón

© Felix Broede / Deutsche Grammophon

Herr Villazón, auf Ihrem aktuellen Plattencover stehen Sie am Strand, vor der Brandung des Meeres. Wohin reisen Sie gerne privat, wenn man fragen darf? Wo machen Sie Urlaub?
Villazón: Also, erst mal bin ich sehr gerne zu Hause. Wenn ich frei habe, bleibe ich meistens in Paris in meinem Haus, wo ich einen ganz normalen Tagesablauf habe. Und dann gibt es noch einen Ort auf einer kleinen spanischen Insel, deren Namen ich Ihnen jetzt aber nicht verrate… Eine wunderbare, bezaubernde Insel mit vielen kleinen Städten und Stränden, man kann dort Monate verbringen und ich bin sehr oft dort.

Und Ihre Lieblingsbeschäftigung im Urlaub?
Villazón: Ich liebe es zum Beispiel, Sandburgen zu bauen. Große Sandburgen. Mit Kanälen drum herum, mit Toren, großen Mauern…

Die bauen Sie zusammen mit Ihren Kindern.
Villazón: Ja, aber die sind eigentlich nur mein Alibi. Ich fange mit denen an zu bauen und irgendwann sagen sie dann: „Papa, das ist uns zu groß, sag uns wenn du fertig bist“ und gehen spielen. Ich baue dann noch anderthalb Stunden die Burg zu Ende, bis sie wiederkommen und fragen: „Dürfen wir sie jetzt kaputt machen?“

Was fasziniert Sie am Meer?
Villazón: Ich liebe es, im Wasser zu sein, den Klang der Wellen zu hören. Das Meer ist eine fantastische Anarchie und ich beobachte gerne, wie sich Wellen formen, das ist einzigartig und das passiert nur in diesem einen Moment. Diese große Form, die nur für ein paar Sekunden Bestand hat, die sich ständig verändert und auflöst bis wieder die nächste Welle kommt.

Singen Sie auch am Strand?
Villazón: Ja, in bestimmten Momenten fange ich an, ins Meer hinein zu singen. Allerdings nicht, wenn zu viele Leute am Strand sind, da würde ich mir blöd vorkommen.
Wenn man im Wasser steht und singt, wird die Stimme vom Getöse des Meeres verschlungen, sie ist dann nur ein winzig kleiner Laut, der sich zu einem riesigen Orchester dazugesellt.

Können Sie Ihrer Stimme jedes Klima zumuten?
Villazón: Ja. Wenn es zu kalt ist zieht man sich halt warm an. Was natürlich hart ist, ist meine Heimatstadt Mexiko-City. Weil die Luft dort sehr verschmutzt ist, aber auch, weil die Stadt sehr hoch gelegen ist. Wenn ich nach Mexiko-City komme, bin ich wirklich schnell außer Atem. Aber es ist auch immer wieder schön dort, es ist meine Stadt und natürlich reise ich dorthin.

Welche Rolle spielt die Oper in Ihrer Heimat?
Villazón: Oper spielt in Mexiko keine große Rolle, das ist nur ein sehr kleiner Teil unserer Kulturlandschaft. Ich verstehe auch, warum Oper in meiner Heimat Mexiko kein großes Event ist, das sollte es auch gar nicht sein. Die Oper sollte zwar ihren Platz haben, aber sozial und kulturell haben wir ganz andere Bedürfnisse.

Was für Bedürfnisse meinen Sie?
Villazón: Wir müssen unsere eigenen kulturellen Schätze bewahren, sie auch gegen den großen Einfluss der USA verteidigen. Es geht darum, all die prä-hispanischen Tänze und Traditionen wiederzuentdecken, die durch die spanische Eroberung transformiert wurden, die mexikanischen Theater-Schriftsteller, die Volksmusik der prä-hispanischen Zeit. Auf diesem Gebiet unserer Kultur müsste es eine viel intensivere Forschung geben.

Und die Kunstform Oper?
Villazón: Oper sollte auch Teil unserer Kultur sein, es gibt ja auch mexikanische Opernsänger und Oper ist eine Kunstform, die für jeden da ist. Und trotzdem, wenn ich in Mexiko die Wahl hätte, mir „Madame Butterfly“ anzuschauen oder „La Danza de Los Venados“ (trad. mexikanisches Tanzritual) dann würde ich den Tanz unterstützen. Weil bei „Madame Butterfly“ weiß ich, dass sie überleben wird, da gibt es einen ganzen Kontinent, der das unterstützt. Bei „La Danza de Los Venados“ gibt es aber nur uns, die das aufführen und der Welt präsentieren können.
Ich würde mir in Mexiko auch eher Werke des mexikanischen Komponisten Carlos Chaves anhören, als zum Beispiel Tschaikowsky. Die Bewahrung unserer eigenen Kultur ist wichtig, weil sie Qualität hat.

Zitiert

Ich liebe es, Sandburgen zu bauen. Große Sandburgen.

Rolando Villazón

Welche Funktion hat die Kunstform Oper in einer Gesellschaft?
Villazón: Ich denke, die Funktion der Oper in einer Gesellschaft ist die Funktion der Kunst. Wir Menschen werden heute ja immer mehr zu Automaten. Wir leben heute in einer Welt, wo Geschwindigkeit alles ist und wir gezwungen sind, immer und überall sofort zu agieren und reagieren, ohne dass uns Zeit bleibt, um zu verdauen, zu analysieren und zu genießen. Du machst und machst, zack zack (Villazón schnippt mit den Fingern) und es ist heute fast unmöglich, mit dieser Geschwindigkeit Schritt zu halten.
Früher, wenn du einen Gedanken oder ein Gefühl gegenüber einer anderen Person in der Entfernung ausdrücken wolltest, hast du einen Brief geschrieben. Du musstest das Papier nehmen, du musstest drei Mal überlegen, bevor du den ersten Satz geschrieben hast, du musstest die ganze Poesie und Philosophie, zu der du imstande bist, in diese Briefseiten hineinstecken. Dann hast du das Papier gefaltet, in den Briefumschlag gesteckt, du bist zur Post gegangen und hast den Brief abgeschickt. Dann musstest du Tage lang warten, bis die Antwort kam, es gab diesen Moment der Erwartung, der dir ermöglicht hat, über alles nachzudenken, was du geschrieben hast und wie die Person es annehmen würde. Dann, endlich, kommt der Postbote und bringt dir den Antwort-Brief: du bist aufgeregt, öffnest, liest, einmal, zweimal – und dann beginnt der Prozess wieder von vorne.

Aber was hat das mit Oper zu tun?
Villazón: Musik, Oper – das ist der Inhalt des Briefs. Die Sänger und Musiker sind die Tinte und der Stift, die Medien, Plattenfirmen und Opernhäuser sind Umschlag, Postamt und Papier und es gibt einen Empfänger: das Publikum. Manche erwarten diesen Brief, sie wollen immer noch solche Briefe bekommen. Andere wissen gar nicht mehr, dass diese Briefe überhaupt noch existieren. Aber wenn sie einmal einen erhalten, dann bekommen sie damit dieses fantastische Ding: Nahrung für die Seele. Kunst und Kultur, das ist die Seele der Gesellschaft, deshalb ist sie so wichtig. Oper ist wie ein lebendiges Museum. Es geht um Gefühle, Emotionen und um geniale Komponisten, die fähig waren, Emotionen einzufangen und sie auf eine Art und Weise anzuordnen, dass sie uns als Zuschauer sofort berühren.

Aber warum erhalten wir heute fast nur Briefe aus dem 18. und 19. Jahrhundert? Warum ist zeitgenössische Oper nicht mehr als nur eine Randerscheinung im Opernbetrieb?
Villazón: Ich hoffe, dass sich das verändert. Wenn ich zum Beispiel Musik von Osvaldo Golijov höre oder von Daniel Catán… Aber es gibt in der Oper eben auch eine große Tradition, an die wir uns gewöhnt haben, Opern, die sich über Jahrhunderte als haltbar erwiesen haben, die überlebt haben…

…was man sich in Bezug auf zeitgenössische Opernkompositionen kaum vorstellen kann.
Villazón: Weil zeitgenössische Musik immer mehr zu einer intellektuellen Übung geworden ist, sie hat sich mehr und mehr entfernt von dem, was Musik in erster Linie sein sollte: dieses emotionale Ding, das unsere Gefühle anspricht.
Im Kino, da wird heute zum Beispiel Musik im Stile Tschaikowskys benutzt um uns zu berühren, um uns zum Weinen zu bringen. Die Philosophie der zeitgenössischen Musik im Konzertsaal dagegen hat sich vom Publikum immer weiter entfernt. Ich verstehe diese Musik nicht, ich setze mich in so ein Konzert und denke: Aha, das ist wie Mathematik. Man kann es bewundern als eine erstaunliche, intellektuelle Geistesleistung aber irgendwie berührt es uns nicht. Es gibt natürlich Ausnahmen. Als ich Golijovs „Ainadamar“ gesehen habe, mochte ich wirklich sehr viel daran.

Würden Sie sagen, dass in den vergangenen Jahrhunderten die Musik mehr von Liebe inspiriert war als heute?
Villazón: Ich denke, Verdi, Donizetti oder Mozart, die waren sehr verbunden mit ihrem Publikum. Und Oper spielte eine primäre Rolle in der Gesellschaft. Das ist heute nicht mehr so, die Uraufführung einer Oper ist kein weltweites Ereignis mehr. Wenn Verdi eine neue Oper komponiert hat, war das ein kulturelles Großereignis, ganz Italien hat darauf geschaut und die Welt hat darauf gewartet, das Werk in die Opernhäuser zu bringen. Wenn heute eine zeitgenössische Oper zum ersten Mal aufgeführt wird hörst du davon … nichts. Du hoffst, dass das Theater überhaupt ein paar Karten verkauft.

Aber dass überall nur Verdi und Puccini gespielt wird, liegt auch am konservativen Opernpublikum, oder?
Villazón: Natürlich ist es so, dass der Großteil des Opernpublikums heute lieber „La Bohème“ und „La Traviata“ hören will. Viele sehen die Oper als ein lebendiges Museum und schauen sich Werke an, die vor langer Zeit geschrieben wurden, erfolgreich waren, immer noch erfolgreich sind und erfolgreich bleiben werden. Das ist sicher auch ein Problem der Repertoiregestaltung der Opernhäuser. Wenn eine neue Oper gespielt wird, sollte sie immer wieder und wieder aufgeführt werden, damit die Leute sich daran gewöhnen, damit wir sie akzeptieren. Zum Beispiel als Gustav Mahlers Werke das erste Mal aufgeführt wurden, das klang zu der damaligen Zeit auch sehr modern und schwierig – aber es wurde gespielt und gespielt, und die Leute gewöhnten sich an die Harmonien. Heute berührt uns Mahlers Musik.
Es gibt heute ein Publikum für zeitgenössische Oper. Nur denke ich, dass die Komponisten wieder näher an das Publikum und an die Seele des Publikums herankommen müssen. Viele erschaffen diese unglaublich komplexen Werke…

…zu komplex für das Publikum?
Villazón: Also, ich sage jetzt nicht, dass man heute wieder so komponieren sollte wie Verdi damals, ich finde auch nicht, dass man den ganzen intellektuellen Aspekt in der Musik begraben sollte. Ich selbst habe auch schon Kompositionen von Boulez oder Penderecki gehört, von denen ich beeindruckt und überwältigt war, moderne Werke, die mich erreicht haben.
Aber viele Komponisten leben heute in ihrer ganz eigenen Welt und es interessiert sie offenbar gar nicht, wer ihre Werke anhören wird. Für das Publikum ist es dann natürlich sehr schwer, diese Musik zu begreifen.

Zeitgenössische Musik ist komplex, die Handlungen in den Opern von Verdi, Puccini oder Donizetti dagegen äußert simpel…
Villazón: Ja, sehr simpel. Größtenteils sind es offensichtliche, einfache und manchmal sogar dumme Geschichten. Und dennoch sind diese Opern so wichtig: weil sie das Unterbewusstsein auf die Bühne bringen. In der Oper werden ganz grundlegende Gefühle gezeigt, deswegen hat Oper auch so ein großes Publikum. Wenn sich auf der Bühne zwei Figuren ineinander verlieben, dann ist das wie ein mis en scene des Gefühls, das du hast, wenn du dich in deinem eigenen Leben verliebst. Allerdings hörst du im realen Leben keine Violinen oder Trompeten dazu und du schreist eine Liebeserklärung auch nicht laut heraus.

Die Oper lebt von einer großen Übertreibung der Gefühle.
Villazón: Ja, und bei dieser Affektiertheit und Übertreibung, mit der man etwas auf der Bühne zeigt, ist die Trennlinie zwischen Lächerlichkeit und Ernsthaftigkeit oft eine sehr dünne. Da kann es auch passieren, dass du als Sänger bei einer Opernproduktion plötzlich anfangen musst, zu lachen, weil eine ernste Szene auf einmal so wirkt wie ein Film von den Marx-Brothers.

Sind Sie als Zuschauer schon mal in einer Oper eingeschlafen?
Villazón: Nein, eingeschlafen nicht. Aber es gibt Momente, wo ich gelangweilt bin. Und ich bin mir sicher, dass ich selbst auch schon in Produktionen gesungen habe, wo das Publikum vor Langeweile gestöhnt hat.
Früher, als ich mir zum ersten Mal eine Wagner-Oper angeschaut habe, da habe ich vorher auch gedacht, ich würde einschlafen. Doch dann war es für mich die unglaublichste Erfahrung die ich jemals hatte.

Und Sie sind auch heute noch ergriffen von einem Opernbesuch?
Villazón: Ja, ich war schon in Opern, die für meine Seele geradezu eine Revolution waren. Wenn du in eine Aufführung gehst, egal ob Tanz, Oper oder Theater, dann bist du wie eine Flasche Wasser und je besser das Theaterstück zusammengesetzt ist, desto mehr wird diese Flasche geschüttelt. Alle Partikel, die auf dem Boden der Flasche waren, bewegen sich und fangen an, im Wasser zu tanzen. Mich haben manche Vorstellungen so sehr durchgeschüttelt, dass sich meine Gefühlsordnung danach komplett geändert hat.
Es ist vielleicht nicht so, dass du dich nach einem Opernbesuch entscheidest, dein Leben anders zu leben. Aber diese einfachen Geschichten, mit so viel Herz erzählt und mit großer Musik, die bewirken eine Revolution in dir. Sie lassen dich menschlich fühlen – und nicht wie ein Automat.

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