Maria Schrader

Alles darf umgedichtet werden.

Historisch sehr genau zeigt Maria Schrader in „Vor der Morgenröte“ einige Momente in den letzten Lebensjahren Stefan Zweigs. Gleichzeitig verteidigt die Schauspielerin und Regisseurin für Biopics die Kunstfreiheit. Ein Gespräch über das Recht auf Umdichtung, Verantwortung der Filmemacher, Unwahrheiten in „The Danish Girl“ und Stefan Zweigs Vision vom freien Europa.

Maria Schrader

© X Verleih / Mathias Bothor

Frau Schrader, das Leben Stefan Zweigs ist hollywoodreif: Seine Flucht und Emigration nach Südamerika, sein Weltruhm als Schriftsteller, seine Frauen, der Suizid – all das scheint wie geschaffen für ein hochdramatisches Biopic. Warum hat das noch niemand gemacht?
Schrader: Keine Ahnung.

Vielleicht gab es Verwandte, die sich dem entgegengestellt haben?
Schrader: Nein, das glaube ich nicht. Davon hätten wir im Zuge unserer Recherche erfahren. Es gibt eine Nichte von Lotte Zweig, Eva, sie lebt in England und war zumindest bei Publikationen immer hilfsbereit. Ich weiß von einem brasilianischen Film, in dem Rüdiger Vogler Stefan Zweig spielt, den hat aber kaum jemand gesehen, auch ich kenne nur Ausschnitte.
Stefan Zweig war eine ambivalente Figur, ein Held im klassischen Sinn war er sicher nicht. Vielleicht taugt er gar nicht zu dem „Pauken und Trompeten-Biopic“, wie Sie es beschreiben.

Zitiert

Ein Film macht uns was vor und wir spielen das Spiel mit.

Maria Schrader

Mögen Sie Biopics?
Schrader: Tatsächlich selten. Manchmal habe ich den Eindruck, in einem 90-minütigen Trailer zu sitzen. Ich fliege drüber weg, schaue aus der Vogelperspektive, es gibt so viele Stationen, so viele Informationen unterzubringen, dass ich bei der Person selbst nie wirklich ankomme. Die Gefahr liegt nahe, eine Biografie, die ja von Zufällen, Widersprüchen und Unwägbarkeiten mitbestimmt ist, in kausale Zusammenhänge zu zwängen. Der Versuch, eine klassische melodramatische Dramaturgie – mit Zielführung, mit Erfüllung, mit Plotpoints – auf das wirkliche Leben einer wirklichen Person zu stülpen, bekommt schnell eine Art Brutalität und aufgezwungene Interpretation.

Was ist die Alternative?
Schrader: Ein interessanter Zugang war der Film „I’m Not There“, wo fünf verschiedene Leute Bob Dylan gespielt haben, auch eine Frau und ein schwarzer Junge. Das hat etwas unterstrichen, was für mich zum Leben im Allgemeinen und insbesondere zum Leben solcher Menschen gehört, die auf sich aufmerksam gemacht haben: dass man viele ist, dass es viele Facetten einer Person gibt. Für all diese Facetten reicht keine normale Feature-Film-Länge.

Sie selbst werfen in „Vor der Morgenröte“ den Blick nur auf wenige, ausgewählte Situationen in Stefan Zweigs letzten Lebensjahren.
Schrader: Wir sind sozusagen den umgekehrten Weg gegangen. Wir fanden es interessant, uns auf sehr wenige Momente zu konzentrieren, die aber reich an Konfliktstoff und Ereignis sind und die man aus sehr unterschiedlichen Richtungen betrachten kann. Es ging uns ja auch nicht darum, dem komplexen Leben Stefan Zweigs gerecht zu werden. Der rote Faden für die Auswahl der Szenen war das Thema Exil.

Und es bestand nicht die Gefahr, Kausalitäten zu konstruieren und Zweigs Leben einer Dramaturgie anzupassen?
Schrader: Es sind verschiedene, punktuelle Einblicke in ein Leben. Als würde man vier Mal ein Fenster öffnen und 25 Minuten aus Zweigs Leben beiwohnen. Mal liegt eine Woche, mal liegen vier Jahre dazwischen. Diese Struktur erlaubt uns, in Echtzeit dabei zu sein. Wir haben natürlich sehr unterschiedliche Momente ausgewählt. Die Wahl allein kann man sicher auch schon eine dramaturgische Manipulation nennen. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass man noch unendlich viel mehr Momente dieses Lebens hätte erzählen können. Die Auslassung, die Lücke ist Teil des Films.

Josef Hader als Stefan Zweig in "Vor der Morgenröte" © X Verleih

Josef Hader als Stefan Zweig in „Vor der Morgenröte“ © X Verleih


Haben Sie darauf geachtet, dass die Ereignisse, die Sie im Film zeigen, durch Quellen belegt sind?

Schrader: Auf jeden Fall. Es gibt fast nur historische Charaktere im Film und jede Szene, die wir erzählen, hat entweder so stattgefunden, oder hätte so stattfinden können. Emil Ludwigs Rede im Namen der exilierten Schriftsteller, das Publikum, das im Anschluss aufsteht und Stefan Zweig wie einem Märtyrer applaudiert – das sind historische Ereignisse. Den Bürgermeister auf der Fazenda haben wir uns ausgedacht. Aber den jungen Führer der Zweigs, Vitor, hat es gegeben. Sie haben eine zehntägige Reise durch den Norden Brasiliens unternommen und es ist belegt, dass sie Tag für Tag einen Empfang bei einem Bürgermeister der jeweiligen Region über sich ergehen lassen mussten.

Gehen Sie so genau mit Zweigs Biografie um, weil Ihnen Ihr moralischer Kompass das so sagt? Andere Filmemacher sind beim Umgang mit historischen Figuren ja weniger zimperlich und dichten gerne etwas hinzu.
Schrader: Mit Moral hat das nichts zu tun. Ich finde, alles darf umgedichtet werden. Aber der Grund für Umdichtung ist, die Geschichte einer eigenen Zielsetzung unterzuordnen, einer dramatischen Aufgabe, man macht sie also zum Zweck. Das ist total in Ordnung, nur wir wollten es hier vermeiden. Wir sind auf so aufregende Situationen gestoßen, deren Inhalt von allein interessant und höchst erzählerisch ist. Ich habe davon geträumt, ein Gefühl von Wirklichkeit zu erzeugen wie bei einem Dokumentarfilm, so einzusteigen, dass man vergisst, dass es sich um einen historischen Film handelt. So nah heran zu kommen wie möglich.

Dafür dichten Sie der Figur Stefan Zweig jedenfalls nichts an, wie es andere Filmemacher häufig tun…
Schrader: Ich kann nicht behaupten, dass das in meinem Film nicht passiert. In Buenos Aires ist annähernd jeder Dialog historisch, aber in New York handelt es sich um eine private Szene, da kann man zwar Briefe, Tagebücher, nicht aber Protokolle oder Zeitungsartikel zu Hilfe ziehen. Da habe ich viele Dialoge frei erfunden, so gesehen ist sicher Dichtung im Spiel. Dennoch gab es eine klare Grenze: Ich wollte beispielsweise auf keinen Fall eine Szene drehen, in der Lotte und Zweig den Selbstmord planen, oder sich gar vergiften. Auch das fände ich nicht unmoralisch, warum auch, aber es gehört nicht zu diesem Film. „Vor der Morgenröte“ behandelt das Thema Exil anhand eines Künstlers in der Öffentlichkeit, am Beispiel Stefan Zweig. Ich wollte Szenen zeigen, von denen er ein Teil war, historische Momente, die ihre Parallelen auch in unserer heutigen Zeit haben.

schrader plakat Sie nehmen sich dafür viel Zeit, Sie lassen zum Beispiel die Konsekutiv-Dolmetscher zu Ende sprechen, bevor Sie zur nächsten Szene wechseln…
Schrader: Ja, sogar das. Ich liebe diese Musik der flüsternden Stimmen. Ich habe selber solche Konferenzen miterlebt als ich in der Jury der Berlinale saß, die Konzentration der Dolmetscherinnen hat mich beeindruckt, die Atmosphäre, die sie erzeugen. Es macht mich glücklich, wenn ich jetzt miterlebe, dass es funktioniert, dass die Zuschauer ein Interview in Echtzeit oder einen achtminütigen Streit zwischen Zweig und seiner Ex-Frau Friderike mit Spannung verfolgen, einfach weil der Inhalt interessant und relevant ist. Das ist eine große Freiheit, die ich da entdecke und die der Film sich erlaubt.

Eines der erfolgreichsten Biopics der letzten Monate war „The Danish Girl“ über das Leben von Einar Wegener/Lili Elbe. In diesem Film gibt es eine Figur mit Namen Hans Axgil…
Schrader: … ja, ich erinnere mich, den spielt Matthias Schoenaerts, oder?

Genau. Nun ist diese Figur des Hans, die in der Dramaturgie des Films eine sehr wichtige Rolle spielt, komplett erfunden. Ist dies in einem Biopic legitim?
Schrader: Das finde ich absolut legitim. Ich finde sowieso, dass es eigentlich nichts gibt, was verboten ist. Es gibt eine Grundverabredung, die bedeutet: Ein Film macht uns was vor und wir spielen das Spiel mit, vorausgesetzt er ist gut. In Wahrheit wissen wir alle, dass wir im Jahr 2016 leben und dass wir sicher nicht Stefan Zweig vor der Nase haben, wenn wir einen Film über ihn sehen. Ich habe mich zwar sehr genau mit bestimmten Situationen in Zweigs Leben auseinandergesetzt, aber ich erhebe zu keinem Zeitpunkt den Anspruch, zu sagen: Genau so ist er gewesen.

Sie setzen sich sehr genau mit dem Leben Zweigs auseinander – und die Macher von „The Danish Girl“ erfinden einfach eine Figur hinzu. Das scheinen mir unterschiedliche Ansätze zu sein.
Schrader: Ja, und warum auch nicht unterschiedliche Ansätze? „The Danish Girl“ und „Vor der Morgenröte“ sind in ihrem Ansatz so unterschiedlich wie sie nur sein können. „The Danish Girl“ erzählt die privateste Geschichte, die man sich überhaupt vorstellen kann: die Sehnsucht eines Mannes, lieber im Körper einer Frau zu leben und sich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen. Es ist historisch vollkommen unerheblich, ob da ein Freund auftaucht, den es nicht gegeben hat, wenn es der Geschichte hilft und den emotionalen Konflikt deutlicher macht. Wenn der Ansatz eines Films aber ist, die Haltung eines noch heute weltberühmten Schriftstellers zu Politik und Zeitgeschehen im Jahre 1936 zu untersuchen, wäre es ziemlich absurd, seine Texte umzuschreiben oder allgemein bekannte Tatsachen zu verfälschen.

Auch in einem preisgekröten Meisterwerk wurden offenbar Tatsachen verfälscht: „Amadeus“ zeigt den Komponisten Antonio Salieri als hasserfüllten Neider Mozarts, der Film hat das Bild Salieris weit über die Kinosäle hinaus negativ geprägt. Forscher behaupten schon länger, dass es die im Film gezeigte Feindschaft zwischen Mozart und Salieri nicht gab, zudem wurde Anfang 2016 eine von Salieri und Mozart gemeinsam angefertigte Komposition entdeckt.
Schrader: Interessant. Ja, es tut mir leid, aber das ist die Freiheit der Kunst. Niemand wird davon abgehalten, einen zweiten und ganz anderen Film über Salieri und Mozart zu drehen. Und stellen Sie sich vor, man müsste jedes Drehbuch einem Gremium von Fachleuten vorlegen, damit es auf Wirklichkeitsnähe geprüft werde, dann könnte Cate Blanchett nicht mehr Bob Dylan spielen**, dann wäre es aus mit der Kunst. Und es gibt ja durchaus die Persönlichkeitsrechte, die noch 70 Jahre nach dem Tod währen. Wegen der Nutzung dieser Rechte konnte auch Maxim Billers Roman „Esra“ nicht veröffentlicht werden und die Schriftsteller sind auf die Barrikaden gegangen, zu Recht in meinen Augen. Ich bin gegen jede Art von Zensur.

Dazu einmal folgendes Zitat: „Die Leute betrachten historische Ereignisse so, wie sie ihnen in Romanen oder Spielfilmen dargestellt werden. Forschungsarbeiten sind schwierig zu lesen und die Realität ist oft schwer zu ertragen. Unsere Toleranzschwelle ist, was die Wahrheit angeht, sehr niedrig“, so sagt es der argentinische Publizist und Autor Miguel Wiñazki. Kann es also sein, dass die Leute heute sehr leicht dem Glauben schenken, was sie in einem Biopic sehen?
Schrader: Auf jeden Fall.

Wird dadurch die Verantwortung der Filmemacher größer?
Schrader: Wieso sollten die Filmemacher Verantwortung dafür übernehmen, dass die Leute keine Bücher mehr lesen? Aber ja, die Verantwortung ist dennoch groß, finde ich. Ich bin dankbar für Ihr Beispiel „Amadeus“, denn Forman hat vielleicht Geschichtsverfälschung betrieben, aber er hat Salieri sicher nicht aus niedrigen Beweggründen so erzählt, beispielsweise nur um Mozart besser dastehen zu lassen, im Gegenteil: Er macht ihn zu einer höchst interessanten Hauptfigur, sozusagen zum Inbegriff des gequälten, eifersüchtigen, sterblichen Menschen, der in dem Kindskopf Mozart das Göttliche, den Genius entdeckt, auf der einen Seite die Musik in ihrer Schönheit erlebt wie kein anderer, und dann doch nicht anders kann, als den zerstörerischen Kräften in sich nachzugeben.

Forman unterstellt Salieri eine Mordabsicht.
Schrader: Na ja, er lässt Salieri freiwillig dieses Geständnis machen, was ihm Größe verleiht. Und dann sehen wir einen Film lang, wie ihn die Erinnerungen quält und die Musik überwältigt. Forman setzt Salieri mit diesem Portrait eines Zerrissenen ein ziemliches Denkmal, finde ich. Lustiger Weise erhielt auch F. Murray Abraham (spielte Antonio Salieri) den Oscar und nicht Tom Hulce (spielte Mozart).
Aber Sie haben mich nach der Verantwortung gefragt. Ich glaube, sie besteht in erster Linie darin, einen möglichst guten Film zu machen. Dazu gehört dann auch die Frage, aus welchem Grund man Salieri Mordabsichten andichtet. In meinen Augen rechtfertigt Formans Film diese Verfälschung, sie macht aus der Beziehung Salieri und Mozart einen großen, zeitlosen allegorischen Konflikt. Egal, für was man sich entscheidet, am Ende ist das WIE vielleicht das Entscheidende.

Sie selbst haben in einem Film mitgespielt, der auf wahren Begebenheiten beruht und von Zeitzeugen kritisiert wurde. In „Aimée & Jaguar“ ging es um die Beziehung der Jüdin Felice Schragenheim und der deutschen Lilly Wust. Elenai Predski-Kramer, eine Freundin der im KZ ermordeten Felice Schragenheim nannte den Film ein „unverschämtes Stück“.
Schrader: Ja, ich erinnere mich. Sie war schon mit dem Buch von Erica Fischer nicht einverstanden, empfand sich und den Kreis von Felices Freundinnen falsch dargestellt und äußerte ihre Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Liebesbeziehung zu Lilly Wust. Dass sie aber auch den Verdacht äußerte, Lilly Wust habe Felice an die Gestapo verraten, kann man ebenfalls „unverschämt“ nennen, zumal es dafür nicht den geringsten Anhaltspunkt gibt und Lilly Wust zu dem Zeitpunkt noch lebte. Aber was ist Ihre Frage?

Mich interessiert, was solche Kritik von Zeitzeugen für Sie bedeutet. Die Art, wie mit der Geschichte von Schragenheim umgegangen wurde, kritisierte die Jüdin Predski-Kramer mit den Worten: „Sie haben unser Leben zu Handelsware gemacht“.
Schrader: Das ist richtig. In dem Moment, wo eine Geschichte fürs Kino aufbereitet wird, wird sie auch zur Unterhaltung, und wenn sie so einen Erfolg hat wie „Aimée & Jaguar“, verdienen Menschen Geld daran. Dass man das Schicksal, das man durchlebt hat, verschließen möchte vor dem Zugriff einer Fiktionalisierung und Kommerzialisierung, das kann ich gut verstehen. Verfälscht wird immer. Elenai hat einen anderen Blick als wiederum eine andere Freundin, die ich in New York getroffen habe – es gibt immer verschiedene Perspektiven. Aber Interpretation muss zulässig sein, noch immer bin ich für die Freiheit der Kunst.

Stefan Zweig schrieb in seinem Abschiedsbrief, „meine geistige Heimat Europa hat sich selber vernichtet.“ Sehen Sie heute für die geistige Heimat von Zweig gewisse Gefahren?
Schrader: Sie meinen, wo jetzt täglich Waffen und Wasserwerfer angewendet werden, um Flüchtlinge abzuwehren? Ja, allerdings. Und es trifft einen, wenn man sich vorstellt, dass Zweig ja von diesem geeinten, freien Europa geträumt hat, das für uns, für unsere Generation tatsächlich Realität wurde: Man braucht keine Pässe mehr, die Grenzen sind offen. Nur werden wir jetzt wieder erleben, dass sie sich schließen. Und vielleicht sitzen wir in ein paar Jahren in einem eingemauerten Europa und wir werden es nicht verhindert haben. Das ist eine schreckliche, beängstigende Vorstellung.

**Cate Blanchett verkörperte in „I’m Not There“ den Musiker Bob Dylan, ihre Rolle trug allerdings den Namen Jude Quinn, genauso wie auch die anderen Darsteller im Film nicht Dylans Namen trugen. Zudem drehte Regisseur Todd Haynes den Film erst, nachdem er dafür die Erlaubnis von Bob Dylan erhielt (Quelle: NY Times).

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