Jenny Erpenbeck

Man kann sich sein Verhältnis zur Vergangenheit nicht aussuchen.

Jenny Erpenbeck über Geschichte und Geschichten, ihren Roman „Heimsuchung“, das Erwachsenwerden und Wirkung von Literatur

Jenny Erpenbeck

© Katharina Behling / Eichborn Verlag

Frau Erpenbeck, Dreh- und Angelpunkt Ihres Romans „Heimsuchung“ ist ein Haus, dessen verschiedene Bewohner Sie fast ein Jahrhundert lang beobachten. Wie ist der Buchtitel in diesem Zusammenhang zu verstehen?
Erpenbeck: Ich habe diesen Titel gewählt, weil er in zwei Richtungen gleichzeitig führt. Einmal zu einer Heimat hin, die man sucht und einmal in Richtung auf einen selbst – dass man heimgesucht wird. Speziell für mein Buch hatte ich das Gefühl, dass viele von den Figuren von der eigenen Suche nach Heimat heimgesucht werden. Ich meine damit, dass sie von dem, was sie hoffen, verfolgt werden. Das Hoffen selbst ist dann sozusagen schon der Fehler.

In welcher Weise sind Sie denn persönlich ‚heimgesucht’ worden?
Erpenbeck: Ich gebe zu, dass es ein solches Haus in Wirklichkeit gegeben hat. Dass wir es in Wirklichkeit durch die Restitution an den Alteigentümer verloren haben und dass ich heimgesucht worden bin, insofern, als ich über Monate, oder sogar Jahre hinweg von dem Haus geträumt habe. Ich habe es nur schwer ausgehalten, dass dieses Haus über die ganze Zeit der Entscheidungsfindung des Amtes leer stand. Es war sehr schmerzlich zu sehen, in welchem Zustand es war, und dass ein Ort, auf den Menschen früher so viel Mühe verwendet haben, und in dem viel Leben stattgefunden hat, plötzlich so verlassen ist.

In dem Haus, das im Zentrum des Romans steht, wohnten u.a. eine jüdische Familie, ein Nazi-Mitläufer und ein DDR-Architekt, alle mit ganz verschiedenen Schicksalen. Nun haben Sie dem Buch einen Prolog vorangestellt, über die Jahrtausende umspannende geologische Entwicklung der Erde. Wollen Sie die Leser durch die Einordnung in diesen natürlichen, überzeitlichen Zusammenhang über die erzählten Einzelschicksale hinweg trösten?
Erpenbeck: Das Schöne ist, dass ich ja noch in der Schule gelernt habe, was Dialektik ist. Man kann das zwar schwer erklären, aber an dem Beispiel geht es ganz gut. Einerseits also ist es natürlich ein Trost, wenn man sieht: So wichtig sind die menschlichen Schicksale gar nicht. Alles wird vergehen und die Natur bleibt. Auch die Natur bewegt sich, und wenn es Bewegung gibt, ist das sozusagen ein allgemeines Prinzip, und darüber muss man also nicht bekümmert sein. Andererseits ist aber natürlich die Gleichgültigkeit der Erdgeschichte angesichts mancher wirklich tragischer Einzelschicksale überhaupt kein Trost, sondern nur ein Schrecken. Erschreckend ist es, dass die Dinge, die für einen Menschen so existenziell wichtig sind, die eine Frage auf Leben und Tod stellen, von der Erdgeschichte so unberührt pariert werden.

Keine Ihrer Geschichten kommt ohne tragische oder dramatische Momente aus. Warum wählen Sie selten leichte Stoffe?
Erpenbeck: Das weiß ich selbst nicht. Das sind einfach die Dinge, die mich interessieren. Außerdem denke ich, dass man schreibt, um Fragen zu stellen, die einen bewegen bzw. die man selbst nicht beantworten kann. Letztlich ist es der Versuch diese Fragen mit dem Leser zu teilen. Der Leser beantwortet sie nicht, aber durch das Schreiben kann man sich zumindest mit diesen Dingen befassen. Das ist das Schöne daran.

Wie finden Sie die Stoffe, über die Sie schreiben?
Erpenbeck: Sagen wir mal so, die Stoffe, die zeigen sich plötzlich, sie begegnen mir und reagieren mit dem, was ich schon in mir trage, dann weiß ich: Das ist etwas, worüber ich schreiben muss. Mir die Stoffe dann zu erarbeiten, ist natürlich zum einen eine Frage des Denkens, und zum zweiten eine Frage der Recherche. Bei „Die Geschichte vom alten Kind“ war die Grundlage ein Selbstversuch in der Schule. Beim „Wörterbuch“ habe ich einfach viel gelesen. Man muss, glaube ich, versuchen, die Dinge so gut zu kennen, als ob sie Teil der eigenen Autobiographie wären. Und genauso, wie man sich beim Schreiben von der eigenen Autobiographie dann in manchen Aspekten wieder löst, weil der Kern der Geschichte vielleicht woanders liegt, als er in Wirklichkeit gelegen hat, genauso löst man sich auch von dem Material, das man durch Recherche zusammengetragen hat. Im Grunde warte ich so lange, bis mir das nächste Buch plötzlich erscheint.

Ist Geschichte, speziell die deutsche Geschichte etwas, was Sie bewegt?
Erpenbeck: Mich interessiert Geschichte wahrscheinlich eher als Individualgeschichte, weil ich glaube, dass Geschichte anders nicht wirklich von Menschen wahrzunehmen ist. Sowohl im Leben als auch in der Theorie interessiert es mich, wie Geschichte konkret wird, wo die Umbrüche wirklich zu sehen sind. Das ist so wie mit den Akten, die in meinem Buch vorkommen. Man sieht zunächst hinter den Akten gar keine Inhalte. Man sieht nur eine Liste, und wenn man nicht weiß, unter welchen Umständen diese Liste entstanden ist, wer sie gemacht hat und warum, nicht weiß, welche Biographien dahinter stecken, dann bleibt die Liste stumm. Ich würde zum Beispiel nie sagen, ich will jetzt den Schlüsselroman des zwanzigsten Jahrhunderts schreiben und suche mir ein paar Einzelschicksale, die da exemplarisch sind. Ich versuche umgekehrt, zuerst einmal genau hinzuschauen, und am Konkreten dann die große Geschichte abzulesen. Die Frage, was einer einpackt, der sich auf die Flucht begibt – so etwas finde ich spannend.

Was denken Sie, welche Beziehung sollte man zur eigenen Vergangenheit haben?
Erpenbeck: Man kann sich sein Verhältnis zur Vergangenheit nicht aussuchen. Weil die Vergangenheit ist die Vergangenheit, ist die Vergangenheit (lacht). Das heißt, im besten Falle lernt man, bevor man stirbt, erwachsen zu werden (lacht).

Wann genau geschieht das?
Erpenbeck: Mit einundvierzig (lacht). Nein, in mancher Hinsicht will ich gar nicht erwachsen werden – ich möchte heute noch genauso viel herumblödeln können, wie ich es mit zwanzig gemacht habe, und wie ich es mit fünfzig oder achtzig Jahren hoffentlich auch noch tun werde.

Was bedeutet denn ‚erwachsen sein’?
Erpenbeck: Ich glaube, dass man sich nicht mehr so leicht umstoßen lässt, dass man mehr Sicherheit hat. Man hört ja nicht auf zu suchen und unsicher zu sein. Aber man tut das mehr für sich nach innen und lässt sich nicht mehr so stark von äußeren Dingen verunsichern.

Erwachsen sein heißt also Gelassenheit?
Erpenbeck: Ja, auch anders auf das Leben zu schauen. Ich versuche zurück zu blicken, die Vergangenheit anzunehmen, aber dann auch zu sagen: Gut, ich geh weiter. Nicht in der Sentimentalität oder im Rückblick stecken zu bleiben.

Kein Festhalten mit Schmerzen?
Erpenbeck: Schwer zu sagen. Jede Vergangenheit ist verschieden. Ich habe einmal gesagt, dass man durch eine schöne Kindheit genauso befangen sein kann wie durch eine schlechte. Natürlich ist eine schöne Kindheit ist ein Geschenk des Himmels, und man kann froh sein, wenn man sie hatte. Trotzdem ist man durch das Zurückwollen in das, was hinter einem liegt, auch gefangen. Man hat dann für immer ein Ideal im Kopf, das unwiederbringlich hinter einem liegt und muss dann versuchen, dieses Rückwärts in ein Vorwärts zu verwandeln.

Gibt es denn auch ein Vorwärts in Bezug auf das verlorene Haus, über das wir am Anfang sprachen?
Erpenbeck: Ich wünschte mir, dass der Immobilienmakler, der das Haus gekauft hat, anruft und sagt: „Frau Erpenbeck, ich habe Ihr Buch gelesen. Ich bin tief bewegt und möchte Ihnen das Haus zum Geschenk machen, denn Sie haben es wahrhaft verdient.“ (lacht)

Wie sehen Sie das denn generell, können Geschichten, kann Literatur heutzutage noch etwas bewirken?
Erpenbeck: Wenn man überhaupt auf so etwas hoffen kann, ist es sicher eine sehr langsam wirkende Macht. Es ist vielleicht möglich, dass die Leser einen anderen Blick für manches bekommen, oder dass ein Buch ihnen ein Trost ist, weil sie das Gefühl haben: So ähnlich erging es mir auch schon. Geschichten ermöglichen, Dinge miteinander zu teilen und sie vermitteln natürlich Wissen. Aber zu sagen: Heute lese ich ein Buch und morgen geht die Revolution los – das ist wohl blanker Unsinn.

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