Jean-Michel Jarre

Wir haben unsere Zukunftsvision verloren.

Er ist einer der Pioniere der elektronischen Musik und bleibt dem Genre bis heute treu: Jean-Michel Jarre ist für sein neues Album-Projekt „Electronica“ u.a. mit Moby, Air, Massive Attack und Armin van Buuren ins Studio gegangen. Im Interview spricht er über die klassische Musik von morgen, den Komponisten-Begriff und den Einfluss der Technologie auf den kreativen Prozess.

Jean-Michel Jarre

© Jens Koch

Monsieur Jarre, in Ihrem Alter gehen die meisten Menschen eher in die Philharmonie als in den Club – warum schreiben Sie mit 67 nicht mal klassische Musik?
Jean-Michel Jarre: Weil ich hoffe, dass das, was ich schreibe, eines Tages die klassische Musik sein wird. (lacht) Ich mag klassische Musik, habe das auch studiert, aber ich habe nicht den dringenden Wunsch mit einem Symphonieorchester zu arbeiten. Mein Vokabular ist die elektronische Musik und vielleicht wird das die klassische Musik der Zukunft sein. Strawinsky war einst Avantgarde, heute ist er Klassik.

Das könnte bedeuten, dass andere Musiker in 50 Jahren Ihre Musik aufführen.
Jarre: Ja, das hat es auch schon gegeben, symphonische Aufführungen von meinen Stücken. Ihre Frage basiert ja auf dieser Annahme, dass in einem bestimmten Alter so eine Rückbesinnung stattfindet. Aber diese Art von Reflex gibt es bei mir nicht.

Es ist natürlich auch ein Klischee, dass die jungen Pop und die alten Menschen Klassik hören.
Jarre: Das ist nicht nur ein Klischee, es gibt ja immer noch viele, die wirklich denken, Pop sei keine Musik und wenn man als seriöser Musiker gelten will, muss man eines Tages ein klassisches Konzert schreiben. Ich bin da anderer Meinung.

Zitiert

Die elektronische Musik macht den Komponisten zu einer Art Koch.

Jean-Michel Jarre

Ist es wichtig für Sie, progressiv zu sein?
Jarre: Nein. Ich habe mich selbst auch nie als progressiv gesehen. Ich weiß, dass manche DJs mich als Pionier sehen. Für mich war es aber eher so, dass ich einfach das Glück und das Privileg gehabt habe, am Beginn einer Entwicklung zu stehen, ich konnte Türen öffnen zu bis dahin unerschlossenem Terrain.

Wollen Sie auch heute noch Neues entdecken?
Jarre: Absolut. Es kommt auf die Neugier drauf an, die ist wichtiger als alles andere. Ich war immer überzeugt davon, dass elektronische Musik mehr wird als ein Genre, nämlich ein ganz neuer Weg, Musik zu schreiben, zu produzieren und zu vertreiben.

Für Ihr Album „Electronica 1 – The Time Machine“ sind Sie nun mit über einem Dutzend Musikern ins Studio gegangen, darunter Moby, Tangerine Dream und Massive Attack.
Jarre: Es war für mich die Erfüllung eines Traums, mit all diesen Leuten zu arbeiten. Ich liebe ihre Musik und ich hatte eine sehr persönliche Vorstellung von diesen Musikern, von Massive Attack, Air oder Pete Townshend. Diese Vorstellung wollte ich in den Songs zum Klingen bringen. Auch bei diesem Projekt ging es um Neugier, nicht um eine bestimmte Generation von Musikern.

© Jens Koch

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Doch wie kamen Sie auf den holländischen Trance-DJ Armin van Buuren?
Jarre: Vor Armin van Buuren habe ich großen Respekt, weil er seinem Genre sehr treu ist. Ursprünglich wollte ich, dass er einen Remix von einem meiner Tracks macht, doch dann haben wir gemeinsam ein Stück produziert. Ich habe ihn in L.A. getroffen und im Gespräch gemerkt, dass er meine Musik gut kennt, ich war eine Inspiration für ihn, auch für seine Auftritte. Da dachte ich mir, es passt sehr gut, wenn er auf dem Album derjenige ist, der das Genre Trance verkörpert. Bei gutem Trance-Techno hat man ja diese Mischung von sehr hypnotischen, langen Stücken und neoklassischen Akkord-Strukturen. Das ist von meiner Musik nicht weit entfernt.

Vermutlich sind Sie der erste Musikproduzent, der jemanden wie Armin van Buuren und Pete Townshend von The Who auf einem Album vereint.
Jarre: Ich habe vorher nicht gewusst, ob das funktioniert. Doch es hat funktioniert, weil all diese Leute auch etwas gemeinsamen haben, nämlich einen organischen Zugang zum Klang.

Sind für Sie all diese Musiker, von Air über Moby bis zum Berliner Techno-Produzenten Boys Noize, Komponisten?
Jarre: Ja, absolut. Sie beschäftigen sich mit musikalischer Struktur, mit Sound-Design… Ich selbst habe früher von dem Komponisten Pierre Schäfer gelernt, dass Komposition nicht nur auf Noten und Harmonielehre basiert, sondern dass auch die Dimension der Klänge hinzukommt. Dieser Gedanke hat die Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert und dazu geführt, dass viele Musiker sich heute auf andere Art und Weise dem Komponieren widmen. Unter denjenigen, die elektronische Musik produzieren, gibt es sehr interessante und vor allem auch ausgebildete Musiker.

Doch zumindest mit Noten arbeiten die wenigsten.
Jarre: Nun, ich selbst habe noch ganz traditionell Notenschreiben gelernt. Doch durch die elektronische Musik habe ich gemerkt, dass man auch anders Musik komponieren kann. Und es ist ja interessant, wenn wir uns die Historie ansehen: Der Großteil der Musik in der Menschheitsgeschichte ist gar nicht notiert worden. Chinesische, indische oder afrikanische Musik basiert vor allem auf der Instrumentenpraxis und mündlicher Überlieferung. Es war eigentlich nur die Zeit zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert, in der sich dieses System verfestigte, dass man Musik erschafft, in dem man Zeichen auf Papier schreibt. Allerdings wissen wir auch, dass viele Komponisten in den vergangenen Jahrhunderten ihre Musik nicht gehört haben, es kostete sie Zeit, einen Verlag zu finden, das Orchester zu mieten usw.

Heute kann man die eigene Komposition sofort am Computer hören.
Jarre: Ja, die große Revolution der elektronischen Musik ist, dass nicht nur jeder komponieren und sofort das Ergebnis hören kann, sondern dass jeder auch sein eigener Toningenieur sein und selbst über die Klangpalette entscheiden kann. Die elektronische Musik macht den Komponisten daher mehr zu einer Art Koch, in einem organisch-sinnlichen Sinn, während das Komponieren früher mehr einen mathematischen und abstrakten Charakter hatte. Heute kreierst du für jedes Projekt dein eigenes Orchester.

Haben Sie Ihre Arbeitsweise der Technikentwicklung stets angepasst?
Jarre: Ich bin völlig überzeugt, dass die Technik Stile bestimmt und nicht umgekehrt. Die Erfindung des Hammerklaviers prägte wesentlich die Entwicklung des Instrumentalkonzert, die Single-Schallplatte, auf die drei Minuten Musik gepresst werden konnten, bedingte die Standardlänge von Popsongs – und heute in der elektronischen Musik ist zum Beispiel das Genre Dubstep eng mit dem Computer-Plugin „Massive“ von der Berliner Firma Native Instruments verbunden.
Die Aufgabe des Komponisten besteht darin, die Technologie zu ‚entführen‘, um etwas Besonders mit ihr zu machen. Das war auch bei mir der Fall: Als zu meiner Zeit der erste Sampler der Firma Fairlight auf den Markt kam habe ich andere Ideen entwickelt, bedingt durch das, was technisch möglich war.

Braucht es heute noch musikalische Bildung, um Musik zu produzieren?
Jarre: Ja, man braucht sie, aber es ist eine andere Form von Bildung. Der Kompositionsprozess ist heute sehr eng mit dem Aufnahmeprozess verbunden. Das heißt, man wird sein eigener Toningenieur. Wenn man mit Software wie Ableton Live arbeitet, muss man lernen, wie man einen bestimmten Sound hervorrufen kann. Die Bildung hat sich verschoben, von der alleinigen Beschäftigung mit Harmonie hin zu einer mehr organischen, umfassenden Herangehensweise.

Was hat Sie besonders beeindruckt bei den Treffen mit den vielen verschiedenen Musikern?
Jarre: Beeindruckt war ich von ihrer Großzügigkeit. Man hört ja oft, dass Künstler sehr egozentrisch und egoistisch sind. Das stimmt nicht, in dem Moment, wo es um die Musik geht, sind alle sehr offen und großzügig. Sie haben alle sehr viel zu diesem Projekt beigetragen und das auf sehr aufrichtige Weise. Es ist auch das erste Mal in meinem Leben, dass bei einem Album alle Tracks für mich gleichermaßen wichtig sind, weil jede Zusammenarbeitet sehr spezifisch war und mir viel bedeutet.

jarre time machineSie haben das Album „Time Machine“ genannt. Wenn Sie eine Zeitmaschine besäßen, würden Sie in die Vergangenheit reisen, um zum Beispiel Bach seinerzeit zu hören oder würden sie…
Jarre: …in die Zukunft! Ohne zu zögern. Ich bin neugierig, wie die Musik in ein, zwei Jahrhunderten klingt. Als ich anfing, Musik zu machen, hatten wir ja noch eine sehr poetische Vision von der Zukunft: Wir dachten, im Jahr 2000 werden die Autos fliegen und alles wird so sein wie in „Space Odyssee 2001“. Aber nach der Jahrtausendwende scheint es mir als wären wir Waisenkinder unserer Zukunft geworden.

Was meinen Sie damit?
Jarre: Wir haben unsere Zukunftsvision verloren. Die Helden im Science-Fiction-Film sind heute die Marvel-Helden aus den 40er Jahren. Wir haben eine gewisse Zukunftsangst und schauen deswegen zurück – während man am Ende des 20. Jahrhunderts noch dachte, es wird der Beginn einer neuen Ära.

Zum Schluss: Wenn die Welt ein Orchester ist, welches Instrument sind Sie?
Jarre: Ein Synthesizer! Oder ein Theremin in einem Stück von Strawinsky.

Jean Michel Jarre wurde am 24. Aug. 1948 in Lyon geboren und ist der Sohn des Filmkomponisten Maurice Jarre. Nach musikalischer Ausbildung am Lyzeum Michelet und dem Pariser Konservatorium experimentierte er Ende der 60er Jahre mit Tonbandschleifen mehr

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