Ingrid Noll

…und dann hetze ich sie alle aufeinander.

Ingrid Noll über die Entstehung von Kriminalgeschichten, das Schreiben an sich, Verfilmungen von Romanstoffen und den Verlauf ihrer Autoren-Karriere

Ingrid Noll

© Regine Mosimann/Diogenes Verlag

Frau Noll, im Mittelpunkt Ihres aktuellen Buches „Kuckuckskind“ steht die Lehrerin Anja, die nach ihrer Scheidung in ein ziemliches Loch fällt. Als ihre Kollegin Birgit schwanger wird, wird sie den Verdacht nicht los, dass ihr eigener Mann der Vater des Kindes sein könnte. Wie kamen Sie auf diesen Stoff?
Noll: Im Wesentlichen wollte ich in einem meiner Romane einmal die Generation meiner Kinder behandeln. Die sind zwar eine Spur älter als Anja, aber ich kenne natürlich auch etwas jüngere Leute, die – so wie Anja – Mitte, Ende 30 sind. Das ist eine Generation, die mich schon lange interessiert und deren Lebensweg ich auch durch die Freunde meiner Kinder verfolge. Und da beobachte ich ähnliche Geschichten wie jene, die ich im Buch aufgegriffen habe: die Partnerschaften halten nicht mehr ein Leben lang, das ist der Lauf der Welt. Die Kinder kommen bei Frauen oft erst spät, weil sie zuvor erst einmal im Beruf Fuß fassen möchten; oft klappt’s dann gar nicht mehr, weil sie schon etwas zu alt sind, der Wunsch ist aber trotzdem noch vorhanden. Manche verkneifen sich das Kinderkriegen völlig, sind dann später aber auch nicht zufrieden, wenn sie merken, dass der Zug für sie abgefahren ist. Das sind alles Themen, die in der Luft liegen.

Gleich zu Beginn des Romans gibt es eine Textstelle, in der Anja ihren Ehemann mit einer anderen Frau inflagranti überrascht – und den beiden voller Absicht heißen Tee über die nackten Körper gießt, beide tragen großflächige Verbrühungen davon. Genießen Sie es, solche Gemeinheiten literarisch auszuleben?
Noll: Ich muss gestehen, dass es mir durchaus Freude bereitet, über perfide Rache zu schreiben und ich weiß, dass es auch die Leser ganz gerne lesen. Trotzdem finde ich es natürlich furchtbar, wenn jemand verbrüht wird, das tut mir dann direkt selber weh. Aber irgendeine Reaktion musste ja kommen. Ich denke, Anja hatte gerade die Kanne mit dem heißen Tee in der Hand und da kann man dann ihre Reaktion als Kurzschlusshandlung durchaus nachvollziehen. Ich hätte es jetzt falsch gefunden, wenn sie sich irgendwo eine Pistole gekauft und die beiden fünf Tage später erschossen hätte. Das wäre nicht glaubwürdig gewesen. Aber eine Spontanreaktion – wenn sie auch schlimm ist – konnte ich mir vorstellen und insofern habe ich sie dann auch ins Buch einfließen lassen.

Anja ist Lehrerin für Deutsch und Französisch und Sie schildern ihren Schulalltag sehr ausführlich…
Noll: Ja. Ich hatte schon immer vor, einmal über Lehrer zu schreiben. Ich wurde in letzter Zeit von „echten“ Lehrern, die das Buch gelesen hatten, schon mehrmals gefragt, ob ich nicht eine Kollegin gewesen sei. Das war ich zwar nicht, aber ich kenne im Verwandten- und Freundeskreis viele Lehrer und habe mich für deren Arbeit schon immer interessiert. Als meine Kinder zur Schule gingen, habe ich aufmerksam am Schulleben teilgenommen, habe mir die Schulen ganz genau angesehen und habe geschaut, was sich im Gegensatz zu früher verändert hat. Das Schulmilieu ist mir also durchaus gut vertraut.

Dabei kommen die Lehrer im Buch nicht sonderlich gut weg…
Noll: Das stimmt. Aber meine Freunde haben mir so viele Details aus dem Schulalltag mitgeteilt, wie man sie eigentlich gar nicht erfinden kann und die ich einfach ins Buch einfließen lassen wollte – beispielsweise wie im Lehrerzimmer getratscht und gehetzt wird, dass manche sich immer noch mit „Mahlzeit“ begrüßen oder andere Spezialitäten… (lacht)

Anja verwendet häufig das Internet. Nutzen Sie selbst das Internet? Kommen Sie mit der modernen Technik zurecht?
Noll: Ja, schon lange und gut. Ich bin eigentlich durch meine erwachsenen Kinder dazu gekommen, die sagten: „Mutter, das mit der alten Schreibmaschine, das wollen wir jetzt nicht mehr sehen.“ Ich habe mich zuerst noch gewehrt, aber das ist jetzt auch schon lange her. Ich hatte eigentlich keine Probleme damit, mich an die Arbeit mit dem Computer zu gewöhnen, zumal mir das Internet viele Dinge ja auch ungemein erleichtert, gerade in Bezug auf Recherchen für meine Bücher.

Einen großen Raum im Roman nimmt auch Anjas resolute und rüstige Mutter ein, die sich immer wieder in das Leben ihrer Tochter einmischt. Sie selbst haben Ihre Mutter bis zu ihrem Tod im Alter von 106 Jahren zu Hause gepflegt. Ist die Romanfigur eine Art Hommage?
Noll: Nein, es gibt es keine Parallelen zwischen Anjas und meiner Mutter. Meine Mutter hatte die sehr positive Eigenschaft, dass sie sich nirgendwo eingemischt hat, sonst hätte ich sie vielleicht auch gar nicht bei mir aufnehmen können. Sie sagte immer: „Das ist euer Leben, ihr müsst damit fertig werden, eure Entscheidungen selbst treffen und ich sage dazu nichts.“ Und ich selbst versuche eigentlich auch, diese Haltung einzunehmen; ich mische mich in die Leben meiner Kinder nicht ein – außer, wenn ich gefragt werde, dann sage ich natürlich meine Meinung.

Wenn Sie an Ihre Mutter denken, gibt es da irgendein Bild, irgendeine Erinnerung, die Ihnen sofort in den Kopf kommt?
Noll: Na ja, die letzten Jahre war sie bettlägerig, das war natürlich kein besonders heiteres Bild. Aber wenn ich an früher denke, dann sehe ich vor mir, wie sie mit großer Leidenschaft und Freude im Garten gearbeitet hat.

Ihren Debüt-Roman „Der Hahn ist tot“ haben Sie 1991 im Alter von 55 Jahren veröffentlicht. Haben Sie sich damals diese lange Autoren-Karriere erhofft, die dann folgte?
Noll: Nein, beim ersten Roman wusste ich ja ohnehin nicht, ob er jemals gedruckt wird. Als der Diogenes Verlag zusagte, war ich selbst wohl am meisten verblüfft darüber. Und nach den ersten Sätzen wusste ich auch gar nicht, ob ich weiter schreiben soll und habe mich gefragt, ob ich das überhaupt kann und ob es überhaupt etwas wird. Ich war damals ja auch schon in einem Alter, wo ich realistisch genug war und keine Rosinen mehr im Kopf hatte. Ich wusste auch, dass der Buchmarkt nicht so leicht zu handhaben ist und es viele Autoren gibt, die Bücher von hoher Qualität schreiben und trotzdem eine Odyssee hinter sich bringen mussten, bis sie ihre Romane an den Mann gebracht hatten. Ich denke, bei mir war auch sehr viel Glück im Spiel.

Wie entstehen Ihrer Romane? Machen Sie sich im Vorfeld einen detaillierten Plan, in dem Sie bereits den Handlungsverlauf skizzieren oder schreiben Sie einfach spontan drauf los?
Noll: Wenn ich ein neues Buch plane, mache ich mir natürlich schon monatelang im Voraus Gedanken, über wen ich gerne schreiben würde. Bei mir stehen immer die Personen und deren Psychogramm im Vordergrund. Ich interessiere mich weniger für die Tat, sondern vielmehr für das „Warum?“. Im Vorfeld überlege ich mir also, was das für Menschen sein sollen, über die ich gerne schreiben möchte? Jung, alt, mittel – jede Altersgruppe ist gleichermaßen interessant. Es kommt ja auf den Charakter selbst an: Steinalte Leute können noch spritzig und Dreizehnjährige schon lahme Enten sein, das hängt ja vom Temperament ab. Dann entwickle ich natürlich auch noch die Nebenfiguren und überlege mir, was diese für Intentionen haben – und schließlich hetze ich sie alle aufeinander. (lacht) Bei mir entwickelt sich die Handlung also aus den Figuren heraus. Den roten Faden der Geschichte habe ich zwar im Kopf, aber Details entwickeln sich wirklich erst beim Schreiben der jeweiligen Szenen. Wo halten sich die Figuren auf? Wie reden sie miteinander? Was haben sie an? Wie ist ihr inneres Befinden?

Über Hella Moormann, die Hauptfigur in der „Apothekerin“ haben Sie einmal gesagt, dass Sie schon beim Schreiben Probleme mit ihr hatten und Sie sie eigentlich nicht mochten…
Noll: Das ist klar, denn sie hat Eigenschaften, die völlig konträr zu mir selbst sind. Sie ist geizig, kleinlich und hat diesen grauenhaften Putz- und Hygienefimmel, sie muss also immer sofort zum Lappen greifen und irgendwo wischen. (lacht) Sie ist ja Apothekerin und natürlich müssen solche Berufsgruppen sorgfältig sein, aber bei ihr fand ich das unangenehm. Doch gerade das Erfinden solch einer Person kann beim Schreiben Freude bereiten.

Entwickeln Ihre Figuren beim Schreiben manchmal ein Eigenleben und entwickeln sich in eine ganz andere Richtung als ursprünglich gedacht?
Noll: Das kommt durchaus vor, aber im Prinzip überlege ich mir ja schon vor dem Schreiben, was das für Menschen sein sollen. Um noch einmal an Hella Moormann anzuknüpfen: meine Figuren sollen eigentlich grundsätzlich nicht so sein, dass ich sie wundervoll finde, denn sie machen schließlich ziemlich schreckliche Sachen und ich male auch nicht gern in Schwarz und Weiß. Die Personen sollen Facetten haben, die man versteht, aber keineswegs nur sympathisch findet.

Zitiert

Ich muss gestehen, dass es mir durchaus Freude bereitet, über perfide Rache zu schreiben.

Ingrid Noll

Viele Autoren schreiben ja zu einer festen Tageszeit, andere schreiben nachts…
Noll: Ich schreibe nie nachts! Da liege ich im Bett und schlafe. (lacht) Viele Kollegen schreiben zu späten Stunden, aber da ich immer eine Familie hatte, war das absolut nicht familienfreundlich. Ich musste morgens aufstehen, Frühstück machen. Auch jetzt stehe ich morgens zwischen sieben Uhr und halb acht auf, frühstücke und sitze ab neun Uhr am Schreibtisch. Und dann geht’s los…

Stehen Sie bereits während des Schreibens in Kontakt mit Verlag und Lektor?
Noll: Nein. Erst wenn das Buch fertig ist, maile ich es an den Verlag, erst dann beginnt der Lektoratsprozess. Vorher gebe ich den Roman durchaus schon mal meinem Mann, meinen Kindern, Schwestern oder Freundinnen zu lesen. Aber nicht zu vielen. Zu viele Meinungen verwirren nur. (lacht)

Und wie lange schreiben Sie durchschnittlich an einem Roman? Ihren Erstling „Der Hahn ist tot“ haben Sie innerhalb von nur drei Monaten geschrieben.
Noll: Wie lange ich an meinen letzten Büchern geschrieben habe, kann ich gar nicht genau sagen, weil man als Schriftsteller ja nicht wie im Büro acht Stunden am Stück arbeitet. Allerhöchstens schreibe ich pro Tag zwei Stunden vormittags und zwei Stunden nachmittags, denn was ich schreibe, ist schließlich alles fiktiv. Ich muss nicht wie Sachbuchautoren ein Thema, das ich schon recherchiert habe, einfach nur noch in Worte fassen. Bei mir muss alles neu ausgedacht werden. Und das ist bisweilen sehr anstrengend. Deshalb klappt es bei mir nicht, dass ich den ganzen Tag am Schreibtisch sitze und schreibe. Aber sagen wir mal so: alle zwei Jahre kommt dann doch ein neues Buch heraus (lacht).

Und Schreibblockaden?
Noll: Nein, die kenne ich eigentlich weniger, da ich immer genug andere Sachen zu tun habe. Wenn ich merke, ich komme nicht weiter und es fließt nicht, dann mache ich eben die Dinge, die schon lange rumliegen: Bürokram, Briefe beantworten, den Backofen sauber machen, die Steuer… (lacht)

Ihre Romane handeln in der Mehrzahl von Frauen, die versuchen, endlich zu bekommen, was sie sich ein Leben lang gewünscht haben. Haben Sie in der Zeit, als sie noch nicht geschrieben, sondern Ihren Mann in seiner Arztpraxis unterstützt haben, manchmal davon geträumt, ein Buch zu schreiben?
Noll: Es war nicht so konkret. Mir war aber klar, dass, wenn mal mehr Zeit ist, noch irgendetwas für mich kommen würde. Ich konnte es aber nicht so genau festlegen und war natürlich auch realistisch genug, um nicht gleich überheblich zu sagen: „Ich schreibe später einmal Bücher, verdiene damit Geld und werde bekannt.“ So blöd ist man in diesem Alter nicht mehr. Aber mir war klar, dass ich noch etwas mit meiner Zeit anfangen würde – etwas für mich und nicht für andere, denn für andere hatte ich bisher viel getan.

Viele Ihrer Romane wie beispielsweise „Die Apothekerin“ wurden verfilmt, doch die Drehbücher dafür haben andere geschrieben. Warum?
Noll: Ich habe ganz bewusst entschieden, dass ich an den Drehbüchern nicht mitarbeiten will, denn so eine Arbeit läuft doch nur auf viele Kompromisse hinaus. Man kann Bücher einfach nicht eins zu eins in einen Film umsetzen, das klappt nicht. Man muss zum Beispiel das Personal zusammenstreichen. Ein Buch lesen Sie vielleicht in vier, fünf Stunden, der Film dauert jedoch nur 90 Minuten. Es wird also stark komprimiert und nicht immer so, wie man es sich selbst wünscht. Lassen Sie es mich so formulieren: die Bücher sind meine Kinder und die Filme meine Enkel. Und für die Enkel kann man nur bedingt etwas, sie haben nur eine Prise von mir. (lacht)

Sind Sie mit den Verfilmungen im Nachhinein zufrieden? Als Autorin haben Sie ja sicher schon eigene Bilder im Kopf…
Noll: Ja. Beim Schreiben habe ich schon den fertigen Film im Kopf, da ich weiß, wie die Protagonisten aussehen, und den Lesern geht es genauso. Bei jedem einzelnen Leser ist beim Lesen ein anderer Film im Kopf entstanden. Und deshalb ist es eigentlich normal, dass jeder, der das Buch schon kennt, vom Film meistens ein wenig enttäuscht ist.

Lesen Sie in Ihrer Freizeit gerne?
Noll: Ja. Aber jeder Mensch liest zu wenig, das kann man schon mal sagen. Auch ich denke immer, dass ich noch viel mehr lesen müsste. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Bücher – Bücher, die mir Kollegen schicken oder die ich mir selbst kaufe – und ich bedauere es immer, wenn ich wieder nicht dazu komme, mich mit ihnen zu beschäftigen. Aber man kann eben im Leben nicht alles gleichzeitig tun.

Welches Buch ist Ihnen zuletzt als besonders gelungen in Erinnerung geblieben?
Noll: Sehr gelungen fand ich zum Beispiel „Adam und Evelyn“, das neue Buch von Ingo Schulze, den ich persönlich kenne und mag.

Gegen Ende des Gesprächs muss natürlich auch noch eine Frage in Bezug auf Ihren Geburtsort kommen, Sie haben wahrscheinlich schon darauf gewartet. Ihr Geburtsort wird immer wieder und sehr gerne angesprochen…
Noll: Und das, obwohl ich nichts dafür kann! (lacht)

Sie wurden in Shanghai geboren und haben die ersten Jahre Ihres Lebens in China verbracht. Haben Sie noch eine Beziehung zu diesem Land? Waren Sie in der Zwischenzeit noch mal dort?
Noll: Ich war als viel, viel älterer Mensch noch zwei Mal dort. Lange Zeit konnte man ja gar nicht hin, das war unmöglich. Und selbstverständlich habe ich eine Beziehung zu dem Land, vor allem habe ich natürlich schöne Kindheitserinnerungen. Aber es ist auch nicht meine Heimat gewesen, ich war ja eine Fremde dort. Das ist bei mir also anders als bei Flüchtlingen, die beispielsweise aus Ostpreußen vertrieben wurden. Wir waren in China nicht einheimisch und das habe ich als Kind natürlich auch schon begriffen: wir sahen anders aus und lebten anders.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute beispielsweise von den groben Menschenrechtsverletzungen in China hören? Bewegt sie dies unter Umständen mehr als andere Deutsche?
Noll: Ja. Das regt mich schon auf und natürlich finde ich Menschenrechtsverletzungen ganz entsetzlich. Andererseits finde ich, dass sich der ganze Westen als ziemlich selbstgerecht aufspielt und so tut, als würde bei uns die absolute Demokratie herrschen. Dabei hat doch bei uns längst die Wirtschaft das Sagen und nicht mehr die Politik. Und unter einer Demokratie verstehe ich eigentlich eine Staatsform, in der das Volk bestimmt und sagt, was gut ist. Diese Macht haben wir als Volk ja nicht, sondern immer nur diejenigen, die das große Geld haben, also die Wirtschaft. Insofern finde ich den Hochmut, den wir gegenüber anderen haben, nicht immer gerechtfertigt. Man sollte zuerst vor der eigenen Tür kehren.

Ihre Großmutter wurde 105, Ihre Mutter 106, werden Sie bis 107 weiterschreiben?
Noll: 107 werde ich wahrscheinlich wohl oder übel. (lacht) Aber ob ich da noch schreibe, weiß ich natürlich nicht. In meinem Alter stellt man ja keine langfristigen Prognosen mehr auf. Aber solange es mir Freude macht, schreibe ich natürlich weiter. Und wenn der Kopf versagt, dann lasse ich es eben bleiben. (lacht)

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