Peter Cüppers

Ich verhindere groben Unfug.

Peter Cüppers ist 88 Jahre alt und aktiver Wikipedia-Autor, mehr als 19.000 Mal hat er in der Online-Enzyklopädie etwas verfasst, verbessert oder ergänzt. Ein Gespräch über 'oma-taugliche' Artikel, Diskussionen unter den Autoren und wie er sich als Zeitzeuge einbringt.

Peter Cüppers

© privat

Herr Dr. Cueppers, ich las kürzlich Ihren Spendenaufruf für die Wikipedia …
Peter Cüppers: Ja, den habe ich letztes Jahr frei von der Leber weg geschrieben. Offenbar war er ganz erfolgreich.

Sie schreiben darin, dass Sie bereits 19.000 Mal etwas in der Wikipedia verbessert haben.
Cüppers: Ja, Wikipedia zählt das. Im Schnitt waren es acht Änderungen pro Tag. Dazu zählen aber auch die Beiträge auf Diskussionsseiten, die machen bei mir ungefähr die Hälfte meiner Einträge aus. Ich bin fast jeden Tag bei Wikipedia.

Wie begann Ihre Mitarbeit?
Cüppers: Das war 2006. Ich saß am Computer und wollte ein Wort im Lexikon nachschlagen, war allerdings zu faul, aufzustehen. Also blieb ich am Computer, weil ich mir sagte, das muss es doch eigentlich auch im Internet geben. Als ich dann den Wikipedia-Artikel las, bemerkte ich einen Kommafehler, ich habe auf ‚Bearbeiten‘ geklickt und dann war´s geschehen.
Ich habe dann immer weiter in der Wikipedia gelesen. Wann immer ich ein neues Lexikon in der Hand habe, lese ich zuerst Artikel über Dinge, bei denen ich mich gut auskenne, um zu prüfen ob das Lexikon in Ordnung ist. So bin ich dann auch verschiedene Wikipedia-Artikel aus meinem Fachgebiet durchgegangen.

Sie sind von Beruf Chemiker…
Cuppers: Ja, die Artikel in dem Bereich waren ganz in Ordnung, aber ich entdeckte hier und da auch einige Fehler, die ich dann verbessert habe.

Fiel Ihnen das leicht?
Cüppers: Ja, einen Artikel zu bearbeiten ist sehr einfach. Zusätzlich hat jeder Artikel eine Diskussionsseite, wo ich Dinge reinschreibe, die ich in Erinnerung habe, damit später jemand, der das genau weiß oder belegen kann, es in den Artikel schreiben kann. Auch meine Fragen, die ich an den Artikel habe, schreibe ich auf die Diskussionsseite.

Und das also beinahe täglich?
Cüppers: Ja, bei mir hat es den Effekt gehabt, wie bei vielen anderen auch: Wikipedia macht süchtig. Man muss sich selbst bremsen, nach meinen ersten 20 Änderungen habe ich erst mal eine Pause eingelegt.
Für mich wurde es auch insofern eine erfüllende Beschäftigung, weil ich am Computer sitzend meine Frau im Blickfeld hatte, die Parkinson hatte und die ich gepflegt habe. Ich musste mich also immer in ihrer Nähe aufhalten.

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Besonders bei Mathematikern und Physikern merke ich, dass diese ihre Artikel in Fachchinesisch verfassen, was niemand versteht.

Peter Cüppers

Wie blicken Sie auf Ihre eigene Studienzeit, wenn Sie diese mit dem Lernen im heutigen Internetzeitalter vergleichen?
Cüppers: Es wäre ganz wichtig gewesen, wenn es die Wikipedia zu meiner Studienzeit schon gegeben hätte. Ich hatte mir als Student selbst eine kleine Kartei angefertigt, mit Erklärungen verschiedener chemischer Begriffe oder Stoffe, alphabetisch sortiert. Ich habe das aber leider nicht fortgesetzt, weil es einfach zu viel wurde, die neuen Wörter, die man an den Kopf geworfen bekam, überschlugen sich ja während der Vorlesungen.

Wie sieht die Arbeit in der Redaktion Chemie aus, in der Sie Mitglied sind?
Cüppers: Wir haben eine Diskussionsseite für die Redaktion. Dort werden Dinge besprochen und Fragen geklärt wie: Bringen wir ein bestimmtes Thema überhaupt? Wenn ja, wie? Wir helfen uns auch gegenseitig, wenn beispielsweise jemand einen Fehler in einem Artikel entdeckt aber nicht weiß, wie es richtig ist. Wir diskutieren dann, um eine optimale Lösung zu finden. Die Redaktion Chemie trifft sich außerdem einmal im Jahr irgendwo in Deutschland, um sich persönlich kennenzulernen.

Wie verlaufen denn die Debatten unter Wiki-Autoren? Internetforen können ja auch sehr rau im Ton sein…
Cüppers: Das kommt durchaus vor, manchmal kann ein Streit etwas eskalieren. Gelegentlich wird man angegriffen, für etwas, was man geschrieben hat. Das sind zum Teil sehr dauerhafte Geplänkel, teilweise auch unschön. Aber wenn es zu schlimm wird, gibt es in der Wikipedia Schlichtungsmechanismen, die man dann in Anspruch nimmt, es gibt auch ein Schiedsgericht. Dort werden solche Konflikte dann endgültig bereinigt.

Schreiben Sie auch selbst ganze Artikel?
Cüppers: Ich habe insgesamt etwa zehn Artikel verfasst. Zum Beispiel über den Literaturnobelpreisträger von 1917, Karl Adolf Gjellerup. Er gehört zur Familie, war aber noch nicht in der Wikipedia, deshalb habe ich einen Artikel für ihn geschrieben.

In welchen Wissensgebieten sind Sie heute in der Wikipedia unterwegs?
Cüppers: Vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich. Kürzlich habe ich die Artikel Kernfusionsreaktor und Fusionsenergie sprachlich auf Vordermann gebracht. Manchmal verbessere ich aber auch Grammatikfehler in Artikeln über Dinge, von denen ich gar nichts verstehe.

Sie erwähnten bei unserem ersten Telefonat, dass Sie die Artikel „Oma-tauglich“ machen wollen. Was heißt das für Sie?
Cüppers: Das Wort ‚Oma-tauglich‘ ist Wikipedia-Jargon und meint nicht die reale Oma sondern den Leser ‚
Ohne Mindeste Ahnung‘. Besonders bei Mathematikern und Physikern merke ich, dass diese ihre Artikel in Fachchinesisch verfassen, was niemand versteht. Daraus eine ‚Oma-taugliche‘ Version zu machen heißt also, den Artikel so aufzubereiten, dass ihn auch jemand lesen kann, der auf dem Gebiet kein Experte ist. Es muss verständlich sein. Wenn in der Einleitung ein Fremdwort mit sieben anderen Fremdwörtern erklärt wird, dann hat kein Mensch etwas davon. Oder wenn ein Fremdwort benutzt wird, bevor es erklärt wird. Oder wenn ich einen Satz zweimal lesen muss, um ihn zu verstehen, stimmt etwas daran nicht.

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Reden Sie mit Altersgenossen über Wikipedia oder das Internet? Was sagen die zu Ihrer Tätigkeit?
Cüppers: Ich kommuniziere sehr viel mit anderen Autoren auf den Diskussionsseiten in der Wikipedia, das ist aber nicht meine Altersklasse. Aus meiner Schulzeit kommen gerade noch drei zum jährlichen Klassentreffen. Die wissen zwar, dass ich bei Wikipedia tätig bin, ich habe aber nie versucht, sie auch dorthin zu bringen. Ich glaube, die gehen gar nicht ins Internet.

Wie lange brauchen Sie, um einen Wikipedia-Artikel zu verfassen?
Cüppers: Das zieht sich immer eine ganze Weile hin, weil ich phasenweise daran arbeite. Bei der Wikipedia ist es außerdem so, dass man anfängt, dann aber andere eingreifen können mit ihren Ideen, wodurch der Artikel dann wächst.

Nervt es nicht manchmal, wenn immer jemand dazwischen pfuscht?
Cüppers: Manchmal schon. Dann muss man demjenigen erklären, dass das, was er da schreibt, Unsinn ist, woraus sich auch Streit entwickeln kann. Zum Beispiel, wenn jemand nicht einsieht, dass ich als Zeitzeuge über die NS-Zeit einiges besser weiß.
Ich würde nicht bei Wikipedia bleiben, wenn jedes Mal wenn ich etwas schreibe, ein anderer es verbessern würde. Ich kann sagen, dass weit über 90% meiner Beiträge Bestand haben.

Sie haben das Nazi-Regime erlebt und waren nach dem Krieg in sowjetischen Speziallagern inhaftiert…
Cüppers: Ja, ich war Mitglied der Hitlerjugend. Dort habe ich technischen Unterricht gegeben, ab dem Alter von 16 Jahren. 1945 war ich dann bis 1948 in sowjetischer Internierung, anschließend bin ich sofort in den Westen gegangen.

Beschäftigen Sie sich denn mit den Wikipedia-Artikeln zur NS-Zeit?
Cüppers: Ja. Ich verhindere dabei meistens groben Unfug. Das Wissen von Zeitzeugen ist aber leider nur selten gefragt, weil wir unser Wissen schlecht belegen können.

Was meinen Sie mit ‚grobem Unfug‘?
Cüppers: Wenn man z. B. über den Nationalsozialismus schreibt, braucht man Belege. Dann werden Historiker zitiert, die über den Nationalsozialismus geschrieben, ihn aber nicht erlebt haben. Die Historiker stellen alles negativ dar, es darf um Gottes Willen nichts Positives drin stehen. Zum Beispiel, dass das Bruttosozialprodukt 1932 minus zehn Prozent und 1933 plus zehn Prozent betrug; dass damals die Zahl der Neugeborenen rasant in die Höhe stieg, so etwas will heute keiner mehr wahr haben oder es wird unterschlagen.
Ich kann sagen, dass ich in der Hitlerjugend eine glückliche Zeit hatte. Dieser Aspekt kommt jedoch überhaupt nicht vor. Man tut immer so, als wäre das alles zwangsweise geschehen, dabei habe ich das wie die meisten anderen freiwillig und gerne gemacht. Die Gesamttendenz ist also recht verbogen. Das betrifft alle Artikel über das Dritte Reich.

Nun sprechen wir aber über eine Zeit, in der in Deutschland Millionen von Menschen ermordet wurden. Ist der Blick der Historiker nicht klarer gegenüber Zeitzeugen, die zur NS-Zeit häufig Opfer der staatlichen Propaganda gewesen sind?
Cüppers: Sicher hat der Staat nicht über die Konzentrationslager und seine sonstigen Verbrechen geredet, um vor dem Volk gut dazustehen. Dagegen gab es die Sondermeldungen der Wehrmacht über alle Erfolge – das Negative wurde verschwiegen. Ich als Kind habe damals nichts davon gewusst, meine Eltern haben ein bisschen davon gewusst.
Ich stimme Ihnen zu, dass die Historiker hier sehr wichtig sind und dass alles richtig ist, was die berichten. Mir scheint allerdings, dass sie oft nur die negativen Dinge in dieser Zeit suchen und diese darstellen.

Angenommen, das Internet hätte bereits zur Zeit der deutschen Teilung existiert – wäre das Ende der DDR womöglich früher gekommen?
Cüppers: Ja, das kann ich mir vorstellen. Andererseits wäre das Internet in der DDR so streng bewacht worden, wie heute in China. Jede anti-staatliche Äußerung im Internet hätte dazu geführt, dass die Stasi eingreift.

Kann Wikipedia die Welt vielleicht auch ein wenig friedlicher machen?
Cüppers: Durchaus. Das betrifft vor allem die freie Information. Die Wikipedia stellt ja das Wissen frei zur Verfügung. Man kann daraus Schulunterricht abhalten und alles nachgucken, was man in der Schule gehabt hat. In Ländern, wo die Schulbildung nicht so gut ist wie in Deutschland, ist die Wikipedia sehr von Vorteil. Es gibt sie in 77 Sprachen. Da sind Sprachen aus Entwicklungsländern und armen Ländern wie beispielsweise Nepal dabei. Ich habe gerade gelesen, dass in Nepal das durchschnittliche monatliche Einkommen 18 Euro beträgt. Kann sich jemand das hier überhaupt das vorstellen? Solche Länder können sich kaum Schulen leisten, wie soll dann das Wissen unter die Leute kommen? Da ist Wikipedia sicherlich sehr hilfreich.

Sie haben auch schon mal Ihrem Enkel beim Anlegen eines Artikels geholfen. Ist er dabei geblieben?
Cüppers: Im Alter von zehn Jahren hat er in der Schule von einer Geschichte aus dem Ort erfahren, die noch nicht in Wikipedia stand. Daraufhin habe ich ihm beigebracht, wie man das in einen Wikipedia-Artikel einbringt. Aber im Alter von zehn, elf Jahren gibt es viele Interessen und man ist auch sehr sprunghaft. Aus ihm ist also kein ständiger Wikipedia-Mitarbeiter geworden.

Wir sprachen eingangs über Ihren Spendenaufruf. Was würde passieren, wenn Wikipedia ihr Modell auf Finanzierung durch Werbung umstellen würde?
Cüppers: Das ist völlig unerwünscht. Dann käme eine Abhängigkeit zustande, die wir nicht wollen. Um diese Abhängigkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen, ist jede Form von Werbung und die Finanzierung dadurch unerwünscht. Wikipedia erhält mehrere Millionen Spenden pro Jahr.

Herr Dr. Cüppers, wir sind am Ende des Gesprächs…
Cüppers: Nein, sind wir noch nicht, denn ich muss noch etwas loswerden: Ich würde jeden Senior auffordern und ihm wünschen, sich mal an der Wikipedia zu versuchen. Die Generation der Senioren ist gefragt mit ihrem Wissen. Es ist eine erfüllende Beschäftigung im Alter, die ich jedem empfehlen kann.

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