Ilse Biberti

Ich bin für die Abschaffung aller Heime.

Regisseurin Ilse Biberti über die langjährige Pflege ihrer Eltern, das Tabuthema Tod, ein Sterben in Würde und Lebenskonzepte für die Zukunft

Ilse Biberti

© Südwest Verlag/Christian M. Weiß

Ein kleines Café in Berlin-Steglitz, morgens um zehn. Hierher kommt Ilse Biberti, wenn sie Zeit findet, dem Alltag zu entfliehen. Vor viereinhalb Jahren begann sie ihre beiden Eltern zu Hause zu pflegen – als „Kind mit erweiterten Kompetenzen“, wie sie selbst sagt. Ihren Beruf als Autorin und Regisseurin hat sie dafür vorübergehend aufgegeben. Der an Alzheimer erkrankte Vater starb im Februar 2008. Heute lebt Biberti mit ihrer Mutter zusammen, die nach einem Schlaganfall pflegebedürftig ist. Aktuell hat sie zusammen mit dem ehemaligen Bremer Bürgermeister Henning Scherf ein gemeinsames „Mutmachbuch“ über das Alter („Das Alter kommt auf meine Weise“, erschienen im Südwest-Verlag) veröffentlicht. „Wenn ich zurückblicke, bin ich eins mit mir“, sagt Biberti, „das ist ein ziemlich glückliches Gefühl.“

Entschuldigen Sie, dass ich Ihren Tagesplan durcheinander bringe, Frau Biberti. Normalerweise müssten Sie jetzt bei Ihrer Mutter sein.
Biberti: Sie haben Recht. Aber bis 12 Uhr ist jemand bei ihr. Das habe ich so organisiert.

Wie fühlt es sich an, seit Jahren nach einem straffen Zeitplan zu leben, den die Pflege vorgibt?
Biberti: Ich bin es ja gewohnt. Auch als Regisseurin hat man eine klare Disposition. Allerdings meist nur für einen Monat, manchmal für ein halbes Jahr. Je nachdem, an was für einem Projekt man gerade arbeitet.

Sie tun es seit Jahren nonstop.
Biberti: Ja, ich habe sozusagen Bereitschaftsdienst seit viereinhalb Jahren. Als mein Vater noch lebte, war auch in der Nacht nicht Schluss. Das geht voll an die Substanz.

Darf ich fragen, wie es Ihrer Mutter derzeit geht?
Biberti: Es geht ihr richtig gut, gemessen daran, was angesichts ihres Alters und nach der Krankheit möglich ist. Natürlich geht es ihr nicht so gut, wie es uns beiden gut geht. Es ist ein anderes gut gehen. Sie hat Schmerzen in den Gelenken, kann ganz schwer gehen, sie hat ihre Sprache noch nicht voll zurück. Aber sie hat Freude am Leben. Und eigentlich wünscht sie sich mehr Leute um sich.

Hat sie denn Kontakt zu anderen Menschen?
Biberti: Neulich hat uns mein Lektor aus München mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern besucht. Wir haben zusammen Memory gespielt, Kaffee getrunken und Dinosaurier-Bücher angeguckt. Alle haben gemeinsam gelacht. Als meine Mutter nicht mehr konnte, sagte ich zu ihr „Du bist eine Dame, du kannst dich jetzt hinlegen.“ Ihr war das erst ein bisschen peinlich, wegen der Gäste. Aber sie lag dann auf dem Sofa mit bei uns im Wohnzimmer und war sehr glücklich, als die Kinder zu ihr hin gerannt kamen. So was müsste öfter sein. Sonst hat sie neben mir ja nur die Therapeuten, die kommen. Vier mal die Woche Logopädie, zwei mal die Woche Physiotherapie, einmal die Woche ein Ehrenamtlicher. Und hin und wieder die Leute, die mich ersetzen.

Sie waren in den letzten Jahren jederzeit für Ihre Mutter da – und bis zu seinem Tod auch für Ihren Vater. Andere hätten es sich einfacher gemacht und sich für ein Pflegeheim entschieden. Gab es den Moment, wo Sie dachten: „Ich schaffe es nicht mehr“?
Biberti: Das geschieht wellenförmig. Am Anfang wusste ich gar nicht, was mich erwartet. Als meine Eltern 75 waren, sagte ich zu ihnen: „Wir müssen uns mal zusammensetzen und überlegen, was wäre wenn…“ Sie meinten:  „Uns geht’s gut, was soll das, da reden wir nicht drüber.“ Als sie 77 waren, fragte ich noch mal, mit 80 auch. Mein Vater gab mir schließlich einen Ordner und erklärte: „Hier ist alles drin, wenn was ist, weißt du bescheid.“ In den Ordner reingucken lassen hat er mich aber nicht. Ich wollte wenigstens eine Patientenverfügung machen, mein Vater sagte dazu nur: „Wir wollen dann einfach sterben und Schluss.“ Natürlich haben sie nie eine Patientenverfügung ausgefüllt. Aus heutiger Sicht hätte ich mehr Druck machen müssen. Aber es ist ja auch unangenehm. Du kommst dir so vor, als wenn du es ihnen reindrücken willst. Nach dem Motto: Ihr seid älter und es geht euch jetzt schlechter.

Es scheint in den meisten Familien ein Tabu zu sein über das Älterwerden zu sprechen.
Biberti: Es ist auf jeden Fall ein Tabu. Nicht nur in Familien, sondern überhaupt für jeden Menschen. Niemand will gerne alt und abhängig sein. 80 Prozent der Bevölkerung definieren Alter ja auch damit, dass sie dann nichts mehr alleine machen können. Wobei das Alter ja viel früher anfängt.

Und der Tod, ist das ein Tabuthema?
Biberti: Weniger, glaube ich. Das ist so abstrakt und weiter hinten. Es ist vielmehr ein Tabu, über das Sterben zu reden. Weil man ja nicht einfach tot ist, sondern es zwei, drei, fünf oder zehn Jahre dauern und ein langsamer Prozess sein kann. Auch der eigentliche Prozess des Sterbens verläuft nicht im Sinne von „Ach, heute ist Montag und Mittwoch bin ich tot“. Schwarzhumorig sage ich: Im schönsten Falle wäre das so. Im Normalfall dauert es aber länger. Über die Frage „Wie will ich das erleben?“ muss gesprochen werden.

Ihr Vater hat schon einige Jahre vor seinem Tod immer wieder zu Ihnen gesagt: „Ich will nicht mehr“.
Biberti: Das meine ich. Schon die letzten 16 Jahre sagte er, er habe genug erlebt und könne jetzt bald mal sterben. Vielleicht gehört das zum Weg zum Tod mit dazu. Wir konnten es irgendwann jedoch nicht mehr hören. Als er dann in die Alzheimer-Phase gekommen ist, hat er immer wieder mit mir diskutiert, wie ich ihn am besten umbringen könnte. Für mich war das schwer, weil ich mich auch erst in die Situation einfinden musste.

Hatte er einen würdigen Tod?
Biberti: Er ist im letzten Moment gestorben, wo es für ihn und für uns alle noch würdig war. Er hat mich immer noch erkannt. Er war immer noch in der Wohnung, halbwegs orientiert. Aber er wusste nicht mehr, weshalb man auf die Toilette geht. Was in Folge dessen natürlich wahnsinnig qualvoll war. Weil das, was er da sah, nicht in Ordnung war und stank, hat er natürlich gemerkt. Es musste auch irgendwie behoben werden. Wie bei einem Kind. Nur belastet es bei einem Kind weniger als bei einem älteren Menschen. Für so etwas muss man erst eine Normalität finden.

Hätten Sie Ihrem Vater im Zweifelsfall beim Sterben geholfen?
Biberti: Ich glaube, er hat wirklich innere Qualen durchgemacht, sterben zu wollen. Ich habe ihm irgendwann das Versprechen gegeben, dass ich ihm helfen würde, wenn es zu heftig werden würde. Ich hatte mehr Angst, dass das irgendwie auf mich zukommt. Ich war heilfroh, dass es nicht der Fall war.

Nachdem, was Sie erlebt haben: Was würden Sie selbst in so einer Situation wollen?
Biberti: Ich weiß nicht, was mit mir wäre, wenn ich mein Bewusstsein nach und nach verlieren und das merken würde. Ich glaube, ich würde auch sterben wollen.

Wann darf man sterben, Frau Biberti?
Biberti: Einerseits ist die Frage: Darf aktiv Sterbehilfe geleistet werden? Oder darf man überhaupt sterben? Mein Vater ist damals von einem Hospiz noch mal in ein Krankenhaus verlegt worden, da war er schon lange auf seiner Reise in den Tod. Er hat nichts mehr getrunken, ganz anders verstoffwechselt, war eindeutig in der finalen Phase. Im Krankenhaus gibt jedoch es eine Urangst, irgendetwas zu versäumen. Die Ärzte wollen  dort jeden, der dort hinkommt, erstmal gesund machen. Also wird auch einem total dehydrierten Körper eine Infusion gelegt, egal ob jemand aus dem Hospiz kommt und eindeutig im Sterben ist mit 88 Jahren. Ich habe erst im Nachhinein durch Henning Scherf erfahren, dass sie gar nicht das Recht haben, eine Infusion zu legen. Aber es tun prinzipiell alle. Einfach in der Angst, etwas zu unterlassen. Damit wird ein Sterben, das schon begonnen hat, wieder auf die lange Bank geschoben. Wäre ich nicht da gewesen, hätten sie ihm sofort eine Magensonde gelegt und die ganzen Medikamente intervenös gegeben. Dann hätte er vielleicht noch zwölf Jahre als „Gemüse“ in einem Pflegeheim gelegen. Da sage ich nein. Er war 88. Man muss doch auch seinen natürlichen Tod sterben dürfen.

Nun hatten Sie nicht immer das beste Verhältnis zu Ihren Eltern, es gab auch Konflikte, Auseinandersetzungen. Können Sie beschreiben, wie sich das Verhältnis zu den Eltern ändert, wenn man die Verantwortung für die Eltern übernimmt und wieder ins eigene Kinderzimmer einzieht, um sie zu pflegen?
Biberti: Ich bin ein ordentlicher Dickkopf und mit vierzehneinhalb von zu Hause ausgezogen. Mein Vater und ich hatten auch vieles an Dickköpfigkeit gemeinsam. Deshalb hatten wir mal zehn Jahre in unserem Leben Pause, weil unsere Auffassungen von bestimmten Dingen zu unterschiedlich waren. Er war immer eher CDU, ich eher links. Irgendwann mit Anfang 30 war es mir dann wichtig, Frieden mit meinen Eltern zu schließen. Ich sagte zu meinem Vater: „Lass uns gegenseitig akzeptieren. Du bist du, ich bin ich und ich bin jetzt eine erwachsene Frau.“ Ich hatte nicht mehr die kindliche Erwartung, mein Papa muss so sein, wie ich das gerne möchte. Er durfte so sein, wie er ist. Dass ich später aber tatsächlich wieder zurück ins Kinderzimmer ziehen würde, hätte ich mir nie vorstellen können. Ich hatte schließlich auch seit meinem 14. Lebensjahr nie wieder eine Nacht dort geschlafen.

Die Rollenverteilung war ab dem Moment eine andere.
Biberti: Eine ganz andere – schließlich bin ich als die erwachsene Ilse ins Kinderzimmer eingezogen. Es ist mir allerdings nicht immer gelungen, in der Adlerperspektive zu bleiben und zu erkennen: Er redet jetzt so, weil er Alzheimer hat. Mein Vater ist manchmal in eine pubertierende Phase zurückgefallen und hat mir Gemeinheiten gesagt, nach dem Motto: „Wenn ich sie jetzt aufrege, bleibt sie da.“ Wie man es in der Trotzphase in der Pubertät macht. Wenn ich nicht den Abstand hatte, und er mich supergemein getroffen hat, habe ich zurückgebrüllt. In solchen Situationen war ich auch mal überfordert. Aber ich habe mich auch wieder eingekriegt. Weil ich wusste: Das kann er nicht so meinen.

Zitiert

Es ist ein Tabu, über das Sterben zu reden.

Ilse Biberti

Besteht nicht die Gefahr, hierbei die Hierarchien zu verwechseln? Obwohl sich die Rollenverteilung ändert, bleibt man ja trotzdem Kind, die Eltern bleiben die Eltern.
Biberti: Es ist ganz wichtig, dass man das nicht verwechselt. Die Positionen bleiben klar: Vater, Mutter, Kind. Ich bin lediglich das Kind mit erweiterten Kompetenzen. Für mich war das auch ein Lernprozess. Ich bin 1958 geboren und relativ autoritär erzogen worden. Deshalb auch die knallharte Pubertät, in der ich alles, was möglich war, wild durch gelebt habe. Trotzdem musste ich die Führungsrolle übernehmen. Schwierig, denn: Wie übernimmt man die Führungsrolle ohne den anderen zu entwerten? Das Gefühl zu geben, dass er entscheidet, obwohl man die Entscheidung eigentlich vorher getroffen hat? Das hat ganz viel mit Liebe und Anerkennung zu tun.

Wie schafft man es, dass die Liebe zu den Eltern immer Liebe bleibt und in Extremsituationen Gefühle wie Hass oder Ekel keine Chance bekommen?
Biberti: Ich denke, es ist eine Charakteranlage. Wenn man noch alte Rechungen offen hat, wird es sehr problematisch. Wenn der ehemals Starke jetzt schwach wird und man selber plötzlich diese Macht über ihn haben kann, neigen viele zu Sadismus und leben es auch aus. Es ist ja nichts Neues, dass es ganz viel Gewalt zu Hause gibt, wenn Angehörige pflegen. Von beiden Seiten allerdings. Deshalb finde ich auch, dass jeder der seine Angehörigen zu Hause pflegt, eine psychologische Begleitung haben sollte. Es ist ja quasi eine Klostersituation. Es ist sicher gut, wenn man da begleitet wird, wenn man auch mal ordnen kann, wenn man auch mal eine Anweisung zum Handeln kriegt. Wichtig ist auch, dass man sich Freiräume schafft.

Gab es Zeiten, wo man sich bei dem Gedanken erwischten: Hoffentlich geht es irgendwann auch vorbei?
Biberti: Nein, weil in dem Moment, wo dieser Gedanke gekommen wäre, hätte ich es ändern müssen. Mir ging es immer um die Frage, was können wir jetzt als nächstes Positives unternehmen? Ich habe immer das Leben angeboten. Opernarien, gutes Essen, Spiele. Aber als mein Vater dann wirklich in die finale Phase kam, war das natürlich nicht mehr von Interesse. Da musste auch ich diesen inneren Wandel schaffen, dass auch ich ja sage zu seinem Tod, während er noch lebt. Es war für mich eine physisch richtig schmerzhafte Zeit. Selbst ich als Dickkopf konnte mit niemanden verhandeln, dass der Tod jetzt nicht sein muss. Es ist so schwer zu akzeptieren. Es ist ein Prozess zu sagen: Ich bin einverstanden. Und dann sogar den nächsten Schritt zu gehen und zu sagen: Ja bitte sterbe jetzt. So dass es für ihn gut zu Ende geht.

Sie haben quasi ihr ganzes Leben zurückgestellt, um sich um ihre Eltern zu kümmern.
Biberti: Ich hab alles komplett stehen und liegen lassen. Hape Kerkeling sagt: „Ich bin dann mal weg.“ Ich habe gesagt: „Ich bin jetzt da.“ Wie gesagt: Nicht wissend, auf welchen Zeitplan ich mich da einlasse. Es hat mir einen anderen Reichtum beschert.

Sie haben sich aber auch ganz bewusst für den Weg entscheiden. Können Sie andere verstehen, die sagen: „Ich kann das nicht“ – und ihre Eltern ins Pflegeheim geben?
Biberti: Ich habe mir natürlich auch Pflegeheime angeguckt und gesehen, wie es da zugeht. Es muss jeder für sich verantworten können. Ich könnte das nicht. Wenn ich heute eine Gemeinschaft finden könnte, wo es mehrere Generationen gibt und auch uns, würde ich da hin ziehen. Einerseits, damit ich wieder mal bisschen mehr Freiheit habe, was meine Mutter auch möchte. Sie würde glücklicher von der Welt gehen, wenn sie sehen würde, dass auch ich wieder im Leben bin, Freunde und gute Beziehungen habe. Das ist jetzt das nächste Ziel.

Sind Mehrgenerationenhäuser das Lebenskonzept der Zukunft – auch für Ihre eigene?
Biberti: Ich könnte es mir vorstellen, wenn es für mich auch einen Rückzugsort gäbe, wo ich auch alleine sein darf, wo ich kommen und gehen darf. Ich bin ja eher eine Nomadin, an einem Ort wird’s schwierig. Ich glaube, für mich wäre es ideal, Gemeinschaften weltweit zu kennen. Im Sinne von: „Kann ich mal in New York bei euch vorbeikommen? – biete Zimmer in Berlin“. Laut Henning Scherf müssten wir alle schon spätestens mit 50 da einziehen. Da bin ich aber auch nicht sicher.

Anderseits: Wenn man sich nicht rechtzeitig darum kümmert, steht man vielleicht irgendwann da und hat zu lange überlegt.
Biberti: In eine WG, drei Zimmer, fünf Leute, würde ich im Moment nicht einziehen wollen. Ich habe jedoch mehrere Freunde in Berlin, die in WGs leben und die ich ab und zu besuche. Ich kenne dann immer nur ein oder zwei aus der Wohngemeinschaft und wenn sich dann alle in der Küche treffen, find ich das total klasse. Ich kannte mal eine alte Dame in Paris, die Tänzerin war. Sie besaß direkt neben der Oper eine ziemlich große Wohnung. Dort wohnte sie als uralte Dame und hatte regelmäßig lauter Tänzer vom Theater da. Die haben sie geliebt. So etwas könnte ich mir auch vorstellen. (lacht).

Sie haben selbst keine Kinder. Gab es Zeiten, wo Sie darüber nachdachten, was wird mit mir, wenn ich mal Hilfe brauche?
Biberti: Genauso wie alle, denke ich natürlich, ich werde nie alt… (lacht).

Ist es für Sie persönlich so weit weg?
Biberti: Also, das erste Mal darüber nachgedacht, dass ich kein Kind habe, habe ich, als mein Vater gestorben ist. Ich dachte: Dieses Gefühl das ich gerade verspüre, wird ein direkter Blutsverwandter bei meinem Tod später nicht haben. Aber ich glaube an Wahlverwandtschaften. Meine Familie in dem Sinne ist durch die Aktivitäten mit meinen Eltern ein bisschen geschrumpft, aber die wird jetzt auch wieder größer werden.

Das Leben anbieten und das Alter positiv sehen, so wie Sie es vorhin beschrieben – das ist genau das, was Sie ja auch mit Ihrem Buch bezwecken wollen. In der Gesellschaft werden alte Menschen allerdings oftmals nur als Kostenfaktoren wahr genommen.
Biberti: Dabei sind sie vor allem auch ein Einkommensfaktor. Die Wachstumsbranche ist die Altersbranche. Anders als Firmen wie Opel derzeit wird hier ja niemandem etwas geschenkt. Die Leute haben Geld in die Pflegekasse eingezahlt und jetzt nehmen sie Geld da raus. Ganz wenige sind auf Sozialleistungen angewiesen, die meisten haben vorgesorgt. Sie schaffen der Branche der Seniorenheime, Pflegeinstitutionen Arbeitsplätze. Eigentlich sind sie Arbeitgeber. Sie kurbeln die Wirtschaft an – man denke an die Pharmaindustrie und die ganzen Services von Essen auf Rädern bis Fußpflege. Nicht umsonst haben die ganzen Großinvestoren auf Pflegeheime gesetzt. Wenn da einer liegt mit Magensonde rein, Katheter raus, Infusionen rein, bringt er 6000 Euro ein.

Wo sich Geld verdienen lässt, finden sich auch schwarze Schafe. Sie bezeichnen in Ihrem Buch Pflegeheime als die „Vorstufe zur Hölle“. Ist der Zustand in Deutschland insgesamt tatsächlich so schlimm?
Biberti: Ich kenne auch fünf, sechs gute Heime. Aber es ist falsch gedacht: Ein alter Mensch will nicht nur mit alten Menschen zu tun haben und sehen, ob der andere vor ihm nach ihm stirbt. In Alten- wie in Pflegeheimen ist man zum Nichtstun gezwungen. Es ist keine Gemeinschaft, die zusammen etwas tut, außer irgendwie Zeit zu verbringen. Ich bin für die Abschaffung aller Heime.

Und dann?
Biberti: Machen wir es lieber wie die SOS-Kinderdörfer. Kleine Gruppen mit generationsüberschneidender Besetzung, die füreinander da sind.

Aber ist das realistisch? Das kostet doch viel mehr.
Biberti: Viel weniger. Ein alter Mensch braucht kein neonausgeleuchtetes Haus mit rutschfesten Böden und irgendwelches Kliniktralala. Außerdem: Was passiert denn mit den ganzen Möbeln von den Leuten, die in Pflegeheime gehen? Allein wenn die Bemöbelung der Altersheime nicht von einem Großkonzern käme, sondern die Bewohner ihre Möbel mitbringen würden, hätte man schon Kosten erspart ohne Ende.

Es geht doch aber vor allem auch um Pflegekräfte.
Biberti: Der Personalschlüssel sowohl in Pflege- als auch Altersheimen ist ein Desaster. In Berlin gibt es ein sehr teures renommiertes Pflege- und Altenheim, wo ein Schwerstkranker elf Minuten am Tag individuelle Pflege bekommt. Man kann sich vorstellen, was das bedeutet. Es geht ja aber gar nicht nur um die direkte physische medizinische Pflege. Dann kann ja jemand kommen und das machen. Es geht vor allem um die Zeiten dazwischen. Da bin ich doch auch Mensch.

Das heißt genau?
Biberti: Es geht um Gemeinschaft. Und wenn da ein Kind kommt und am Bett Hausarbeiten macht, ist derjenige eingebunden. Nicht zuletzt: Wenn eine arbeitslose Mütter, die Hartz IV bekommt, in der Pflege arbeiten würde, ohne dass sie das gleich angerechnet bekäme, könnte man sogar in der direkten Nachbarschaft Lösungen finden. Ich schlafe manchmal, wenn sich eine Studentin um meine Mutter kümmert, in einer anderen Wohnung, die sich neben einem Pflegeheim befindet. Da höre ich immer alte Damen rufen: „Hallo, hallo, ich bin so alleine. Ist da einer?“ Immer wenn das Psychopharmaka aufhört zu wirken. Morgens um vier Uhr und mittags um eins. Die sind blind, liegen in den Betten und keiner kommt. Wenn die in der Familie wären, würde immer mal jemand vorbeikommen und nach ihnen schauen –  und schon ginge es ihnen besser.

Sie haben die Zeit mit ihren Eltern als die kostbarste Zeit in ihrem Leben bezeichnet, als „Klosterphase“. Würden sie im Nachhinein alles wieder genauso machen?
Biberti: Das ist eigentlich nicht zu beantworten. Ich könnte es Ihnen nur andersrum beantworten. Wenn ich zurückblicke, bin ich eins mit mir, was ich da gemacht habe. Das ist schon mal ein ziemlich glückliches Gefühl. Natürlich bin ich nicht stolz darauf, dass ich irgendwann auch mal ausgeflippt bin und mit der Krücke meines kaputten Fußes auf den Teppich gehauen und dabei den Kronleuchter mit touchiert habe, so dass das Kristall durch die Gegend flog. Aber auch das darf sein. Anders gemacht? Nee. Ob ich’s wieder machen würde, das weiß ich jedoch nicht. Weil jetzt weiß ich ja, was passieren kann. (lacht).

Was haben Sie eigentlich von Henning Scherf gelernt?
Biberti: Er ist unverrückbar positiv und in seinem christlichen Glauben so sicher. Daraus nimmt er das Gefühl: Da wo ich bin, bin ich richtig. Und es ist auch so. Man kann ihn in Nicaragua aussetzen oder sonst wo. Er mischt sich überall positiv ein. Ist sofort in Kontakt, wie meine Mutter früher. Er ist im Hier und Jetzt glücklich. Diesbezüglich ähneln wir uns in gewisser Weise. Er gibt mir auch Mut, dass das weiter so sein kann. Natürlich befinden wir uns in anderen Realitätsebenen. Er ist jetzt Rentner und als ehemaliger Bürgermeister gut abgesichert. Mit 70 muss er sich jetzt zudem darauf vorbereiten, was demnächst kommt. Ich bin jetzt 50 und habe mich gerade wieder in den Status eines Studentenlebens katapultiert. Ich brauche nun im realen Wirtschaftsleben eine Menge Optimismus, dass ich wieder in eine gute Erwerbslage zurückfinde. Henning ist mit 50 in eine Hauswohngemeinschaft eingezogen, hat da ein Nest, wo er frei rausfliegen und wieder rein fliegen kann. Was natürlich großartig ist. Er kann frei sein und ist trotzdem in Gemeinschaft. Ich lerne von ihm, wie ich das vielleicht auch schaffen kann.

Machen Sie sich darüber Gedanken, wie Ihr Leben aussieht, wenn Sie 70 sind?
Biberti: Ich glaube mit 70 bin ich genauso wie heute. Hoffentlich auch genauso mobil. Ich müsste jetzt mal mehr mit Yoga und Sport anfangen, um meine Gelenke in Schuss zu halten. Das werde ich auch tun. Meine monetäre Situation macht mir noch etwas Sorgen.

Wie wird Ihre berufliche Zukunft aussehen?
Biberti: Nach so einer Phase ist man weniger bereit, irgendwelches Pillepalle zu akzeptieren. Vielleicht hängt das auch mit meinem zunehmenden Alter zusammen. Aber ein bisschen inhaltlich mich bewegend sollte das, was ich tue, schon sein. Ich würde mir wünschen, dass aus meinem ersten Buch „Hilfe, meine Eltern sind alt“, für das ich bereits ein Drehbuch geschrieben habe, ein Kinospielfilm wird.

Gibt es daran denn schon Interesse von Produzentenseite?
Biberti: Ziemlich viele Produzenten wollten mir „das Ding“ aus der Hand reißen und gerne machen. Aber es wird mir nicht aus der Hand gerissen.

Aber dass das Interesse da ist, ist doch positiv.
Biberti: Ja. Jetzt gilt es den richtigen Partner auszuwählen. Es ist schließlich mein Herzensstoff.

Wird es ein Film, bei dem man mehr lachen oder mehr weinen muss?
Biberti: Ich denke mehr lachen, aber durch das lachen auch weinen.

Und Sie wollen Regie führen?
Biberti: Definitiv. Es gäbe eine Ausnahme: Das wäre Sam Mendes, der Mann von Kate Winslet. Der hat „American Beauty“ gemacht und „Zeit der Zärtlichkeit“. Ihm würde ich es anvertrauen.

Ilse Biberti wurde 1958 in Berlin geboren. Sie machte eine Schauspielausbildung und studierte Theaterwissenschaft, Publizistik und Politologie in Berlin. Anschließend war sie in zahlreichen Rollen am Theater und im Fernsehen zu sehen. Sie ist als mehr

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.