Nizaqete Bislimi

Die Politik sollte nicht spalten.

Nizaqete Bislimi kam 1993 als Flüchtling aus dem Kosovo nach Deutschland, heute arbeitet sie als Anwältin für Ausländerrecht und Asylrecht. Im Interview spricht sie über Willkommenskultur, institutionellen Rassismus, die Einteilung in 'gute' und 'schlechte' Flüchtlinge, rechte Gewalt und eine typisch deutsche Eigenschaft.

Nizaqete Bislimi

© Franz Brück

Frau Bislimi, wie sehr identifizieren Sie sich mit Deutschland?
Bislimi: Ich habe in Deutschland deutsches Recht studiert und bin deutsche Staatsbürgerin. Deutschland ist meine Wahlheimat. Deshalb identifiziere ich mich vollständig mit diesem Land.

Sie sind mit 14 Jahren – während des Bosnienkrieges und dem damit einhergehenden Druck auf Minderheiten in der Region – aus dem Kosovo nach Deutschland geflohen. Was war damals der ausschlaggebende Grund, dass Sie sich für Deutschland entschieden haben?
Bislimi: Die Entscheidung lag damals nicht bei mir, sondern bei meinen Eltern. Warum es gerade Deutschland sein sollte – das kann ich Ihnen nicht sagen.

Ihre Familie ist der drohenden Abschiebungen mehrmals entgangen. Wie haben Sie das geschafft?
Bislimi: Unser Asylantrag wurde zunächst abgelehnt. Allerdings wurde uns der negative Bescheide des Bundesamtes nicht ordnungsgemäß zugestellt. Wir erhielten dann einen Bescheid der Ausländerbehörde, in dem wir aufgefordert wurden Deutschland zu verlassen. Anderenfalls wurde uns die Abschiebung angedroht. Mit diesem Bescheid sind wir dann zum Rechtsanwalt gegangen. Er hat einen Asylfolgeantrag gestellt. Die Prüfung nahm einige Zeit in Anspruch und wurde abgelehnt. Dagegen sind wir aber gerichtlich vorgegangen. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde der Bescheid in dem Asylfolgeverfahren aufgehoben und der Bescheid im Asylerstverfahren ordnungsgemäß zugestellt. Gegen diesen Bescheid haben wir Klage erhoben. Zu der Zeit des Kosovokrieges wurden wir dann aufgrund der Erlasslage in NRW geduldet. Letztlich war also die Zeit unser Freund.

Die Abschiebung scheiterte daran, dass der Bescheid nicht zugestellt wurde. Ein klassischer Verfahrensfehler also?
Bislimi: Es kommt regelmäßig in den Flüchtlingsunterkünften vor, dass die Bescheide nicht ordnungsgemäß zugestellt werden. Der Klage gegen die negative Entscheidung im unseren Asylerstverfahren kam aufschiebende Wirkung zu, so dass wir auch bis zur Beendigung des Klageverfahrens das Recht hatten in Deutschland zu bleiben.
In der Theorie sollen die Bescheide an die betroffenen Personen in den Unterkünften zugestellt werden. In der Praxis landen sie dann oft überall, nur nicht dort, wo sie landen sollten. Wo unser Bescheid damals gelandet ist, weiß ich bis heute nicht.

Zitiert

Einwanderungsgesetze benötigen eine Portion Humanität.

Nizaqete Bislimi

Der Frankfurter Rundschau sagten Sie, dass Ihnen in Deutschland zunächst das Gefühl vermittelt wurde, man wolle Sie hier gar nicht haben. Wie entstand der Eindruck?
Bislimi: Der Eindruck wurde uns von der behördlichen und der menschlichen Seite vermittelt. Den Geflüchteten wurde sehr eindringlich mitgeteilt, dass Anträge aus dem Westbalkan ausnahmslos abgelehnt würden, dass wir also gar keine Chance hätten. Wir haben das natürlich ernst genommen und meine Mutter hatte sich damals überlegt, gar keinen Asylantrag zu stellen. Zum Glück hat sie sich anders entschieden.

Ansonsten haben Sie aber eine Willkommenskultur erlebt?
Bislimi: Wir haben damals viele Menschen kennengelernt, die uns gegenüber offen und aufgeschlossen aufgetreten sind und über Jahre hinweg unterstützt haben. Auf der anderen Seite hat es Anfang der 90er Jahre, viele Bewegungen gegen Asylsuchende gegeben. Brandanschläge sind ja kein neues Phänomen, sie gab es damals schon, etwa in Solingen oder Hoyerswerda. Auch die übliche Stammtischparole „das Boot ist voll“ kommt aus der Zeit.

Wie haben Sie das als Teenager erlebt?
Bislimi: Ich habe wahrgenommen, dass man uns anders – abfälliger – behandelt hat, als die deutschen Kinder. Wir waren in einem Heim am äußersten Stadtrand untergebracht, um in die Stadt zu kommen mussten wir einige Stationen mit dem Bus fahren. Deutsche haben nicht neben uns Platz genommen, selbst bei uns Kindern war das so. Als wir bei der Caritas Kleidung geholt haben, hat sich das fortgesetzt, immer wurden wir komisch beäugt. Zu unseren direkten Nachbarn hatten wir keinen direkten Kontakt. Sie schienen eher genervt davon zu sein, dass wir ständig die Telefonzelle nutzten.

Sie sind in Ihrer Arbeit als Anwältin auf das Asylrecht spezialisiert. Berichten Ihre Mandanten heute von einer Willkommenskultur?
Bislimi: Das hängt zum Teil davon ab, woher sie kommen. Wir erleben leider eine Einteilung in sogenannte „gute“ und in „schlechte“ Flüchtlinge. Erst heute war eine Mandantin aus dem Balkan bei mir, die berichtete, sie bekomme keine Beratung in der Gemeinschaftsunterkunft, weil man dort annehme sie müsse ohnehin in Kürze ausreisen, wenn sie nicht abgeschoben werden wolle. Lieber wolle man den syrischen Flüchtlingen helfen. Die Mandanten erleben auch, dass sich sehr viele Menschen für Flüchtlinge einsetzen. Trotzdem steigt die Besorgnis bei mir und meinen Mandanten, wenn die Zahl der brennenden Flüchtlingsheime weit in die Hunderte geht.

Setzen sich die Leute auch für die sogenannten ’schlechten‘ Flüchtlinge ein?
Bislimi: Ich lehne diese Unterteilung entschieden ab. Ich erlebe Menschen, die sich sowohl für Geflüchtete aus Serbien, Kosovo, Mazedonien oder Albanien als auch für Geflüchtete aus Afghanistan, Irak oder Syrien engagieren. Aber gerade wenn man etwa Sozialarbeiter ist, wird man möglicherweise unter Druck gesetzt, den Menschen weniger zu helfen, von denen man denkt, sie würden sowieso nur für kurze Zeit hier bleiben.

Wird die Einteilung in ‚gute‘ und ’schlechte‘ Flüchtlinge vom Großteil der Bevölkerung vorgenommen?
Bislimi: Ja, das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das von der Politik tagtäglich vorgelebt wird. Selbst unsere Bundeskanzlerin tut das, wenn sie von „Menschen mit guter Bleiberechtsperspektive“ und „Menschen ohne Bleiberechtsperspektive“ spricht. Viele Politiker kategorisieren die Geflüchteten aus dem Westbalkan generell als „Wirtschaftsflüchtlinge“. Für die Gesellschaft ist das absolut kontraproduktiv.

Sie finden, die Politik wird ihrer Rolle in der aktuellen Flüchtlingssituation nicht gerecht?
Bislimi: Aus meiner Sicht, sollte die Politik die Menschen führen. Sie sollte sie nicht unterteilen und spalten. Denn das schafft Stigmata auch innerhalb der Geflüchteten und hetzt sie gegeneinander auf. Auf die Spitze getrieben führt das irgendwann dazu, dass ein Syrer einem Roma vorwirft, er nehme ihm den Platz in Deutschland ungerechtfertigt weg. Das ist kein unwahrscheinliches Szenario, wenn dieser politische Diskurs  so fortgesetzt wird.

bislimi coverDie Politik muss die Zahl der Flüchtlinge bewältigen. Halten Sie es nicht für nachvollziehbar, dass auch eine Kategorisierung stattfindet?
Bislimi: Die Politik muss das bewältigen ohne zu spalten. Zuerst sollte sie aber die Versäumnisse der letzten Jahre einsehen und nachholen. Jahrelang hat sie nur beobachtet, ohne zu reagieren. Und nun ist sie von der Situation überrascht.

Was hat man beobachtet?
Bislimi: Der Krieg in Syrien geht traurigerweise nun in das fünfte Jahr. Die Menschen kommen jetzt, weil sie es in Syrien nicht mehr aushalten, während der „Islamische Staat“ eine Stadt nach der anderen einnimmt. In den Anrainerstaaten sind trotz der Situation die Hilfen für die Flüchtlinge – auch aus unserem Land – massiv gekürzt worden. Die Menschen sehen keinen Ausweg mehr, deswegen kommen sie – und nicht weil irgendein Selfie von Angela Merkel mit einem Flüchtling existiert.

Nun haben wir die Situation, dass die Politik das Vergangene nicht rückgängig machen kann. Es flüchten Menschen aber einerseits, weil sie vom Assad-Regime mit Mörsergranaten massakriert werden und andererseits, weil sie unter enormer Ausgrenzung und wirtschaftlicher Not leiden. Die Kategorisierung ergibt sich doch aus der Situation heraus.
Bislimi: Pauschal überhaupt den Begriff der „Wirtschaftsflüchtlinge” zu nutzen, halte ich schlichtweg für falsch. Wenn jemand zu uns kommt und Schutz sucht, dann müssen wir ihm Schutz gewähren. Das ist nicht nur eine gesellschaftliche Norm, sondern ist durch das Asylrecht und die Genferflüchtlingskonvention eindeutig definiert. Diese schreiben eine individuelle Prüfung der Situation vor, sodass die Gründe für jeden Fall individuell geprüft werden müssen. Die Argumentation, dass alle Geflüchteten aus dem Westbalkan aus wirtschaftlichen Gründen kommen und deswegen pauschal abgelehnt werden müssen, hat dazu geführt, dass Bosnien-Herzegowina, Albanien, Kosovo, Serbien, Mazedonien und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten eingestuft wurden. Die Kausalkette ist aber völlig wirr.

Warum?
Bislimi: Wenn etwa ein Rom in Kosovo kein Leben aufbauen kann, weil er keinen Zugang zur Schule, zur Gesundheitsversorgung, zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt hat und Anfeindungen und Angriffen schutzlos ausgeliefert ist und somit in diesem Land kein Fuß fasst, dann stellt das eine kumulative Verfolgungshandlung dar, die unter der Genfer Flüchtlingskonvention gefasst ist. Diese wiegt genauso schwer wie eine Menschenrechtsverletzung. Nur wird diese Möglichkeit gar nicht mehr geprüft. Einer Romni aus Bosnien-Herzegowina, die aufgrund eines politischen Amtes angefeindet und angegriffen wird, kann man doch nicht aus wirtschaftlichen Gründen ablehnen. Genau das tut man aber. Man diffamiert eine gesamte Bevölkerungsgruppe, ohne sich mit deren Lebensrealität auseinanderzusetzen. Das Recht auf Asyl ist individuell und erlaubt keine vorgelagerte Prüfung.

Die jetzige Gesetzeslage schreibt eine Einzelfallprüfung vor.
Bislimi: Ja, in der Theorie. In der Praxis geschieht das aber nicht. Die Westbalkanstaaten sind als sichere Herkunftsstaaten eingestuft worden. Schon vor dieser Einstufung sind die Anträge massenhaft abgelehnt worden. Das war ja schließlich auch das Argument, diese Staaten als sichere Herkunftsstaaten einzustufen.
Eine persönliche Anhörung eines Antragstellers dauert etwa eine halbe Stunde mit Übersetzung. Und ein negativer Bescheid des Bundesamtes Asylantrag besteht dann aus mehreren Seiten, die überwiegend aus Textbausteinen bestehen, wo nur wenig und oberflächlich auf die vorgetragenen Gründe eingegangen wird.Die niedrigen Anerkennungsquoten sind also hausgemacht.

Sprechen wir da schon von institutionellem Rassismus?
Bislimi: Was die Roma angeht, ja.

Haben Sie vor Gericht schon Erfahrungen mit dieser Art von Rassismus gemacht?
Bislimi: Das kam schon vor. Ich hatte unlängst den Fall einer Romni, die versucht hat darzulegen, warum sie Schutz in Deutschland sucht. Sie hat plausible Gründe dargelegt und eindringlich wiederholt. Der Richter zeigte sich sehr unbeeindruckt und meinte nur: “Sie sagt ja immer das gleiche.“ Schauen Sie sich die Pressemeldungen vom Verwaltungsgericht Düsseldorf an. Da wird von „sinnentleerten Verfahren“ gesprochen, wenn es um die Verfahren von Geflüchteten aus dem Westbalkan geht. Das ist für mich eine subtile Art von Rassismus.

Fühlen sich die Gerichte durch die Gesellschaft unter Zugzwang gesetzt?
Bislimi: Ich denke nicht. Sie malen da ein Bild der Gesellschaft, das so nicht existiert. PEGIDA erwächst eher aus der Unsicherheit der Menschen und weniger aus einem klaren Fremdenhass. Was sie überwiegend in den Medien sehen, sind zumeist in Schlangen stehenden Geflüchtete. Das verängstigt viele und macht sie empfänglich für rechte Parolen.

Doch die Gerichte sind davon unbeeinflusst?
Bislimi: Man kann einem Volljuristen durchaus zumuten, dass er seine Arbeit ordentlich macht, ohne sich von irgendwelchen gesellschaftlichen Zwängen unter Druck gesetzt zu fühlen. Nach meinen Erfahrungen herrscht vielmehr ein Unwillen, sich vernünftig mit den Verfahren von Geflüchteten aus bestimmten Herkunftsstaaten auseinanderzusetzen und die Fälle ordentlich zu bearbeiten. Ich möchte auch nicht allen Gerichten Rassismus unterstellen, wobei Düsseldorf und Regensburg klare Negativbeispiele sind. Die Gerichte fassen die aktuelle Situation als Last auf, obwohl es ihre normale Aufgabe ist, auch solche Fälle zu bearbeiten.

Wird Rassismus heute mehr toleriert als vor zehn Jahren?
Bislimi: Das finde ich nicht, aber die Hemmschwelle einiger weniger, auch üble Taten zu verüben, ist gesunken. Das ist das Ergebnis von nachlässigen Ermittlungen gegen Menschen, die beispielsweise Unterkünfte in Brand setzen. Ich würde mir wünschen, dass diese Personen genauso hart verfolgt werden, wie gegen sogenannte Schlepper vorgegangen wird.

Sie sind heute Vorsitzende des Bundes Roma Verbands. Als Sie nach Deutschland kamen, haben Sie sich zunächst nicht zu Ihrer Identität bekannt. Warum haben Sie sich erst spät dazu entschieden, Ihre Identität auch öffentlich zu kommunizieren?
Bislimi: Das war keine von heute auf morgen getroffene Entscheidung und stand am Ende eines langen Prozesses. Letztlich musste ich erst Jura studieren und Anwältin werden, um das nötige Selbstvertrauen für diesen Schritt zu entwickeln.

Erleben Sie persönliche Anfeindungen?
Bislimi: Ab und zu erhalte ich eine Hassmail. Onlinekommentare lese ich nicht.

Sind Sie Deutschland heute dankbar?
Bislimi: Natürlich bin ich das. Und trotzdem kritisiere ich den Umgang mit den Menschen. Denn wir haben die Möglichkeit, es den Menschen die fliehen schwer zu machen, oder sie willkommen zu heißen. Gehen werden die Menschen in keinem der beiden Fälle. Und trotzdem empfinde ich tiefe Dankbarkeit, denn wäre ich nicht hier, wäre ich womöglich nicht mehr am Leben.

Dem WDR sagten Sie, man müsse Jura studiert haben, um mit den Behörden auf Augenhöhe kommunizieren zu können.
Bislimi: Das habe ich gedacht, einige Jahre nach meiner Ankunft in Deutschland. Heute ist das für viele nicht mehr so, es hängt aber auch von der Lebenssituation der Geflüchteten ab. Für gebildete Geflüchtete wird auch bei den Behörden eine Willkommenskultur geschaffen. Die Kommunikation zwischen Geflüchteten und Behörden kann durchaus funktionieren, wenn das gewollt ist. Ich habe unlängst einen Brief von einem ehemaligen Sachbearbeiter einer Ausländerbehörde bekommen, der mir schrieb, ihm sei aufgetragen worden, Geflüchteten so unfreundlich gegenüberzutreten, dass sie freiwillig gingen. Offenbar steckt auch hinter der Kommunikation mit den Geflüchteten eine Strategie. Ob Kommunikation funktioniert hängt dann in der Regel davon ab, wer ich bin und was ich möchte.

Das klingt nach Willkür seitens der Behörden im Umgang mit Flüchtlingen.
Bislimi: Es gibt verschiedene Bereiche in den Behörden. Dort, z.B wo die Fälle von Studenten und Hochqualifizierte behandelt werden, herrscht ein vergleichsweise freundlicher Umgangston. Ganz schlimm ist es in dem Bereich, in dem die Fälle der Abzuschiebenden bearbeitet werden. Da habe ich manchmal das Gefühl, die Sachbearbeiter sehen es als Lebensaufgabe an einen bestimmten Menschen, um den es ja in seiner Heimat nicht gut bestellt ist, abzuschieben. Dabei haben Behörden oft einen großen Ermessensspielraum, der es den Sachbearbeitern auch erlauben würde, Gnade walten zu lassen.

Doch das geschieht nicht?
Bislimi: Ich habe ein 18-jähriges Mädchen kennen gelernt, dem die Abschiebung drohte. Ihr Bruder war schwerkrank, der Tod war sicher. Das Mädchen besuchte eine Schule, wollte hier Fuß fassen. Aber die Ausländerbehörde hat alles drangesetzt, sie abzuschieben. Ganz nach dem Motto: Wir kriegen auch dich. Man sollte auch in solchen Positionen Mensch bleiben und nicht nur den Fall, sondern auch den Menschen dahinter sehen.

„Ich kenne Dozenten an Universitäten, Studenten, Unternehmer, Ärzte. Doch die meisten geben sich nicht als Roma zu erkennen. Aus Angst vor den alten Stigmata, vor denen sie vor allem ihre Kinder schützen wollen“, sagten Sie der „Welt“. Ist Deutschland immer noch ein Land, in dem Roma der Diskriminierung nur entgehen können, indem sie ihre Herkunft verschweigen?
Bislimi: Leider gibt es in Deutschland nach wie vor einen ganz besonderen Rassismus gegenüber Roma, den Antiziganismus. Schuld daran sind auch die Politiker, die mit Parolen wie „wer betrügt, der fliegt“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ um sich werfen. Damit werden alte Ressentiments bestätigt.

Eine repräsentative Umfrage sagt, dass jeder dritte Deutsche keine Sinti und Roma als Nachbarn haben will.
Bislimi: Durch historischen Konstrukte werden Roma seit Jahrhunderten als „Zigeuner“ diffamiert. Der Grund für solche Stigmata ist eine Kategorisierung seitens der Herrschenden, um gruppenspezifische  Interesse durchzusetzen. In der Historie waren deshalb Roma als Ausspäher tituliert worden. Heute geschieht dies etwa durch Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge. Die Politik hat lange untätig gewartet, bis die Zahl der Geflüchteten stetig gestiegen ist und die Situation schwierig wurde. Unter diesen Geflüchteten sind Schutzsuchende aus dem Balkan, darunter auch Roma und man kann Pseudo-Schuldige benennen, die für die Misere verantwortlich sein sollen. Dabei ist deren Zahl sehr überschaubar.

Welche Verantwortung tragen die Medien im diskriminierenden Umgang mit Sinti und Roma?
Bislimi: Diese spielen durchaus eine gewichtige Rolle. Es gibt leider viel Berichterstattung, die mit antiziganistischen Bildern spielt. Ich verweise auf die Studie von Markus End aus 2014. Er wirft den Medien vor, dass meist ungewollt antiziganistische Stereotypen in den Medien veröffentlicht werden und kaum Sensibilität für antiziganistische Aussagen und Darstellungen vorhanden sind. Das sehe ich auch so.

Ist der Begriff „Zigeuner“ im deutschen Sprachgebrauch überhaupt noch zulässig?
Bislimi: Ich lehne diesen Begriff ab. Das ist eine abfällige Fremdenbezeichnung und dient der Machtausübung durch Stigmatisierung. Unter dem Begriff wurden im Nationalsozialismus Menschen verfolgt und getötet. Dessen sollte man sich bewusst sein.

Die Verbrechen des NSU blieben lange Zeit unentdeckt. Teilen Sie die Auffassung, dass der Verfassungsschutz „auf dem rechten Auge blind“ ist?
Bislimi: Wer die Verfahren verfolgt, kann zu keinem anderen Schluss kommen. Im Gegenteil, das zu verneinen, wäre aus meiner Sicht naiv. Im Fall des Mordes an der Polizeibeamtin Michele Kiesewetter wurde eingangs im „Zigeunermilieu“ ermittelt. Die Akten gibt es heute leider nicht mehr – sie wurden geschreddert. Was soll man dazu noch sagen?

Überrascht es Sie, dass derzeit die rechten Gewalttaten in Deutschland zunehmen – oder haben Sie diese Entwicklung kommen sehen?
Bislimi: Es überrascht mich eher weniger. Aus meiner Sicht ist diese Entwicklung auch ein Produkt der medialen Berichterstattung und der Äußerungen einiger Politiker. Wenn Herr Seehofer in Zusammenhang mit der gestiegenen Zahl der Geflüchteten und der aus seiner Sicht erforderlichen Maßnahmen von „Notwehr“ spricht, dann muss man sich im Klaren darüber sein, dass das die gleiche Argumentation derer ist, die Flüchtlingsheime anzünden. Diese Personen sehen das als gebotene Maßnahme, um der angeblichen Überfremdung in ihren Orten Einhalt zu gebieten.

Ist die Polizei gegenüber Flüchtlingen gewaltbereiter geworden?
Bislimi: Das würde ich so nicht behaupten. Das Problem liegt eher bei den Sicherheitsfirmen, die Asylunterkünfte schützen sollen. Da gab es ja einige unschöne Vorfälle mit Menschen, die sogar rechtsradikale Vorgeschichten hatten.

Deutschland mag wirtschaftlich gesehen in der Lage sein, eine Million Flüchtlinge aufzunehmen. Aber ist Deutschland auch gesellschaftlich gesehen dazu in der Lage?
Bislimi: Wenn man sich die Menschen anschaut, die in Dresden für PEGIDA auf die Straße gehen, kann man möglicherweise daran zweifeln. Allerdings glaube ich nicht, dass diese Menschen repräsentativ für die Gesellschaft sind. Was sind einige Tausend im Vergleich zu allen Bundesbürgern? Ich erlebe sehr viele Menschen, die bereit sind sich für Geflüchtete zu engagieren. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass Deutschland gesellschaftlich in der Lage dazu ist.

Ein Leser (des Bonner Generalanzeiger) fragte kürzlich in einem Kommentar: „Wie soll die Integration arabischer Muslime, von denen mehr als 20 Prozent Analphabeten sind, gelingen, wenn Deutschland es in 50 Jahren kaum geschafft hat, zum Beispiel die türkischen Zuwanderer zu integrieren?“ – Wie würden Sie antworten?
Bislimi: Wir sollten aus dem was der Herr beschreibt lernen. Es gab ja schon bei den Gastarbeitern Versäumnisse. Man hat keine Investitionen in die Integration getätigt und geglaubt, diese würden bald zurück in die Heimat gehen. Nun leben sie in dritter Generation hier. So eine Einstellung darf sich nicht wiederholen. Integration verläuft in zwei Richtungen. Nur wenn ich Integration ermögliche, kann ich auch Integration erwarten.

Angela Merkel äußerte: „Das Asylrecht kennt keine Obergrenze“ – ist Ihrer Meinung nach derzeit ein Einwanderungsgesetz notwendig?
Bislimi: Das wäre zumindest eine klares Signal an unsere Gesellschaft, die dann  verstehen würde, dass auch die Politiker Deutschland als Einwanderungsland begreifen. Einwanderung findet hier doch nicht erst seit gestern statt. Menschen kommen, manche gehen, manche bleiben. Darauf müssen wir uns einrichten. Aus diesem Grund sind aus meiner Sicht die Menschen verunsichert und laufen zu PEGIDA.

© Franz Brück

© Franz Brück

Welche Hoffnungen verbinden Sie mit solch einem Gesetz?
Bislimi: Ich hoffe, dass der Fokus nicht nur darauf gelegt wird, die Menschen zu versorgen, von denen wir auch etwas haben. Einwanderungsgesetze benötigen auch eine Portion Humanität. Heute besteht keine Verknüpfung zwischen Asylrecht und Aufenthaltsrecht, durch ein Gesetz könnte diese hergestellt werden. Wenn man nämlich für eine unqualifizierte Beschäftigung in Deutschland bleiben möchte, ist eine Aufenthaltserlaubnis kaum zu bekommen. Wir müssen akzeptieren dass nicht alle Menschen so qualifiziert sind, wie wir das gerade wollen.

Was halten Sie von der Idee, dass Asylanträge bereits im Herkunftsland gestellt werden sollen?
Bislimi: Wie soll das denn funktionieren? In dem beschrieben Fall würden die Menschen ja während der Prüfung in dem Verfolgerstaat – aus dem sie fliehen möchten – bleiben, wären also in unmittelbarer Nähe zum Verfolger. Sie können sich nicht vorstellen, was manche Staaten anstellen, um die Menschen noch im Ausland zu verfolgen. Daher halte ich es für ein sehr fragwürdiges Instrument, Asylanträge in einem Staat zu stellen, von dem gerade die Verfolgung ausgeht oder der keinen Schutz gewährleisten kann.

Es heißt immer, Zuwanderer sollten sich zu deutschen Werten bekennen. Was sind für Sie typisch deutsche Tugenden – abgesehen von Pünktlichkeit und Ordnung?
Bislimi: Ich weigere mich, so eine Kategorie wie den „typischen Deutschen“ aufzumachen. Denn das gleiche macht man ja mit den Roma. Es gibt nicht den typischen Deutschen. Wobei: Genau das wäre für mich typisch deutsch: dass man alles in Kategorien stecken muss.

[Das Interview entstand im November 2015.]

Nizaqete Bislimi, geboren 1979 im Kosovo, floh während des Bosnienkrieges 1993 nach Deutschland. Hier lebte sie mit ihrer Familie zunächst in Flüchtlingsunterkünften in Düsseldorf und Oberhausen. Nach fünf Jahren in Deutschland machte sie ihr Abitur mehr

Ein Kommentar zu “Die Politik sollte nicht spalten.”

  1. Klaus |

    Respekt, Frau Bislimi. Ich schätze Ihre Aussagen und Ihre Standpunkte sehr.

    In binationaler Ehe lebend haben auch wir eine Vorgeschichte mit den
    Behörden.

    Humanismus ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft. Zumindest war er das: soziale Marktwirtschaft. Das „Soziale“ in der Marktwirtschaft ist m.E. heute rudimentär – Abstieg durch „HartzIV“, Gängelung, Bestrafung, Unterdrückung sind an der Tagesordnung.

    Der Rassismus ist m.E. eine Reaktion auf die eigenen Existenzängste vieler Menschen in DE, die sich selbst an den Rand gedrängt sehen: es wird dann nach den noch Schwächeren getreten usw. usw.

    Eine unsoziale und unsolidarische Gesellschaft führt zu Vereinzelung – und „allein machen sie Dich ein.“

    Wir sind alle Menschen. So sieht es doch aus.

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