Julian Benedikt

Etwas Eigenes und Neues zu machen ist immer ein großer Kampf.

Filmemacher Julian Benedikt über seinen Dokumentarfilm „Play your own thing“, den Jazz in Europa, Freiheit in der Musik und die Frage nach der Hautfarbe

Julian Benedikt

© Benedikt Pictures

Herr Benedikt, in Ihrem Film „Play your own thing“ sehen wir viele Musiker, die den europäischen Jazz geprägt haben aber wenige Musiker, die aktuell den europäischen Jazz ausmachen – warum ist das so?
Benedikt: Naja, so wenige Musiker von heute – dem würde ich erst einmal widersprechen. Es sind Musiker zu sehen, die sowohl nach dem zweiten Weltkrieg Musik gemacht haben und die heute noch gefragt sind. Bei denen kann man erkennen, dass sie sich in der Zwischenzeit weitergebildet haben und dass sie immer noch stilbildend Musik machen.
Ich muss zugeben, dass ich für den Film eine sehr persönliche Auswahl getroffen habe. Stefano Bollani, Arve Henriksen oder die drei polnischen Musiker, die mit Tomasz Stanko zusammen spielen sind für mich Beispiele junger Musiker, die aus dem Schatten ihrer Väter herausgetreten sind und absolut ihr eigenes Ding machen. Aber man muss natürlich die Geschichte kennen, die nach dem Krieg losging. Da gab es eine ganz bestimmte Generation von Musikern, die erst einmal „nur“ kopiert haben und dann auch eine Art Pionierarbeit geleistet haben. Albert Mangelsdorff sagt ja im Film, dass man damals danach beurteilt wurde, wie gut man Amerikaner kopieren konnte. Genauso erzählt Arve Henriksen, dass er am Anfang Bix Beiderbecke, Miles Davis und seine ganzen Überväter kopiert hat. Aber dann geht es im Film darum, wie man zu seiner eigenen Stimme findet und was das überhaupt ist. Da ist der europäische Jazz eine Facette, ein Aspekt.

Abgesehen davon, dass manche Zuschauer den einen oder anderen Musiker in diesem Film vielleicht vermissen – wie schwer war es denn für Sie eine Auswahl zu treffen ?
Benedikt: Das war eigentlich gar nicht schwer. Bei allen Filmen die ich mache geht es auch immer um eine persönliche Erfahrung und eine persönliche Reise zu bestimmten Themen. Ich habe mich natürlich auch beraten lassen und selber sehr viel recherchiert. Die Auswahl ist im Grunde genommen auch sehr von der Musik bestimmt. Manchmal geht es einfach darum, dass man intuitiv hört und spürt, was jetzt wichtig ist, egal mit welchem Thema man sich beschäftigt.
Zum Beispiel habe ich meinem Team gesagt: „Lasst’ uns ein Interview mit (dem Bassisten) Niels-Henning Oersted Pedersen machen“. Und das war sein letztes Interview. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass von vornherein alles klar ist, dann geht man raus und macht einen Film über den Jazz in Europa. So ist das leider nicht. Überhaupt einen Film über Jazz zu machen und den dann noch ins Kino zu kriegen ist nicht so ’was Alltägliches. Dieses Projekt hat vier Jahre gedauert.

Was macht es so schwierig, einen Jazz-Film ins Kino zu bringen?
Benedikt: Dieses Thema ist immer noch mit vielen Vorurteilen behaftet. Ich muss auch ehrlich sagen, dass für mich zum Beispiel der Free Jazz eine Musik war, die mich vom Jazz eher abgehalten hat. Mein Wunsch ist es, solche Vorurteile aufzubrechen und Leute an Musik heranzuführen, die sie vielleicht nicht hören würden weil sie eben diese Vorurteile haben.

Ging es Ihnen denn darum, die Leute speziell an europäischen Jazz heranzuführen oder erst einmal generell an Jazz ?
Benedikt: Generell, oder sagen wir an die verschiedenen Facetten des Jazz. Wenn jemand Free Jazz hört und damit Jazz in Verbindung bringt, ist das ja nur ein Teil des Ganzen. Es gibt ja auch Jazz, zu dem man tanzen kann und Jazz, der mehr ins Folkloristische geht. Oder es gibt italienischen Jazz, was viele Leute überhaupt nicht wissen. Mir war es wichtig, zu sagen, dass Jazz eben nicht nur amerikanisch ist.
Und der europäische Jazz ist für mich stark mit dieser Botschaft verknüpft: „Mach’ dein eigenes Ding“. Es ist immer einfach zu sagen „wir spielen jetzt so wie Count Basie oder wie Coleman Hawkins“. Aber dann wirklich etwas Eigenes und Neues zu machen, das ist immer ein großer Kampf und mit vielen Schwierigkeiten verbunden.

Wie sind Sie mit dem dokumentarischen Filmmaterial umgegangen ?
Benedikt: Durch die Koproduktion mit den Dänen konnte ich dort ins Archiv. Nur ist es nicht so, dass man da hingeht, dir einer die Tür aufhält und sagt: „Hier ist das Archiv, bitte komm’ doch rein und hol dir die tollsten Sachen raus…“ Es ist eine große Anstrengung, überhaupt dieses Material zu finden und dann physisch an diese Bänder heranzukommen. Mit den Dänen haben wir sehr viel Glück gehabt, weil da diese Bereitschaft und dieses Bewusstsein schon immer vorhanden war. In anderen Fällen gibt es viele Fernsehaufnahmen einfach nicht mehr oder sie sind nicht mehr auffindbar.
Hinzukommt, dass man Archivmaterial oftmals kaum bezahlen kann. Das Bewusstsein für Jazz ist einfach nicht mehr so groß oder nicht mehr vorhanden.

„Play your own thing“ ist bereits ihr vierter Jazz-Film – liegt Ihnen diese Musik sehr am Herzen oder ist es die Faszination für die Musikerpersönlichkeiten selbst, die Sie zur filmischen Arbeit herausfordert ?
Benedikt: Unter den Musikern gibt es schon Unikate, Typen, die du in der klassischen Musik wahrscheinlich nicht finden würdest. Es gibt ja auch viele klassische Musiker, die gerne so sein würden und diese Form der Improvisation versuchen zu erlernen. In meinem „Blue Note“-Film gab es dazu eine ganz entscheidende Passage mit André Previn: Er erzählt von Kollegen, die auch gerne Jazz spielen möchten und damit gleich nächste Woche anfangen wollten. Da lacht er und sagt: Das wäre eine Lebensaufgabe.
Es gibt unter den Jazz-Musikern viele, die wirklich ihr eigenes Ding machen und leben. Und in „Play your own thing“ geht es auch darum, dass man mit seinen Unebenheiten und Fehlern umgeht, dass man über die Auseinandersetzung mit sich selber darauf kommt, wer man eigentlich ist und was einen ausmacht. Auch, dass man seine Ecken und Kanten anerkennt und sagt: „Hey, ich werde nie so spielen können wie Charlie Parker…“

Ist Schwarz-Weiß–Denken im wahrsten Sinne des Wortes ein Thema gewesen bei der Arbeit am Film ?
Benedikt: Ja, das Thema ist immer wieder aufgetaucht und es gibt zwei Momente im Film, die das verdeutlichen: Enrico Rava erklärt, er hätte nie einen Komplex dabei gehabt, Jazz zu spielen, weil das für ihn schon immer Teil seiner Kultur war. Das Selbstbewusstsein und die Selbstverständlichkeit, mit der er das sagt, sucht ihresgleichen. Ich kenne so viele Musiker – auch aus meinem Freundeskreis – die jahrelang darunter gelitten haben, als Europäer nicht denselben Stellenwert bei den Plattenfirmen, bei Clubs und Veranstaltern erreichen zu können und die gegen den Komplex gekämpft haben, sie müssten so Musik machen wie die Amerikaner.
Mir ist über den Film auch erst klar geworden, woher der Jazz eigentlich kommt. Dass er in New Orleans als eine Mischung aus Afroamerikanischem und Europäischem entstanden ist – das war mir nie so bewusst. Dee Dee Bridgewater hat mir da eine Lehrstunde gegeben. Als ich ihr sagte, dass Bix Beiderbecke doch Deutscher sei, sagte sie: „Ja und?“, als wäre es das Normalste von der Welt. Auf Bix haben sich viele große Musiker bezogen, von Miles Davis bis hin zu Chet Baker. Er war einer der ersten Solisten im Jazz. Dee Dee Bridgewater, eine schwarze Sängerin, hat mir das dann erklärt. Insofern ist dieses Thema schwarz-weiß oder afroamerikanisch-europäisch schon immer wieder aufgetaucht. Dennoch sind es letztendlich immer noch Persönlichkeiten, die diese Musik vorwärts bringen und nicht Europäer oder nur Amerikaner. Ohne Europäer gäbe es auch die heutigen Entwicklungen im Jazz nicht. Um die Musik wirklich weiterzubringen ist es egal, ob du schwarz bist oder weiß.

Haben Jazzmusiker eine Einstellung zum Leben, die Sie besonders fasziniert ?
Benedikt: Ja, in dieser Lebenseinstellung geht es letztendlich immer um Freiheit, egal ob musikalisch oder im Leben. Das war der Ursprung des Jazz und ist für mich auch seine wichtigste Metapher. Du kannst das auf alle Bereiche übertragen: Du hast ein vorgegebenes Feld und von dem kannst du in alle Richtungen gehen, wenn du’s denn hörst und siehst. Wenn man sich mit der Musik beschäftigt und weiß, wie schwierig es ist, als Musiker und als Mensch offen zu sein dann kann man erst richtig einschätzen, dass sich da jemand hinstellt und einfach aufmacht und präsent ist. Für mich sind das Momente, die im richtigen Leben kaum mehr möglich sind. Über die Musik ist es möglich. Ich bewundere die Fähigkeit der Musiker, völlig unerwartet auszuscheren oder andere Wege zu gehen. Ich lasse mich da auch leiten weil ich diesen Spürsinn und dieses Intuitive nie verlieren will. Ich habe ein Konzept nach dem ich vorgehe, eine bestimmte Ästhetik, die ich versuche oder auch eine Bildsprache, die ich mir überlege. Aber die besten Sachen passieren unerwartet. Es gibt immer so Momente beim Dreh oder beim Schnitt, wo sich dann plötzlich zwei Steine zusammenfügen und es passt.

Gibt es für Sie so etwas wie musikalischen Filmschnitt ?
Benedikt: Oh ja, den gibt es! Der Filmschnitt ist für mich die Musik schlechthin. Es gibt Bilder, die sind wahnsinnig toll aber ohne den Klang und ohne den Ton haben die null Aussagekraft. Es ist ja ein Zusammenspiel von Bild und Ton und auch von Spannung und Entspannung, von Dynamik. Für mich ist der Schnitt immer das Spannendste am ganzen Film. Klar, das Drehen ist auch ein Abenteuer, aber ein Großteil des Film findet im Schneideraum statt. Das ist auch etwas sehr Persönliches. Man ist immer wieder auch gezwungen, bestimmte Dinge wieder rauszunehmen, sei es aus finanziellen Erwägungen, sei es aus künstlerischen. Man muss sich auch immer wieder davon freimachen und sagen können, dass etwas so stimmt und so bleiben muss.
Ich habe schon Filme mit einem hundertfachen Budget für die Musik gesehen; die hatten die größten und tollsten Klassiker des Soul und des Jazz versammelt aber die Musik hatte null Aussage und null Ausstrahlung.

Welche Szene Ihres Film swingt denn am meisten für Sie ?
Benedikt: Mit dem Swing ist das so eine Sache. Die Szenen mit Enrico Rava und Gianluca Petrella – diese Musik swingt für mich unheimlich. Dann natürlich die Klassiker: Coleman Hawkins im Club – mit was für einer Leichtigkeit Jo Jones da am Schlagzeug sitzt und Coleman Hawkins sein Tenorsaxofon spielt, da möchte ich jedes Mal wenn ich das sehe am liebsten aufstehen und… – die haben das wirklich draufgehabt. Wenige Europäer hatten wirklich diesen Swing, das muss man auch ganz klar sagen, das ist einfach so. Die Europäer haben etwas anderes mit in die Musik gebracht aber der Swing – das sind schon die Duke Ellingtons und die Coleman Hawkins…

Welchen Musikern würden Sie den Film gerne noch zeigen ?
Benedikt: Das ist eine schwierige Frage – eigentlich allen. Ich hoffe, dass ich auch andere Musiker erreichen kann, egal ob die Heavy Metal spielen oder Jazz. Einer, der mir da einfällt, ist Ernst Mosch. Im Film gibt es eine Szene mit den „German Allstars“: Albert Mangelsdorff, Rolf Kühn und die ganzen Deutschen sind versammelt und da sitzt einer in der Mitte und spielt Tuba – Ernst Mosch. Das muss man sich mal überlegen, viele von diesen Volksmusikern haben in Jazzbands angefangen. Wenn man solche Querverbindungen schlagen kann, wenn diese Musiker dann vielleicht mal anfangen zu improvisieren; klassische Musiker, die das mal wagen. Oder wenn ein norwegischer Geiger, der bisher nur Folklore gespielt hat, sich einfach nur hinstellt und anfängt zu improvisieren. Das würde mich schon freuen, wenn das machbar wäre.

Abgesehen von Ihrer offensichtlichen Begeisterung für den Jazz einer ganz bestimmten Epoche – begeistern Sie sich auch für den Jazz der heute kreiert wird ?
Benedikt: Ja, ich habe diese Begeisterung für den Swing aber genauso für Christian Wallumrod, den ich über diesen Film kennen und schätzen gelernt habe. Der macht eigentlich keinen Jazz, sondern das ist Musik die sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt und die weiter reicht als traditioneller Jazz. Ich finde, dass es im Film viele Leute gibt ,die ich vorher nicht kannte, die wirklich was Neues machen. Stefano Bollani’s Solo am Klavier war für mich eine Entdeckung. Der spielt zwar auch Standards aber so verrückt und so anders als alles, was man vorher gehört hat. Auch so filmisch, er sieht ja auch so aus wie Roberto Begnini. Und wenn der spielt muss ich immer lachen. Ich finde es schade, dass man nicht mehr von ihm sieht aber das war dann wieder eine Kostenfrage. Er spielt eine Komposition und von dieser Musik musst du alles bezahlen. Damit hat er gar nichts zu tun, sondern da sitzt irgendein Musikverlag in Amerika der sagt, „Hallo Jungs, ihr macht einen Kinofilm – dann mal ordentlich die Kohle rüberschicken, sonst geht gar nichts.“ Und dann sitzt du da, heulst, weil du das Ding gerne zeigen würdest, aber es geht nicht – du kannst keine zehntausend Dollar pro Minute bezahlen.

In Ihrem Film wird viel über die Zeit nach dem 2.Weltkrieg gesprochen – inwieweit haben Sie darauf geachtet, dass sich diese Kommentare mit den historischen Filmaufnahmen zeitlich decken ?
Benedikt: Das war gar nicht zu realisieren. Was man von Duke Ellington sieht, das war, glaube ich ’62 oder ’58. Die Aufnahmen die ich da eigentlich wollte, die habe ich entweder nicht gefunden oder nicht bekommen. Ich wollte die Zuschauer aber auch nicht mit den Jahreszahlen verwirren, deshalb habe ich sie bewusst weggelassen. Es ging mir auch nicht um historische Genauigkeit. Wenn es darum gegangen wäre, hätte ich einen anderen Film machen müssen und den könnte ich wahrscheinlich nicht ins Kino bringen. Schon bei „Blue Note“ wurde mir ja vorgehalten, dass die Namen nicht unter den gezeigten Fotos stehen. Aber wenn du das machst, kommst du aus dem Lesen gar nicht mehr raus. Und jemand, der sich wirklich dafür interessiert, geht in eine Bibliothek oder kauft sich die DVD. Mir geht es darum, die Musik in den Vordergrund zu stellen, weil man dadurch mehr zum Genießen kommt und einfach wahrnehmen kann, was die da spielen.

Es gibt in ihrem Film wiederkehrende Landschaftsaufnahmen aus Norwegen und dazu läuft ja andere Musik als Jazz…
Benedikt: Ja, Musik des armenischen Komponisten Gurdijeff. Für mich liegt Armenien nahe an Europa und ich habe damit eher eine Anspielung an die klassische Musik gemacht, die letztendlich auch nur ein Teil war, den die Europäer mit in den Jazz gebracht haben. Was die Landschaften angeht, so beschreiben sie für mich eher den Weg der Musik. Man sieht Landschaften mit verschiedenen Einfärbungen – das kann man weiter übertragen auf die Geschichte, auf die verschiedenen Facetten des europäischen Jazz.

Woher kommt eigentlich der Filmtitel „Play your own thing“ ?
Benedikt: Den habe ich mir mal überlegt. Es gab verschiedene Titel, aber dieser ist einfach am aussagekräftigsten. Über den europäischen Jazz wird diese Kernbotschaft erzählt. Dass das nicht nur Europäer gemacht haben ist vollkommen klar. Ich wollte darauf kommen, was das eigentlich heißt, was man dafür tun muss und was da eigentlich dahinter steckt. Wenn man sich die Geschichte anguckt ist es so: Du stehst auf was, fängst an, es zu kopieren, du hast die Technik dafür, kannst alles spielen – aber dann geht die Arbeit erst richtig los. Und genau davon erzählt der Film.

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