Mira Nair

Niemand wird unsere Geschichten erzählen, wenn wir es nicht selbst tun.

Regisseurin Mira Nair über ihren Film „The Namesake“, Dreharbeiten in Kalkutta und ihr Verhältnis zu Bollywood

Frau Nair, für Ihren Film „The Namesake“ haben Sie zum Teil in Kalkutta gedreht; die Atmosphäre der Stadt ist so wundervoll eingefangen – haben Sie eine besondere Beziehung zu Kalkutta?
Nair: Ich bin in Kalkutta aufgewachsen! Nun, eigentlich in Orissa, dem Bundesstaat südlich von West-Bengalen, aber ich habe zwölf Sommer in Kalkutta verbracht. Mein Onkel lebte in der Stadt, und jeden Sommer wurden wir für drei Monate dorthin verfrachtet. Ich liebe Kalkutta und kenne die Stadt sehr gut. Sie war ein sehr prägender Ort für mich. Zunächst habe ich dort Theater, insbesondere politisches Theater für mich entdeckt, und später dann Film. Das war ja das Unheimliche, als ich „The Namesake“ las: Ich konnte mich nicht nur auf emotionaler Ebene mit der Geschichte identifizieren – der Roman spielt auch an den Orten, mit denen ich so verwachsen bin. In diesem Sinne ist „The Namesake“ mein bislang persönlichster Film. „Monsoon Wedding“ ist auch ein sehr persönlicher Film – als würde man bei mir im Wohnzimmer sitzen. Aber „The Namesake“ ist persönlich in einem übergeordneten Sinne, in ihm stecken alle Erfahrungen meines Lebens.
Der Film ist zudem eine Hommage an Ritwik Ghatak und Satyajit Ray, deren Filme ich liebe und die mich sehr inspiriert haben. Außerdem war es eine großartige Gelegenheit, einen bengalischen Film in Amerika zu drehen, und dabei mein ganzes Wissen, meine ganze eigene Erfahrung mit einbringen zu können.

Einige große Stars des Bengali-Kinos, wie Ruma Guha-Thakurta oder Supriya Chowdhury, sind in „The Namesake“ in kleinen Rollen zu sehen. Ist dies auch als Referenz an Ghatak bzw. Ray zu verstehen?
Nair: „Der verborgene Stern“ (Originaltitel „Meghe Dhaka Tara“) von Ritwik Ghatak ist mein Lieblingsfilm; bevor wir mit den Dreharbeiten begannen, mussten sich alle diesen Film anschauen! Supriya Chowdhury erklärte sich nach einem wundervollen Treffen dazu bereit, mitzumachen – und ihr Mitwirken ist tatsächlich eine Hommage an Ghatak. Den ganzen Film über kann man außerdem „Meghe Dhaka Tara“-Plakate sehen – wir haben sie an allen möglichen Wänden angebracht.
Ruma Guha-Thakurta dagegen wollte ich wegen ihres Aussehens in meinem Film haben. Ihr Gesicht, ihre Augen sind so voller Leben. Es waren beides nur kleine Rollen aber sie mussten mit einem gewissen Gewicht ausgefüllt werden. Grundsätzlich geht es mir bei der Rollenbesetzung immer in erster Linie darum, ob ein Schauspieler zur Figur passt. Aber ich bin sehr dankbar, dass diese Stars dazu bereit waren, mitzumachen. Auch Sabyasachi Chakraborty, der Ashimas Vater spielt. Eine Mini-Rolle, aber er hat sie übernommen. Bengalis lieben das Kino aus vollem Herzen, sie verrenken sich förmlich für eine Rolle in einem guten Film.

Sie haben einmal gesagt, was Sie am Drehen in Indien liebten, sei das Choreographieren des Chaos. Kalkutta ist noch chaotischer als Bombay und Delhi, zwei Städte, in denen sie ja bereits gedreht haben. Wie war es denn, das Chaos in Kalkutta zu choreographieren?
Nair: Es war unglaublich! In Kalkutta lieben sie meine Filme und so wurden wir überall von Paparazzi verfolgt. Manchmal wurden sogar Drehorte samt Datum und Uhrzeit in den Zeitungen veröffentlicht – aus reiner Zuneigung! Da stand dann so was wie: „Leute, nehmt zur Kenntnis! Morgen Vormittag um 9:29 Uhr wird Mira Nair dort und dort drehen!“ Beispielsweise am Tag bevor wir am Howrah-Bahnhof drehen wollten. Mit dem Ergebnis, dass wir nicht nur mit Tausenden von Passagieren zu tun hatten, sondern auch mit Hunderten von Zuschauern! Sie waren jedoch sehr freundlich – und ruhig, wenn wir sie darum baten. Aber so leidenschaftlich! Sie standen dort von morgens bis abends und schauten uns zu. Irgendwann kam ein Mann auf mich zu und meinte: „Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie heute in Howrah drehen und dachte: da muss ich hin.“ Es war Ritwik Ghataks Sohn! Ich war so gerührt! Ich kannte ihn vorher nicht, er stand einfach dort in der Menge. Das ist Kalkutta, und das liebe ich an dieser Stadt!

Es hat den Anschein, als scheuten sich Filmcrews davor, in Kalkutta zu drehen – wegen fehlender Infrastruktur und ähnlichem.
Nair: Aber es gibt keinen Ort der Welt, der Kalkutta ersetzen könnte. Natürlich gab es Momente, in denen wir fast überrannt wurden, aber man muss sich nur das Talent, das diese Stadt birgt anschauen, die Schönheit, die Mentalität! Endlich konnte ich viele Dinge, die mich bereichert haben, in einem Film unterbringen: Ich liebe Bauls [bengalische Wandersänger] und konnte endlich einen Film machen, in dem Baul-Sänger vorkommen können, endlich konnte ich Bhatiali-Lieder [bengalische Volkslied-Form] unterbringen. Es war eine große Freude, all diese kleinen Dinge verwenden zu können.

Tabu und Irrfan Khan, die beiden Hauptdarsteller, sind keine Bengalis, aber…
Nair: Ist das aufgefallen? Was Irrfans Rolle betrifft, so haben wir uns vollkommen an Niranjan Ray aus Meghe Dhaka Tara orientiert: die Lungis, die Brille, alles. Und Irrfan ist so ein großartiger Schauspieler, er internalisierte all das – er hatte einfach dieses Look. Ich habe mir nie Sorgen gemacht, er könne keinen Bengali glaubhaft verkörpern. Ursprünglich sollte eine bengalische Schauspielerin die Hauptrolle in „The Namesake“ übernehmen. Dann kam aber etwas dazwischen und so ging die Rolle an Tabu, die ich seit Jahren kenne und verehre – sie ist eine wirklich außergewöhnliche Schauspielerin. Sie hatte bereits Filme in Bengali gedreht, und spricht die Sprache fließend. Wir veränderten ihren Look komplett: Vorbilder waren dabei – was die Musikalität in der Stimme betrifft, die Art, wie sie sich bewegt, die Saris, die Frisuren – Madhabi Mukherjee, und Sharmila Tagore in Rays „Devi“.

Ich finde es interessant, dass „The Namesake“ in gewisser Hinsicht das Gegenstück zu „Monsoon Wedding“ ist: „Monsoon Wedding“ erstreckt sich über ein paar Tage, „The Namesake“ über ein paar Jahrzehnte. In „Monsoon Wedding“ kommen bereits emigrierte Inder zu Besuch zurück nach Indien während „The Namesake“ die Migration selbst behandelt. Wollten Sie mit „The Namesake“ bewusst eine andere Perspektive auf die Lebensrealität indischer Migranten, auf den „globalen Inder“ legen?
Nair: Nicht wirklich. Die Entscheidung „The Namesake“ zu machen, war eine völlig emotionale Reaktion auf die Erfahrung, zum ersten Mal mit der Entgültigkeit von Verlust konfrontiert zu werden. Eine geliebte Person in einem fremden Land zu begraben und nicht zu wissen, wie man damit umgehen soll. Genau das liegt auch im Herzen Geschichte von „The Namesake“. Und dann habe ich einfach noch nie…da gibt es zum Beispiel die Szene, in der Ashima im fallenden Schnee, bekleidet mit einen Baumwoll-Sari und dem Mantel und den Handschuhen ihres Mannes, einen Wäschewagen hinter sich her zieht – ich hatte damals drei oder vier Jahre gebraucht, um zu lernen, wie ich mich im Winter anziehen soll. Ich trage immer noch ungern Socken. Und das hatte ich noch nie auf einer Leinwand gesehen. Wir haben von unseren Eltern gelernt, uns auf eine bestimmte Weise zu kleiden und zu benehmen – diese ganze Höflichkeit und Etikette – und wenn man das Land verlässt, kann man all dies zum Fenster raus werfen.

In gewisser Hinsicht also doch ein Migrationsfilm?
Nair: „The Namesake“ ist keine herkömmliche Geschichte im Sinne von: „Das war die alte Welt und das ist nun die neue.“ Es ist komplexer: Es ist eher ein „von dort nach hier und wieder zurück“. So lebe ich, das bestimmt mein Leben: aus meinem Fenster in Manhattan auf die Washington Bridge zu blicken und zu denken, es sei die Howrah Bridge in Kalkutta. Es ist ein Zustand des Herzens, ein zwischen-den-Welten-leben. Das ist es, was ich vermitteln wollte – sowohl emotional als auch durch die Bilder des Films. Und es half dabei ungemein, dass es sich um zwei Städte handelte, die ich kenne wie meine Westentasche. Sehr, sehr viel aus dem Roman deckt sich mit meinem Leben: Ich hasse beispielsweise amerikanische Feiertage. Sie befremden mich, ich weiß nie, was ich eigentlich tun soll. Ich denke dann jedes Mal: „Was zum Teufel mache ich hier? Hotdogs zubereiten und amerikanische Flaggen schwenken?“ Aus heiterem Himmel trifft mich dann ein Gefühl der Entfremdung: Wer bin ich, was mache ich hier? Und all das ist auch im Film zu sehen.

Wie kamen Sie dazu, Kal Penn zu casten? In Deutschland ist er so gut wie unbekannt…
Nair: Kal Penn ist ein großer Star in Amerika. Man kennt ihn vor allem aus Komödien – dies war seine erste dramatische Rolle. Mein 15-jähriger Sohn und sein bester Freund sind große Fans von ihm, und eines Tages zeigten sie mir ein paar Bilder im Internet und sagten: „Das ist Kal Penn, bitte nimm ihn als Gogol!“ Auf den Bildern wirkte er jedoch zu albern auf mich, ich konnte ihn mir nicht als Gogol vorstellen. Da bekam ich eines Tages einen Brief von ihm, in dem stand: „Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass ich auf eigene Kosten nach New York fliegen werde, um für die Rolle vorzusprechen, denn ich bin Gogol. Sie sind der Grund, warum ich Schauspieler geworden bin. Als ich acht Jahre alt war, habe ich „Mississippi Masala“ gesehen – es war das erste Mal, dass ich einen Inder auf der Leinwand gesehen hatte, und ich dachte: Das kann ich auch!“ Das war natürlich sehr schmeichelhaft. Ich habe ihm daraufhin mitgeteilt, dass ich bereits ein paar Schauspieler für die Rolle im Hinterkopf habe, meinte aber, er solle kommen. Daraufhin flehte mein Sohn jeden Abend, bevor er zu Bett ging: „Bitte, bitte nimm Kal Penn!“ Lange Rede, kurzer Sinn: Kal kam und ich war völlig von den Socken! Er hat die Rolle bekommen. Und er hat das meinem Sohn und seinem besten Freund zu verdanken – die Jungs haben ihn im Prinzip gecastet.

Ihr Sohn soll auch verantwortlich dafür sein, dass Sie ein amerikanisches Remake des Hindi-Blockbusters „Munnabhai MBBS“ anstreben. Stimmt das?
Nair: Ja, das stimmt. Wir sind noch ein bisschen am kämpfen, aber ich habe nun seine Erlaubnis, das Projekt beiseite zu legen. Aber ich bin mir noch nicht sicher, ob ich es wirklich beiseite legen will. Wir sind dabei, das Drehbuch fertig zu stellen. Es ist ein etwas riskantes Unterfangen, aber selbst wenn ich nicht selbst die Regie übernehmen sollte, werde ich es zumindest produzieren, oder in irgendeiner anderen Weise involviert sein. 15-jährige Söhne sind sehr verführerische Executive Producer. Sie haben Macht über ihre Mütter!

Das wäre dann das erste Hollywood-Remake eines kommerziellen Hindi-Films!
Nair: Ja, das wäre auch das Schöne daran – Bollywood zum ersten Mal nach Hollywood zu bringen.

Es existiert ein anhaltender Bollywood-Hype hier in Deutschland. Immer wieder wird auch ein Film wie „Monsoon Wedding“ unter diesen Begriff gefasst. Wie finden Sie das?
Nair: Das ist eine vollkommene Fehlbezeichnung! Meine Filme sind keine Bollywood-Filme, sondern Alternativen. Aber das Bollywood-Kino beeinflusst die Art und Weise, wie in Indien Hochzeiten gefeiert werden, insofern war „Monsoon Wedding“ zu einem kleinen Teil auch ein Augenzwinkern in Richtung Bollywood. Auf Hochzeiten wird heutzutage tatsächlich zu Liedern aus Hindi-Filmen getanzt, deshalb gab es im Film eine kleine Gesang- und Tanzszene. Aber wir wollten sie so realistisch wie möglich halten. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Farah Khan, die ich darum gebeten hatte, das Ganze zu choreographieren. Sie fragte: „Wie lange habe ich Zeit, die Tanzsequenz umzusetzen – vier Tage?“ Und ich antwortete ihr: „Schätzchen, du hast vier Stunden!“ Ich habe großen Respekt für das Beste, das aus der Filmindustrie in Bombay kommt; ich liebe das Talent, das es dort gibt und nutze es auch. So werde ich demnächst vier Kurzfilme produzieren, in denen es um AIDS-Aufklärung geht. Einen werde ich selbst umsetzen, Vishal Bhardwaj, Kamal Hasan und Santosh Sivan, Regisseure, die ich sehr schätze, werden ebenfalls jeweils einen Film drehen und es werden Stars mitwirken. Diese Filme werden mit der Bollywood-Form flirten, um ein entsprechendes Publikum zu erreichen. Aber meine Filme sind kein Bollywood. Niemals…. Karan Johar („Sometimes happy, sometimes sad“) ist ein Freund von mir, und er meint immer: „Mira, mach „Monsoon Wedding“ mit Stars“! Das wäre ein Rießenerfolg!“ Und ich antworte ihm dann: „Der Film ist erfolgreich genug, Karan. Mach du es doch, ich bin durch damit.“ Ich mache keine Dinge, die andere besser können. Es ist gar nicht so einfach, einen Bollywood-Film zu drehen!

Eine letzte Frage: Hatten Sie jemals das Gefühl, als Filmemacherin nur dann Beachtung zu finden und ernst genommen zu werden, wenn Sie indisches bzw. indisch-amerikanisches Leben thematisieren? Im Sinne von ‚Sie können ruhig von braunen Gesichtern erzählen, aber überlassen Sie die weißen bitteschön den Weißen’?
Nair: Sehr gute Frage! Habe ich das Gefühl, ich sollte nur von braunen Gesichtern erzählen, am besten über Opfer und Probleme? Keineswegs! Aber ich bin schon der Überzeugung, dass niemand unsere Geschichten erzählen wird, wenn wir es nicht selbst tun. Allerdings möchte ich Filme machen, die ich selbst gerne sehen würde, und ich schaue mir nicht gerne irgendwelche Agitprop-Sachen an. Ich finde, diese Art von Filmen untergraben die Intelligenz des Publikums. Meiner Meinung nach ist die Realität in der wir leben wesentlich interessanter als es in diesen ernsten Filmen über Menschen, die unterdrückt werden, dargestellt wird. Das ist nicht mein Ding. Dies zu dem einen Aspekt der Frage. Was den anderen Aspekt betrifft: ein Gefühl von „das ist das Territorium von Weißen“ hatte ich, als ich „Vanity Fair“ präsentierte, vor allem in etwas traditionelleren Gegenden – in Teilen Amerikas und besonders in England. Da schlug mir tatsächlich das Gefühl entgegen, dass das ein Film ist, den ich doch lieber den Leuten, die Socken tragen, überlassen hätte sollen. Aber man darf dem nicht zuviel Beachtung schenken, das ist nichts als Kurzsichtigkeit, und es ist nichts, was mich davon abhalten würde, etwas zu tun, was mich interessiert.

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.