Ken Follett

Ich lebe tagsüber im Mittelalter

Ken Follett über Schriftsteller-Alltag, Religion, einfache Sprache, Kommunikation mit dem Leser und sein Buch „Die Tore der Welt“

Ken Follett

© Olivier Favre

Mr. Follett, nach Lesungen signieren Sie für viele Fans Ihre Bücher. Wie viele schaffen Sie an einem Abend?
Ken Follett: 500 bis 600 Bücher, denke ich.

Und dann schwächelt Ihre Hand?
Follett: Nein, ich bin das gewöhnt.

Ist ein Autogramm vielleicht eines der wenigen Dinge, die Sie als Schriftsteller heute noch mit der Hand schreiben?
Follett: Wenn ich einen Roman plane, dann mache ich mir handschriftlich Notizen; für den Entwurf benutze ich Langschrift und verschiedenfarbige Stifte. Wenn ich dann aber den eigentlichen Text schreibe, benutze ich eine Tastatur.

Sie schreiben bereits seit den 70ern. Hat Ihnen die Entwicklung der Technologie, z.B. von Textverarbeitungs-Software etc. seitdem die Arbeit erleichtert?
Follett: Nein, das macht keinen großen Unterschied. Denn die wichtigste Arbeit geschieht nach wie vor in meinem Kopf. Wenn es eine Maschine gäbe, die mich schneller denken lässt, dann würde ich so eine kaufen.

Bei einer Lesung haben Sie erwähnt, dass Sie beim Schreiben von „Die Tore der Welt“ auch Excel-Tabellen verwendet haben.
Follett: Ja, das ist in der Tat etwas Neues. Ich habe in diese Tabellen Romanfiguren eingetragen um zum Beispiel ihr Alter zu verschiedenen Zeiten berechnen zu können, das war sehr hilfreich. Wobei ich das Gleiche wohl auch mit Karteikarten hätte machen können. „Die Tore der Welt“ hat mehr Figuren als jedes anderes Buch, das ich bisher geschrieben habe. Da musste ich mit meinen Aufzeichnungen sehr genau umgehen.

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Follett: Ich mag es, sehr früh anzufangen, meistens um 7 Uhr. Weil wenn ich morgens aufwache, habe ich die Geschichte in meinem Kopf. Ich steige aus dem Bett und setze mich direkt an den Schreibtisch. Ich ziehe mich noch nicht mal an, nur meinen Bademantel, weil ich gerne sofort beginne. Dann arbeite ich ein bis zwei Stunden vor dem Frühstück. Was mir daran gefällt: über die Probleme, die sich beim Schreiben ergeben, kann ich dann nachdenken, wenn ich all die anderen Sachen mache, die man am Morgen machen muss ohne nachzudenken – Rasieren zum Beispiel.
Dann arbeite ich bis zum Mittag, mache eine kurze Mittagspause und um 4 Uhr höre ich auf. Dann schreibe ich E-Mails, führe Telefonate bis ungefähr um 6. Und um 6 trinke ich normalerweise ein Glas Champagner. Das ist mein Tag.

Jeden Tag dieser strikte Rhythmus?
Follett: Ja, die meisten Tage ist das so.

Weil es so am effizientesten ist? Oder lastet auf Ihnen ein Druck, der Sie dazu anhält, diese Disziplin einzuhalten?
Follett: Also, ich habe drei Jahre gebraucht, um „Die Tore der Welt“ zu schreiben und für ein Buch von normaler Länge brauche ich zwei Jahre, das ist schon lang genug. Ich muss jeden Tag arbeiten, wenn ich das nicht machen würde: Wie lange würde ich dann für einen Thriller brauchen? Drei Jahre oder vier? Nein, ich muss jeden Tag schreiben. Das machen die meisten Schriftsteller so.

Leser haben eine romantische Vorstellung vom Schriftstellerleben – was würden Sie sagen, ist der romantischste Teil Ihrer Arbeit?
Follett: Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt etwas Romantisches am Schriftstellerdasein gibt. Ich mag es und ich kann es, aber ich sehe da nichts Romantisches.

Dazusitzen, sich Figuren auszudenken, eine Geschichte im Kopf zu entwickeln, sich inspirieren lassen von der Historie, von Architektur…
Follett: Sicher, das macht Spaß, aber ich würde das nicht als „romantisch“ bezeichnen. Es kommt drauf an, was Sie damit meinen.

Dann nehmen wir vielleicht die Perspektive eines Kindes: Wie haben Sie sich in jungen Jahren Schriftsteller vorgestellt?
Follett: Ich habe als Kind nicht davon geträumt, Schriftsteller zu werden. Ich wollte viel lieber ein Pirat sein, oder ein harter Typ wie Superman. Der Gedanke kam mir erst später, in meinen 20ern, als ich angefangen habe, Kurzgeschichten zu schreiben. Da habe ich mir überlegt, wie es wohl wäre, wenn ich jeden Tag Romane schreiben könnte und Millionen von Lesern hätte. Das war dann ein Traum von mir.

Hat Sie auch Ihr Philosophie-Studium zu dieser Berufswahl verleitet?
Follett: Nein, ich denke, das hatte darauf kaum Einfluss. Ich habe Philosophie studiert, weil ich als Teenager sehr an Religion interessiert war. Ich bin in einem sehr religiösen Elternhaus groß geworden, aber ich war mir nicht sicher, ob ich an Gott glauben sollte. Und ich dachte, Philosophie zu studieren würde mir helfen, diese Frage zu beantworten. Das hat es auch. Aber es hat nicht meinen Berufsweg bestimmt.

Und wie haben Sie die Gretchenfrage für sich beantwortet?
Follett: Ich glaube nicht an Gott. Es hat mich auch nicht besonders viele Monate des Philosophie-Studiums gekostet, um zu diesem Schluss zu kommen.

Die Abkehr vom Glauben war also eine einfache Angelegenheit für Sie?
Follett: Nun, der Prozess bei dem du frei und unabhängig von deinen Eltern wirst, läuft ja sehr langsam ab. Im Alter von 15 ist man vielleicht noch besorgt darüber, wenn man mit dem Glauben der Eltern nicht übereinstimmt. Aber später, mit 19 macht man sich da keine Sorgen mehr. Heute mache ich mir keine Gedanken mehr darüber, es ist keine emotionale Angelegenheit mehr für mich.
Und im Philosophie-Studium habe ich gelernt, sehr rigorose Maßstäbe an Argumente anzusetzen. Und die Argumente, die von Leuten für die Existenz von Gott ins Feld geführt werden, finde ich sehr dürftig und schwach.

Und dennoch geht es in „Die Säulen der Erde“ und „Die Tore der Welt“ sehr viel um Priester, Mönche, eine Kathedrale…
Follett: Ich bin aufgewachsen mit Menschen, die an Gott glauben. All meine Großeltern, alle meine Onkel und Tanten, alle haben an die gleiche Art von Religion geglaubt. Und ich selbst habe als junger Mann auch die Bibel studiert, sehr sorgfältig sogar. Ich habe die Bibel komplett durchgelesen, und nicht nur gelesen, sondern nach der Lektüre jedes Buches musste ich Fragen beantworten, bevor ich das nächste angefangen habe. Das war so ein Bibelkurs, den ich gemacht habe, als ich 13 Jahre alt war und ich glaube, ich habe ein oder zwei Jahre für die Bibel gebraucht. Insofern bin ich sehr vertraut mit all diesen Sachen. Es ist sehr einfach für mich, die Gedanken eines Priesters oder Mönchs nachzuvollziehen.

Wenn Sie ein Buch schreiben, über 1200 Seiten dick – gelangen die Romanfiguren dann auch manchmal in Ihre Träume?
Follett: Nein. Ich träume nie von meiner Arbeit. Ich werde oft nach den Figuren gefragt, ob sie richtige Personen sind, ob ich mit ihnen zusammenlebe – aber so ist es nicht für mich. Ich hatte nie Schwierigkeiten, meine Arbeit vom Rest meines Lebens zu trennen. Es ist wirklich so: Ich lebe tagsüber im Mittelalter, mit all diesen Figuren und dann, am Ende des Tages sage ich einfach: Stop – und lebe mein normales Leben.

Gibt es etwas, was Sie dazu bringen könnte, in eine Zeitmaschine zu steigen und ins Mittelalter zu reisen?
Follett: Ja, die Neugier. Was ich wirklich gerne machen würde: im Mittelalter neben einem Steinmetz stehen, während er eine Kirche baut. Dafür würde ich sehr viel Geld ausgeben. Ihn richtig zu sehen, mir seine Hände anzuschauen, genau zu beobachten, wie er mit Hammer und Meißel arbeitet. Es gäbe überhaupt viele Dinge, die ich beim Bau einer Kathedrale gerne beobachten würde. Natürlich wissen wir schon viel darüber, aber ich würde es mir trotzdem gerne selbst anschauen…

Sie könnten nach Barcelona fahren, wo immer noch an der Sagrada Familia gebaut wird.
Follett: Ich war in Barcelona und ich habe mir die Sagrada Familia angeschaut. Das hat mich umgehauen, ein wundervolles Gebäude. Aber sie benutzen natürlich moderne Techniken, um diese Kathedrale zu bauen – und das interessiert mich nicht. Mich interessiert, wie es war, in einer Zeit, wo es keine Baugerüste aus Stahl gab, wo sie nur Hammer und Meißel hatten und keine elektrischen Werkzeuge. Man hatte damals ja noch nicht mal Papier, um darauf die Konstruktion zu zeichnen. Das war vollkommen anders und so etwas fasziniert mich.
Ich habe in Indien Steinmetze gesehen, die auf eine sehr altmodische Weise arbeiten, die jener der mittelalterlichen Steinmetze wahrscheinlich sehr nahe kommt: Männer, die barfuss auf dem Boden sitzen, mit einem Hammer und einer Meißel den Stein formen. Allerdings ist die indische Architektur, diese alten Festungen und Tempel, nicht so ausgeklügelt wie Gebäude der Gotik. Sie haben nicht diese Gewölbe, die Dächer sind flach und so sind sie viel einfacher in der Konstruktion. Das ist eben noch nicht das, wovon ich träume.

Wie wohnen Sie denn privat?
Follett: Ich habe drei Häuser. Ein kleines, sehr altes in London, welches 1733 gebaut wurde. Dann ein großes viktorianisches Haus, in Stevenage außerhalb von London, das ist im viktorianischen Stil dekoriert. Es gibt viele verschiedene Muster, Ornamente, Gewebtes, Teppiche und Vorhänge, was typisch ist für die viktorianische Zeit. Und dann habe ich ein Strandhaus in Antigua, wo alles weiß und türkis ist – weil das am Strand gut aussieht.

Ihr Buch „Die Tore der Welt“ wird als Fortsetzung des Bestsellers „Die Säulen der Erde“ betitelt. Die Verbindungen zwischen den alten und den neuen Romanfiguren wirken allerdings sehr konstruiert. Ist „Fortsetzung“ nur ein Marketing-Trick?
Follett: Nein. Die Bücher hängen schon sehr miteinander zusammen. Die Geschichte findet am gleichen Ort statt, die Stadt hat sich nicht besonders verändert, die Kathedrale und das Priorat stehen immer noch im Zentrum der Handlung.
Und es ist ein Buch von ähnlicher Länge, es funktioniert auch auf die gleiche Weise: die Beziehung zwischen den fiktionalen Figuren und dem historischen Hintergrund ist der gleiche.

Sie haben also auf ein bewährtes Rezept gesetzt.
Follett: Ich wollte den Leuten noch einmal jene Erfahrung ermöglichen, die ihnen bei „Die Säulen der Erde“ so gefallen hat. Das war meine Zielsetzung und ich glaube, dass die Leser das auch so wollen. Viele haben mich gefragt: Warum schreiben Sie nicht eine Fortsetzung? Oder: Warum schreiben Sie nicht noch ein Buch wie „Die Säulen der Erde“? Dass die Figuren jetzt eher entfernt miteinander verwandt sind, ist – glaube ich – unwichtig. Es liegen ja 200 Jahre dazwischen, da sind die Linien der Abstammung eben sehr lang…

…und allein deshalb hätten Sie doch eine ganz andere Geschichte schreiben können, die im Mittelalter spielt und die Pest zum Thema hat.
Follett: Sie meinen in einer anderen Stadt? Ja, ich hätte mir auch eine andere Stadt ausdenken können für diese Geschichte. Aber was hätte das für einen Sinn gemacht? Ich habe ja schon eine Stadt erschaffen, die meine Leser kennen und mögen. Und sie ziehen es vor, zurückzukehren in eben diese Stadt, als einen völlig neuen Ort kennen zu lernen.
Natürlich hätte ich ein Buch schreiben können, ohne auf die Verbindung der Figuren zu den vorherigen Figuren in „Die Säulen der Erde“ einzugehen. Aber dann hätten Leser mir E-Mails geschickt, und mich gefragt: Stammen diese Personen von den alten Romanfiguren ab? Wer stammt von wem ab? usw. Und dann hätte ich ihnen so oder so Antworten geben müssen.

Sie haben regen Kontakt mit Ihren Lesern?
Follett: Ja. Ich habe zum Beispiel vor der Veröffentlichung von „Die Tore der Welt“ ein paar Informationen darüber auf meine Website gestellt: Ich habe geschrieben, dass die Charaktere Nachfahren von Jack und Tom Builder sind. Und ein sehr aufgeweckter Leser schrieb mir: Von welchem Kind von Tom Builder stammen sie ab? Denn in „Die Säulen der Erde“ stirbt Toms erster Sohn Alfred, ohne Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Der zweite Sohn, Jonathan, war ein Mönch – also sah es nicht so aus, dass er jemals Kinder haben würde. Und Martha, Toms Tochter, bleibt in „Die Säulen der Erde“ ledig. Also, wer von Ihnen hatte Kinder? – Das war ein Problem für mich (lacht). Aber zum Glück war Martha am Ende der Geschichte immer noch jung genug, um zu heiraten und Kinder zu kriegen. Also, alle stammen von Martha ab.

Bei Ihrer Lesung in Berlin sprachen Sie über die Unterschiede zwischen Geschichtsbüchern und Ihren historischen Romanen. Was meinen Sie: Sollten Kinder Bücher wie „Die Säulen der Erde“ oder „Die Tore der Welt“ in der Schule lesen?
Follett: Ich würde mich sehr darüber freuen. Manche Lehrer empfehlen ihren Schülern bereits meine historischen Romane, besonders „Die Säulen der Erde“. Manchmal gibt es Kontroversen, denn einige Eltern sagen, dass diese Bücher zu erwachsen sind für 15jährige Schüler. Normalerweise sind das sehr religiöse Eltern. Die streiten sich dann mit Lehrern, die meinen, dass Schüler durch die Lektüre ihren Horizont erweitern können. Ich bekomme das mit, weil solche Debatten in den Zeitungen stehen und die Leute schreiben mir. Sie fragen mich: Denken Sie, dass Kinder Ihre Bücher lesen sollten?

Ab welchem Alter sollten Kinder Ihre Bücher lesen?
Follett: Sobald die Fähigkeit zu lesen ausreichend ist, um ein Buch wie „Die Säulen der Erde“ zu lesen, dann sollte ein Kind es tun. Aber Kinder, die jünger als – sagen wir – 14 Jahre sind, würden es etwas schwierig zu lesen finden. Ich schreibe zwar ziemlich einfach, aber dennoch würde ein Kind unter 14 sich wahrscheinlich mit einigen Sätzen und einem Teil des Vokabulars abmühen.

Wären die Sex- und Gewaltszenen auch ein Problem für junge Leser?
Follett: Nein, sie lieben diese Szenen. (lacht) Vielleicht mögen ihre Eltern sie nicht, aber die Kinder schon. Ich denke nicht, dass das wirklich ein Problem ist. Beziehungsweise: Das Problem löst sich von selbst. Denn in dem Alter, wo sie dieses Buch lesen können, sind sie auch alt genug, es zu verstehen. Ein elfjähriges Kind dagegen würde manche Emotionen der Erwachsenen in „Die Säulen der Erde“ nicht verstehen und sich dann langweilen.

Vielleicht schreckt auch der Umfang der Bücher jüngere Kinder ab?
Follett: Allerdings! Nicht viele Kinder lesen Bücher mit 1000 Seiten und mehr. Meine Enkelin ist vierzehn und sie hat einige meiner Bücher gelesen. Aber „Die Säulen der Erde“ hat sie noch nicht gelesen: Es ist ein bisschen zu lang für sie.

Sie haben Ihre Sprache gerade als ziemlich einfach bezeichnet. Muss die Sprache einfach sein, wenn man einen Bestseller schreiben möchte?
Follett: Meiner Meinung nach sollte jeder so klar wie möglich schreiben. Das hat nichts mit dem Schreiben von Bestsellern zu tun. Im Grunde ist Schreiben eine Form der Kommunikation. Man will, dass der Leser versteht. Also sollte die Struktur der Sätze so beschaffen sein, dass die Bedeutung sich sofort offenbart. Das scheint mir eine grundlegende Regel zu sein. Ich würde nie wollen, dass jemand einen meiner Sätze zwei Mal lesen müsste. Ich weiß, nicht alle Schriftsteller richten sich nach dieser Regel. Marcel Proust hat diese Regel ganz sicher nicht befolgt. (lacht)

Aber zeigt sich nicht gerade an der Sprache, wie sehr ein Autor Literatur als Kunstform begreift?
Follett: Nein, da würde ich Ihnen nicht zustimmen. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich denke nicht, dass übermäßig komplexe Satzstrukturen irgendetwas zur Kunstform beitragen.

Aber es gibt auch noch etwas zwischen „übermäßig komplex“ und „ziemlich einfach“. Viele Autoren schreiben in einer sehr kunstvollen Sprache, sie verwenden Sprache als ein eigenes Stilmittel.
Follett: Ganz bestimmt, aber das ist nicht meine Art. Wobei es mir jetzt gar nicht um kurze Sätze geht – die kann jeder schreiben, das ist einfach. Es gibt Beispiele von langen Sätzen, die komplizierte Gedanken ausdrücken, aber dabei immer noch sehr klar sind. Das beste Beispiel für mich ist der Essay am Anfang des 20-bändigen Oxford English Dictionary. Darin findet man diese langen majestätischen Sätze. Doch sie sind sehr klar geschrieben und man kann sie sofort verstehen. Viele Schriftsteller entwerfen Sätze, die es einem wirklich schwer machen, sie zu verstehen. Und manche von ihnen denken sicher, sie seien sehr schlaue Schriftsteller, weil sie so schwer zu verstehen sind. (lacht)

Haben Sie einen bestimmten Leser oder Lesertypus im Kopf, für den Sie schreiben?
Follett: Nein. Ich denke, selbst meinen intelligentesten Lesern sollte ich den Gefallen tun, dass meine Sprache sehr einfach zu verstehen ist.

Es gibt Mainstream in der Musik und im Kino. Was ist Mainstream für Sie in der Literatur?
Follett: Das ist heutzutage etwas schwierig. Es werden so viele Bücher veröffentlicht und es gibt so viele Genres: Wir haben Krimis, Thriller, Science Fiction und Fantasy, Liebesschnulzen, historische Romane… Aber ich habe festgestellt, dass die Leser selbst sich kaum um solche Unterscheidungen kümmern. Die meisten lesen eine ganze Menge verschiedener Sachen. Sie lesen Bestseller, Thriller etc. Sie genießen alles, ohne das Gefühl zu haben, Grenzen zu überschreiten. Es sind vor allem Journalisten, die gerne solche Unterscheidungen vornehmen.

Sie haben als Wahlkämpfer für die Labour-Partei Erfahrungen in der Politik gesammelt. Inwiefern hilft Ihnen das beim Schreiben von politischen Szenen?
Follett: In „Die Säulen der Erde“ und „Die Tore der Welt“ wählen die Mönche einen neuen Prior. Obwohl es nur 25 Mönche sind, die wählen, anstatt 25 Millionen Menschen, konnte ich beim Schreiben dieser Szenen das nutzen, was ich über moderne politische Wahlen gelernt habe. Wie Menschen danach streben, die Gunst verschiedener Menschen zu gewinnen und versuchen, sich selbst zu positionieren…

Können Sie das konkreter erklären? Gibt es bei realen Wahlen beispielsweise auch solche Intrigen wie in Ihren Büchern?
Follett: Es gibt immer Intrigen bei Wahlen. Wahrscheinlich ist es bei den Wahlen eines Klostervorstehers noch schlimmer, denn es sind so wenige Leute. Dass man sich gegenseitig in den Rücken fällt, dass Leute ihr Versprechen brechen, das geschieht in einem Kloster wahrscheinlich noch viel häufiger. Denn bei großen allgemeinen Wahlen in Ländern wie Deutschland oder Großbritannien ist nicht viel geheim. Alles ist öffentlich, man weiß, wer was die ganze Zeit macht. Eine moderne politische Wahl ist sicherlich ein bisschen ehrlicher und aufrichtiger als eine mittelalterliche Mönchswahl.

Sie sind Präsident der Wohltätigkeitsorganisation „Dyslexia Action“. Worum genau geht es bei dieser Organisation?
Follett: Von Dyslexie sind Menschen betroffen, die es sehr schwer haben, lesen zu lernen. Es wurde früher auch „Wortblindheit“ genannt. Dyslexiker haben eine schreckliche Schulzeit: Sie versuchen lesen zu lernen und denken oft, dass sie dumm sind. Aber in der Regel sind sie es nicht. Meistens sind Kinder betroffen, manchmal aber auch Erwachsene. Dyslexie kennt man seit etwa 40 Jahren und jetzt weiß man, was genau man dagegen tun kann. Alle Dyslexiker können lesen und schreiben lernen und „Dyslexia Action“ sammelt Geld, um das zu bezahlen. Die Eltern kommen zu uns und sagen: Mein Kind lernt nicht lesen und die Schule weiß nicht, wie sie meinem Kind helfen soll. Wir testen dann das Kind, denn es gibt verschiedene Formen der Dyslexie. Wir finden heraus, was genau das Problem ist und dann bringen wir ihnen das Lesen bei. Das ist sehr teuer. Wenn die Eltern Geld haben, dann zahlen sie dafür und wenn nicht, versuche ich Geld für sie zu sammeln. Außerdem rede ich im Fernsehen über Dyslexie. Ich bin so eine Art prominenter Sprecher der Organisation. Aber hauptsächlich sammle ich Geld.

Ist das Fernsehen vielleicht eine der Hauptursachen für Dyslexie?
Follett: Nein, ich bin sicher, dass es das nicht ist. Ich habe gerade eine Biographie von Woodrow Wilson gelesen, der Präsident der USA war während des Ersten Weltkriegs. Und es sieht danach aus, dass er Dyslexiker war, auch wenn man das Wort dafür damals noch nicht kannte. Er konnte bis zu seinem 11. Lebensjahr nicht lesen und hatte große Schwierigkeiten, lesen zu lernen. Er war auch für den Rest seines Lebens ein langsamer Leser – und das, obwohl er ein extrem kluger Mann war. Er hat viele Bücher über Politik geschrieben, die sich sehr gut verkauft haben.

Aber ist es nicht zumindest so, dass Kinder heutzutage weniger lesen als beispielsweise noch vor 50 Jahren, aufgrund der technologischen Entwicklung, die um sie herum geschieht?
Follett: Ich glaube nicht, dass das so ist. Kinder lesen eine Menge –Dank J.K. Rowling. Sie hat es geschafft, dass Kinder samstags um sieben Uhr morgens vor dem Buchladen Schlange stehen, um den neuesten Harry-Potter-Band zu bekommen. Kinder lesen viel. Wir bemerken heute nur eher diejenigen, die nicht lesen lernen, weil sie dadurch in große Schwierigkeiten kommen. Vor 50 Jahren war es nicht so ein großes Problem, wenn man nicht lesen konnte. Man konnte trotzdem viele Berufe ausüben und Geld verdienen, ohne jemals lesen und schreiben lernen zu müssen. Aber solche Jobs gibt es nicht mehr.
Ich glaube nicht, dass das Fernsehen Kinder daran hindert, lesen zu lernen. Ich denke sogar, dass Fernsehen generell recht gut für Kinder ist, denn es erweitert ihren Horizont. Sie bekommen die Nachrichten mit, sie erfahren etwas über fremde Länder, sie lernen im Fernsehen über die Natur und Wissenschaft. Fernsehen ist hervorragend für Kinder.

Was ist dann der Grund dafür, dass manche Kinder nicht lesen lernen?
Follett: Viele Kinder wachsen in Haushalten auf, in denen mit ihnen nicht besonders viel gesprochen wird. Und wenn sie dann in die Schule kommen, können sie nur sehr schlecht sprechen. Und sie hören nicht richtig zu. Sie wissen nicht, dass sie aufhören müssen, mit dem was sie tun, wenn Erwachsene mit ihnen reden – dass man sie anguckt und zuhört, aufnimmt, was sie sagen und versteht. Und wenn man diese Kinder etwas fragt, dann wissen sie nicht, wie sie antworten sollen. Zum Beispiel: Was hast du am Wochenende gemacht? Dann sagen sie: „Gespielt“. Sie wissen nicht, wie man sagt: „Meine Großmutter ist mit mir einkaufen gegangen und wir haben eine neue Jeans gekauft.“ Sondern es kommt nur ein Wort. Und das sind die Kinder, die langsam lesen lernen; die in die Schule kommen, ohne richtig sprechen zu können, weil sich zu Hause niemand mit Ihnen unterhält. Mit dem Fernsehen hat das glaube ich nichts zu tun. Es hat mit dem Zuhause zu tun und der Art, wie sie erzogen werden.

Eine Schlussfrage: Das Leben ist ein Comic, welche Figur sind Sie?
Follett: Ich liebe diesen Snoopy-Comic, in dem er einen Roman schreibt, es gibt eine ganze Serie über ihn als Schriftsteller. Er sitzt auf seiner Hundehütte mit einer Schreibmaschine und sein erster Roman beginnt mit den Zeilen: „Die Nacht war finster und stürmisch. Irgendwo fiel ein Schuss. Eine Frau schrie. An der Straßenecke hat das kleine Blumenmädchen den ganzen Tag nicht eine einzige Blume verkauft. Derweil rettete ein junger Doktor in einem großen städtischen Krankenhaus das Leben eines Kindes.“ Das war der erste Absatz. (lacht)

Und an diese Zeilen erinnern Sie sich so genau?
Follett: Ja, weil Snoopy kennt alle spannenden Dinge, die in einem Roman passieren müssen. Aber er denkt, man müsste sie alle in den ersten Absatz packen. (lacht)

Ein Kommentar zu “Ich lebe tagsüber im Mittelalter”

  1. helga Eberle |

    Ken Follett das Interview

    Alles über Ken Follett interessiert uns. Wir sind eine Literatur-AG im Seniorenstudium der Pädagogischen Hochschule in Freiburg. „Die Säulen der Erde, Sturz der Titanen, Winter der Welt, Die Nadel, Der Dritte Zwilling.
    Ken Follett begeistern uns, weil er unsere erlebte Geschichte aufleben lässt und dabei uns auch mit seiner bildhaften Sprache in Spannung hält.
    Die Sen.Studies würden gern Ken Follett schreiben. Gibt es eine Adresse?
    Mit freundlichen Grüßen
    Helga Eberle, AG Moderatorin

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