Giora Feidman

Ich diene der Gesellschaft.

Klarinettist Giora Feidman über Religion, sein Verhältnis zu Deutschland, die innere Stimme und eine Erfahrung als Straßenmusiker

Giora Feidman

© Felix Bröde

Herr Feidman, Sie sind ein wichtiger Teil des deutschen Kulturlebens. Ihr Kollege Isaac Stern hingegen wollte nie wieder in Deutschland auftreten, da ein Großteil seiner Familie während des Nationalsozialismus ermordet wurde. Können Sie das verstehen?
Feidman: Ich respektiere diese Entscheidung natürlich, aber ich kann sie persönlich nicht nachvollziehen. Ich respektiere auch, dass man in Israel lange nicht Musik von Richard Strauss und bis heute nicht Richard Wagner spielen darf. Aber ich halte das für falsch. Musik hat nichts mit Intellekt oder Politik zu tun. Und jüdische Künstler hätten wieder nach Deutschland kommen sollen.

Nach allem, was vielen angetan wurde?
Feidman: Man darf die Geschichte der Juden in Deutschland nicht auf die Nazizeit begrenzen. Jüdische Intellektuelle haben jahrzehntelang einen großen Beitrag zu diesem Land, dieser Gesellschaft, der Kunst geleistet und waren integriert.

Können Sie sich noch an Ihren ersten Besuch erinnern?
Feidman: Ich kam als Klarinettist des Israel Philharmonic Orchestra  1967 zum ersten Mal nach Deutschland. Das war unglaublich schwierig. Ich bin 1936 geboren, ich habe in meiner Kindheit nur Schreckliches über die Deutschen gehört. Mein Vater ist vor den Pogromen nach Argentinien geflohen. Dann hat mich Peter Zadek 1984 nach Berlin eingeladen.

Sie spielten in Jehoschua Sobols Stück „Ghetto“, das Peter Zadek an der Berliner Volksbühne inszenierte. Das Stück beschäftigt sich mit dem Schicksal der Juden im Ghetto Vilnius während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg.
Feidman: Ich trug einen gelben Stern, manche Schauspieler waren in SS Uniform. Ich konnte nachts lange nicht schlafen. Meine Frau versuchte, mich zur Abreise zu überreden. Aber ich habe durchgehalten und irgendwann den Mut der Deutschen bewundert, das auf die Bühne zu bringen und sich mit diesem Thema auseinander zu setzen.

Das Stück hat Sie in Deutschland bekannt gemacht. Hatten Sie das Gefühl, als jüdischer Musiker eine Sonderstellung einzunehmen?
Feidman: Langsam habe ich verstanden, dass Gott mir eine Rolle gegeben hat und so bin ich mit Hilfe Peter Zadeks Teil des deutschen Kulturlebens geworden. Nicht, weil oder obwohl ich Jude bin, nicht weil einer Schuld hat und einer Opfer ist. Ich bin Musiker und diene der Gesellschaft. Ich lebe in Israel, aber ich bin auch in Deutschland zu Hause.

Haben die Deutschen Ihrer Ansicht nach genug aus ihren Fehlern gelernt?
Feidman: Ich glaube, der Aufarbeitungs- und Heilungsprozess in Deutschland ist abgeschlossen. Man darf neugeborenen Kindern kein schlechtes Gewissen, keine Schuld einreden und auch keinen Hass, das wäre kriminell. Wir haben Probleme im Nahen Osten, in Jugoslawien, in Afrika. Überall bringen sich Menschen gegenseitig um. Nach einer, zwei, vielleicht nach fünf Generationen findet man eine Lösung. Kinder werden ohne Vorurteile geboren und es ist die Verantwortung der Erwachsenen, das zu erhalten.

Welche Verantwortung tragen wir unseren Kindern gegenüber noch?
Feidman: Jüdische Mütter wollen immer, dass ihre Kinder die besten sind. Der beste Rechtsanwalt, der beste Arzt usw.. Aber warum will man der Beste sein, wenn man einzigartig ist? Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch eine Aufgabe hat und jeder den Beruf finden muss, den er will, ohne Beeinflussung von außen. Man muss in jeder Person die Einzigartigkeit dieser Seele entdecken. Jugendliche tendieren zur Imitation, sie wollen wie ihre Stars aus den Hochglanzmagazinen aussehen. Dadurch verlieren sie viel Einzigartigkeit.

Wie können wir das verhindern?
Feidman: Schule oder Universität allein reicht nicht. Man muss lernen, seine fünf Sinne zu gebrauchen, die Rolle des Lebens hinterfragen. Denn die Schöpfung macht keine Fehler. Jeder Mensch ist im Grunde vollkommen. Aber wir brauchen zusätzlich Religion und Spiritualität.

Viele Probleme auf der Welt haben aber einen religiösen Hintergrund, man spricht vom „Kampf der Religionen“…
Feidman: Man muss die Religion von der Institution Kirche und den so genannten Religiösen trennen,  damit sie nicht ihre Bedeutung verliert. Zum Beispiel bin ich seit fast 52 Jahren in Israel. Die Frage warum wir Krieg führen, kann Ihnen dort keiner beantworten.

Wäre das nicht Aufgabe der Politiker?
Feidman: Sowie die Politik ins Spiel kommt, geht es um Korruption und Business, nicht um Jesus, Jehova oder Allah. Dann werden Waffen verkauft und große Geschäfte gemacht. 99 Prozent aller Nachrichten sind negativ. Und trotzdem muss man dem einen positiven Prozent folgen. Es kann mir doch keiner sagen, dass es nicht genug Nahrung und Platz für alle gibt?

Wäre die Welt besser, wenn sich Politiker mehr für die Kunst interessieren würden?
Feidman: Ja, aber wenn es eine Krise gibt, kürzen Politiker immer erst die Mittel für Kunst und Kultur. Selbst ein Präsident wie Ronald Reagan, der es als ehemaliger Schauspieler besser hätte wissen müssen, hat die Oper in San Francisco oder das Los Angeles Philharmonic Orchestra fast in den Bankrott getrieben. Dabei brauchen wir die Kunst, die Musik, Malerei, Bildhauerei. Wir brauchen diese Form von geistiger Nahrung.

Ist das der Grund, weshalb Menschen in Konzerte gehen?
Feidman: Die Menschen kommen vielleicht manchmal wegen eines Zubin Mehta oder Daniel Barenboim ins Konzert, sie brauchen aber immer auch Nahrung für Seele und Geist.

Macht Musik die Menschen besser?
Feidman: Zumindest gehen Menschen verändert aus einem Konzert.

Welche Rolle spielt dabei die Qualität der Musik?
Feidman: Wir Künstler sind wie eine Leitung, durch die das Wasser, d.h. die Kunst, fließt. Wir produzieren nicht selbst, aber wir bringen es zu den Menschen. Wenn die Leitung sauber ist, ist auch die Qualität des Wassers gut. Wir sind alle rein zur Welt gekommen und müssen danach streben, wieder rein zu werden um die Qualität der Kunst zu sichern.

Zitiert

Wir haben alle verlernt, auf unsere innere Stimme zu hören.

Giora Feidman

Wie ist diese Reinigung möglich?
Feidman: Wir haben alle verlernt, auf unsere innere Stimme zu hören. Unsere innere Stimme spricht 24 Stunden am Tag zu uns. Als ich noch unterrichtet habe, habe ich immer versucht, meinen Schülern beizubringen, dass die innere Stimme die Verbindung zwischen unserer Seele und unserem Körper ist.

Wann kann man seine innere Stimme spüren?
Feidman: Nehmen Sie den zweiten Satz einer Mozart Sinfonie oder des Klarinettenkonzertes…oft wagt man nicht, danach zu atmen. Da ist etwas in der Luft, eine Spannung in der Stille, und da spürt man sie.

Als Zuschauer genügt es, zuzuhören. Ein Interpret muss sich ständig konzentrieren. Können Sie beim Spielen überhaupt genießen?
Feidman: Ich spiele nicht, ich „singe“, ohne dabei nachzudenken. Die Klarinette ist das Mikrofon meiner Seele. Für mich ist das Musizieren so natürlich wie atmen. Das teile ich mit dem Publikum. Die Zuschauer sind für mich einzelne Seelen, die Körper sehe ich gar nicht.

Sie nehmen das Publikum gar nicht wahr?
Feidman: Eigentlich bin ich geistig nicht da. Ich bin in Trance. Ich habe es nicht mal wahrgenommen, als mich Papst Benedikt eingeladen hat, 2005 beim Weltjugendtag in Köln vor 800.000 Menschen zu spielen. Ich habe allein gespielt und mich allein gefühlt, allein mit Gott. Für mich war das ein heiliger Moment.

Macht es eigentlich einen Unterschied, ob Sie in Kirchen oder Konzertsälen spielen?
Feidman: Ja, das ist ein großer Unterschied. Eine Kirche ist und bleibt eine Kirche, egal, ob Menschen in ihr sind. Ein leerer Konzertsaal ist nur ein Raum. Und vor einem Konzert ist vielleicht die Atmosphäre im Saal nicht positiv. Meine erste Note muss wie ein reinigendes Element wirken, sie muss die bestehende Energie durch neue, bessere Energie ersetzen. Oft verändert sich die Stimmung nach Beginn eines Konzertes enorm.

Würden Sie auch in einer Moschee spielen?
Feidman: Natürlich, es macht keinen Unterschied, ob ich in einer Kirche, einer Synagoge oder einer Moschee spiele. Aber ich glaube, es ist nicht erlaubt, ich habe es noch nie gemacht. Ich darf auch nicht in einer orthodoxen Synagoge spielen, nur in reformierten oder liberalen. Und ich trete sehr selten in Italien auf. Die katholische Kirche erlaubt mir häufig auch keine Konzerte in Kirchen.

Spielen Sie bei Ihren Konzerten nach Noten oder improvisieren Sie?
Feidman: Jede Interpretation ist Improvisation. Auf einer CD klingt ein Stück natürlich immer gleich. Aber wenn ich ein Konzert gegeben habe, weiß ich danach wirklich nicht mehr, was ich gespielt habe. Und darum ist jedes Konzert das erste meines Lebens.

Man sagt, dass selbst in den fröhlichen Stücken Franz Schuberts immer etwas Melancholisches liegt. Gilt das nicht auch für Klezmermusik?
Feidman: Hören Sie auf, in Kategorien wie „traurig“, „fröhlich“, „melancholisch“, „romantisch“ zu denken. Es gibt einen Platz wo Nichts ist, gar nichts und Platz ist für mehr als man vermutet. In einer Kritik über Barenboim habe ich gelesen, seine Interpretation sei „nicht romantisch genug“ gewesen. Warum erwartet man Romantik? Man sollte sich frei machen von Erwartungen und sich tragen lassen. Das geht übrigens auch mit Farben, die können einen auch in eine andere Welt versetzen.

Also weg vom Materiellen?
Feidman: Sich vom Materiellen zum Spirituellen zu entwickeln ist viel schwieriger, als umgekehrt. Aber dabei hilft die Musik.

Als erfolgreicher Künstler muss man aber auch nicht waschen, putzen oder sein Auto zum TÜV bringen. Da fällt es leicht, spirituell zu sein…
Feidman: (lacht) Das ist absolut richtig. Unsere Fähigkeiten sind ein Geschenk, deswegen tragen Künstler auch eine besondere Verantwortung. Als Musiker diene und helfe ich der Gesellschaft.

Und wenn Sie nicht Musiker geworden wären?
Feidman: (lacht) Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. In Argentinien wurden wir nach der Schule getestet. Die haben mir gesagt, ich soll entweder Jura, Mathematik oder Musik studieren. Von meinem musikalischen Hintergrund wussten sie gar nicht. Falls ich einmal wiedergeboren werden sollte, dann hoffentlich mit mehr Wissen über die Menschheit. Und wenn Gott will, dass ich wieder Musiker sein soll, bin ich auch einverstanden.

Sie glauben an Ihre Wiedergeburt?
Feidman: Nicht an die Wiedergeburt des Körpers. Aber an die der Seele. Ich habe drei Kinder und zehn Enkelkinder, und in einem sehe ich die Seele, die einmal im Körper eines Pianisten war. Er spielte mit ein oder zwei Jahren am Klavier, nur weiße oder nur schwarze Tasten, ganz faszinierend.

Unterrichten Sie noch?
Feidman: Da kann man mich wirklich kritisieren, ich unterrichte nur noch höchstens einmal im Jahr. Aber ich spiele in Schulen. Und ich frage mich, ist es nicht besser, zu spielen, als zu reden? Die Menschen lernen mehr, wenn ich spiele.

Braucht man besondere Voraussetzungen um Klezmermusik zu spielen?
Feidman: Ein Lehrer sagte, an dem Tag, an dem du vergisst, was ich dir jetzt sage und beibringe, wirst Du ein freier Musiker sein. Aber natürlich braucht man zunächst mal Technik und Information. Aber dann muss man sich davon befreien. Mein Vater hat mir nie eine Unterrichtstunde gegeben, er war ein Guru, der Energie transportiert hat. Meine Eltern hatten es selbst schwer, sie sind geflüchtet. Mein Vater hat mir beigebracht, dass ich als Künstler nicht mit meinem Können angeben soll, sondern eine Botschaft teilen muss: „Share the message“. Meine Eltern waren stark und wunderbar. Nur mit persönlichen Schwierigkeiten konnten sie nicht so gut umgehen.

Welche Art persönlicher Schwierigkeiten meinen Sie?
Feidman: Ich habe von Geburt an große Probleme mit meinen Augen, meinen Eltern fiel es sehr schwer, damit umzugehen. Heute weiß ich, dass Gott mir diese Probleme gegeben hat, damit ich nicht nach außen schaue, sondern nach innen. Je älter ich werde, desto besser geht das, im übertragenen Sinn könnte man also sagen, ich sehe mit dem Alter besser.

Welche Momente in Ihrem Leben haben Sie künstlerisch beeinflusst?
Feidman: Der NDR hat mich mal als Straßenmusiker auf der 5th Avenue/42nd Street spielen lassen. Als ich begonnen habe, wurde mir klar, dass ich zum ersten Mal die Menschen überzeugen muss, mir zuzuhören. Am Anfang war es schrecklich, niemand ist stehen geblieben. Die waren ja alle auf dem Weg in die Mittagspause um ihre Hamburger zu essen. Eine Frau hat mir einen Dollar in die Tasche gesteckt, der erste, den ich auf der Straße verdient habe. Ich habe ihn einem Obdachlosen gegeben. Der war betrunken und wollte ihn nicht, er meinte „Du bist ja auch auf der Straße, wie ich.“

Wie haben Sie denn die Leute dazu gebracht, Ihnen zuzuhören?
Feidman: Mit populären Stücken wie „If I were a rich man“ aus Anatevka. Am nächsten Abend im Konzertsaal haben die Zuschauer wieder auf mich gewartet. Und ich war ein anderer Mensch. Eigentlich sollte das jeder Musiker mal machen.

2 Kommentare zu “Ich diene der Gesellschaft.”

  1. Andreas Hempel |

    ich (subjektiv) kenne keinen Menschen, der soviel Emotionalität mit seinem Musikinstrument zum Ausdruck bringt wie G.F.. Er berührt mich mit dem Gebrauch des Musikinstumentes und mit den im Internetveröffentlichungen in (Wort) und Schrift zu tiefst – und dies besonders oder trotz all dieser Lebebenserfahrungen als Kleinkind umgeben von Nazideutschland.

    Simply I love him (you)!!!

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    1. Vegandi |

      Lieber Herr Hempel,
      Sie schreiben mir aus dem Herzen,
      allerdings darf ich darauf hinweisen, dass Giora Feidman nicht in Nazideutschland, sondern in Argentinien geboren ist.

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