Gabriela Montero

Ich war ein Wunderkind – und ich habe es gehasst!

Gabriela Montero über das Publikum in Deutschland, eine neidische Lehrerin, Kompositionspläne und die Frage, wo in ihrem Kopf die Improvisation stattfindet

Gabriela Montero

© Colin Bell/EMI Classics

Frau Montero, ich kenne nur zwei Personen, die es schaffen, in einem klassischen Konzert das komplette Publikum zum Singen zu bringen. Bobby McFerrin und Sie.
Montero: Oh, in dieser Gesellschaft befinde ich mich gerne, Bobby McFerrin ist wunderbar.

Wie machen Sie das?
Montero: Ich denke, am Ende ist das nur Kommunikation. Jeder wünscht sich doch, etwas zu sagen, etwas zu kommunizieren. Als klassischer Musiker bin ich eigentlich derjenige, der alles sagt – und das Publikum ist nur Zuhörer, in der ersten Hälfte meiner Konzerte ist das auch so. Aber dann kommt die Improvisation, da ist sozusagen jeder auf dem Spielfeld, jeder wirkt mit. Ich glaube, meine Freude am Improvisieren verbindet sich vor allem mit den Leuten im Publikum. Und die mögen es, ein Teil davon zu sein.

Aber ist es nicht schwer, ein Klassik-Publikum zu animieren, gerade in Deutschland?
Montero: Nein, im Gegenteil, in Deutschland habe ich das Publikum, das am meisten reagiert. Das ist unglaublich.

Die Deutschen?
Montero: Genauso habe ich am Anfang auch gedacht. „Die Deutschen?“ –
Aber ja, glauben Sie mir, sie sind so offen und angeregt. Ich denke, das hat damit zu tun, dass Sie nichts beweisen müssen. Ihr Land hat so viel Geschichte und Kultur, die großen Dichter, Schriftsteller und Komponisten, Musiker – das ist ein Fundament, ein Selbstvertrauen.

Aber das müsste es für Sie doch schwerer machen?
Montero: Nein. Natürlich denke ich, dass die Deutschen gute Musik schätzen, mit schlechter Musik würdest du nicht die gleiche Reaktion bekommen. Aber die Leute wollen auch Neues hören und erleben, etwas was real und lebendig ist.

Und doch lässt sich, verglichen mit Ihrer Heimat in Südamerika, schon sagen, dass die Deutschen eher weniger aus sich heraus gehen. Oder?
Montero: Es ist anders. In Lateinamerika, wenn da jemand etwas Besonderes macht, kreischen die Leute sofort, das ist eine sehr vokale Reaktion, das geschieht fast automatisch. Die Deutschen verarbeiten die Dinge zuerst, aber dann sind sie sehr warmherzig. Natürlich ist da der intellektuelle Gedanke, aber sobald du die Deutschen wissen lässt, dass es ok ist, aus sich herauszugehen, dann geht es los und sie wollen gar nicht mehr aufhören.
Ich kommuniziere wirklich gerne mit dem Publikum. Deswegen bin ich auch viel auf Facebook, die Leute schreiben mir, ich antworte, ich bin sehr interaktiv. Die Leute fühlen sich wohl dabei und ich auch, das ist eine ganz natürliche Angelegenheit.

Braucht es ein besonderes Selbstvertrauen und Mut, ein Stück von Bach wie im Original zu beginnen und nach einigen Takten daraus eine Improvisation zu machen?
Montero: Ich sehe das nicht als mutig an. Ich funktioniere einfach so, das ist meine Kreativität und Vorstellungskraft. Meine Imagination ist sehr wild, es ist eine Offenbarung dessen, was in mir ist, durch die Form der Musik. Da lebe ich auch nicht nach bestimmten Regeln, sondern ich denke: Wenn du etwas zu sagen hast, dann musst du es sagen, was auch immer die Konsequenz davon sein wird. Alles, was du machen kannst, ist echt, wahrhaftig zu sein.

Aber wie ist Ihr Verhältnis zu Bach – zum Originalmaterial?
Montero: Ich liebe Bach und die großen Komponisten, und ich spiele sie ja auch so, wie es geschrieben wurde, ich mache viel Kammermusik, ich habe ein großes Repertoire an Klavierwerken- und Konzerten, ich respektiere das Original.
Aber wenn ich davon spreche, dass ich nicht nach bestimmten Regeln lebe, dann ist das wie… Wenn jemand zu Mozart gesagt hätte: „Du sollst nicht improvisieren!“ – Ich denke, er hätte überhaupt nicht darauf gehört. Das war seine Natur, er war ein Improvisateur, ein Komponist, ein Genie. Oder wenn jemand zu Picasso gesagt hätte, er hätte nicht so malen sollen – er hätte nicht drauf gehört.
In meinem Fall war es so, als jemand zu mir sagte „Improvisiere nicht“, da habe ich leider eine Zeit lang drauf gehört.

Wer sagte das zu Ihnen?
Montero: Ach, das ist eine alte Geschichte. Das war meine Lehrerin, bei der ich vom achten bis achtzehnten Lebensjahr Unterricht hatte, in den USA.

Und warum?
Montero: Ich weiß es nicht, vielleicht war es am Ende der Neid einer alten Frau auf ein junges Kind – das kann man schwer verstehen. Sie war einfach eine schlechte Lehrerin.
Meine Liebe zu den Komponisten ist da und ich spiele ihre Musik genau so wie sie geschrieben wurde. Aber dann gibt es auch meine andere Seite, wo ich kreativ bin.

Es kommt allerdings nur äußerst selten vor, dass erfolgreiche Pianisten öffentlich improvisieren. Warum?
Montero: Jeder hat da seinen persönlichen Grund. Ich weiß nicht, vielleicht haben sie Angst, vielleicht wollen sie das für sich behalten?
Ich kann für mich sagen: Ich improvisiere hauptsächlich vor Publikum, wenn ich jemand habe, dem ich es geben kann. Und ich fühle mich extrem wohl dabei. Auch weil ich mein Improvisieren nicht darüber nachdenke, „muss ich dies machen, soll ich das machen“, sondern ich erlaube der Sache zu leben, das zu sein, was es in dem Moment ist.
Die Improvisation zum Beispiel von meiner CD „Bach and beyond“, das ist vier Jahre her und heute sind meine Improvisationen komplett anders, sie sind jetzt sehr klassisch, groß angelegt. Die Aufnahme war sozusagen noch das Baby, ich habe langsam angefangen, meine Fühler auszustrecken, habe ganz vorsichtig diesen Raum betreten. Heute besetze ich den ganzen Raum, ich liebe es, darin zu liegen, mich auszustrecken, die Wände hochzulaufen…

Könnten Sie Improvisation unterrichten?
Montero: Nein, könnte ich nicht (lacht) Ich wüsste eine Menge Leute, die mich sofort dafür engagieren würden. Aber nein… Weil, wie wollen Sie etwas unterrichten, das Sie selbst letzten Endes gar nicht erklären können?

Gibt es vielleicht eine bestimmte geistige Grundlage für Ihre Improvisation? Beschäftigen Sie sich beispielsweise viel mit Literatur, Philosophie…
Montero: Nein, ich wünschte, ich könnte Ihnen dazu etwas sagen, aber das ist einfach mein musikalisches Ich, da steckt alles drin. Ich denke, wir sind im Leben von verschiedenen Dingen inspiriert, wir nehmen Dinge auf, andere geben wir ab, vieles von dem geschieht unbewusst… Es ist alles eine Art Recycling von Eindrücken, von Musik und Lebenserfahrungen, Dingen, die mich berührt haben, die in meinem Unterbewusstsein herumschwirren.
Ich brauche noch nicht mal unbedingt ein Thema, um darüber zu improvisieren, sondern es baut sich alles von selbst auf. Das ist wie Ursache und Wirkung zugleich.

Sind Sie immer zufrieden mit Ihrer Improvisation?
Montero: Es geht nicht darum, ob ich immer zufrieden bin, ich mag meine Improvisationen dafür, was sie in dem Moment sind. Das ist einzigartig, geboren in dem Moment – und das wird so nie wieder geschehen.

Zitiert

Ich übe am meisten in meinem Kopf.

Gabriela Montero

Wenn Sie sagen, es geschieht nicht wieder: Als Keith Jarrett weltbekannt wurde, wurden seine Improvisationen auch transkribiert und als Noten verlegt. Würde Ihnen das gefallen, wenn es mit Ihrer Musik so geschieht?
Montero: Ich denke, das ist unvermeidbar. Die Leute fragen mich jetzt schon immer danach.

Sie sagten kürzlich in einem Interview, dass Sie weniger im traditionellen Sinn am Klavier üben, sondern mehr emotional.
Montero: Ja, ich übe am meisten in meinem Kopf. Mein Gehirn ist permanent am arbeiten. Ich habe manchmal Schwierigkeiten zu schlafen, letzte Nacht waren es drei Stunden. Weil in meinem Kopf… es ist wie im Konzertsaal, ein sehr lautes Konzert, das Gehirn kreiert die ganze Zeit Musik. Es wäre toll, wenn jemand mal ein Gerät erfinden würde, dass in deinen Kopf klettert und aufnimmt, was dort vor sich geht. Das wäre fantastisch. (lacht)

Im Vergleich zu Pianisten, die angeben, jeden Tag viele Stunden zu üben, klingt das nun aber sehr entspannt…
Montero: Ja, das mag sein, aber wissen Sie, so passt es auch zu meinem Leben. Ich bin alleinerziehende Mutter von zwei Mädchen, eine davon ist gerade Teenager. Wenn ich jetzt noch Stunden am Klavier zubringen müsste, dann wäre es unmöglich für mich, eine gute Mutter und eine gute Künstlerin zu sein.
So bin ich halt, ich bin durch und durch musikalisch, ich brauche das Klavier nicht so sehr im physischen Sinn, um dieser künstlerischen Arbeit nachzugehen. Wenn das so wäre, dann müsste ich meine Kinder in ein Internat geben. (lacht)

Und Ihre Hände kommen nicht aus der Übung?
Montero: Nein. Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich nach mehreren Wochen, die ich nicht gespielt habe, mich ein, zwei Stunden ans Klavier setze – und dann bin ich wieder drin.

Unter Profimusikern scheint das aber eine ziemliche Ausnahme zu sein.
Montero: Es ist einfach meine Natur. Ich habe mit 18 aufgehört, Klavier zu spielen, zwei Jahre habe ich das Klavier nicht angerührt. Bis ein Freund von mir in Caracas ein Brahms-Festival organisiert hat. Er fragte mich, ob ich das erste Klavierkonzert von Brahms spielen könnte, das Konzert sei in zwei Wochen. Ich sagte ihm: „Nein, ich spiele kein Klavier mehr, ich will jetzt etwas anderes machen, ich habe schon zwei Jahre nicht mehr gespielt.“ Aber er war sehr hartnäckig – und ich kann leider nicht Nein sagen, wenn ich so herausgefordert werde. Also habe ich das Klavierkonzert einstudiert und zwei Wochen später gespielt. Danach war ich wieder zurück im Musikleben.

Hatten Sie das Brahms-Konzert denn vorher schon mal gespielt?
Montero: Nein, ich kannte noch nicht mal die Noten.

Brauchen Sie eigentlich viel Selbstdisziplin, um bei feststehendem Repertoire nicht doch plötzlich anzufangen, zu improvisieren?
Montero: Nein. Das ist ein ganz anderer Raum. Die erste Hälfte ist meiner Konzerte, das ist wie mein Büro, wo ich arbeite, wo mein Gehirn nachdenkt, prüft, entscheidet. Die zweite Hälfte ist dann die Bar, der Spielplatz, der Wein, die Imagination. Und es ist ja tatsächlich so, fragen Sie mal einen Neurologen. Der sagt er Ihnen, dass die eine Sache im vorderen Teil des Gehirns geschieht, den sie buchstäblich „the office“ nennen, während die Improvisation im hinteren Teil des Gehirns geschieht.

Spielt bei der Improvisation eigentlich auch Ihre südamerikanische Mentalität eine Rolle?
Montero: Ja, vielleicht. Es ist vielleicht auch die Art, wie wir dort leben, alles kann passieren, jederzeit. Du musst sehr flexibel sein, du schaltest sehr schnell vor und zurück, zwischen den Dingen hin und her.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Montero: Ach, neulich gab es eine so eine Situation, ich war schon in Konzertkleidung, auf dem Weg zum Konzert, ich kam in einen Verkehrsstau, hab es gerade noch pünktlich geschafft, ich komme in die Konzerthalle, 3000 Zuschauer sind da – und dann gibt es einen Stromausfall und das Konzert muss ausfallen, weil es kein Licht gibt. In Deutschland wäre das wahrscheinlich ein großes Chaos, bei uns sagt man dann eben, „ach, was macht das schon, dann machen wir das halt nächste Woche.“ Man lernt, mit Dingen etwas locker umzugehen.

Von der Improvisation ist es nicht weit zur Komposition. Werden Sie eines Tages etwas komponieren?
Montero: Ja, ich werde im nächsten Jahr meine erste Komposition aufführen, die ich gerade schreibe. Oder besser gesagt, die ich noch schreiben muss, für Orchester und Klavier.

Ein Auftragswerk?
Montero: Ja, mehr oder weniger. Ich habe im Oktober 2011 eine Tournee mit der Academy of St. Martin in the Fields, mit denen ich das 5. Konzert von Beethoven aufführe. Und in diesem Rahmen kommt auch ein Stück von mir zur Aufführung.

Dabei gibt es ja kaum ein konservativeres Orchester als St. Martin in the Fields.
Montero: Wie Sie sehen sind die aber offenbar sehr aufgeschlossen gegenüber Neuem.
Ich glaube auch, dass das große, traditionelle klassische Establishment allmählich anfängt, zu verstehen, dass es viele verschiedene Typen von Künstlern gibt, also, nicht nur den traditionellen klassischen Musiker, sondern eben auch Künstler, die Wertvolles erschaffen, abseits der Klassik.

Für Orchester zu komponieren, haben Sie das mal studiert?
Montero: (leise) Nein. (lacht) Ich weiß auch noch nicht, wie ich es machen werde. Aber ich denke, es wird am Ende ein fließender, kreativer Prozess sein. Die Schwierigkeit wird dann nur das Aufschreiben, die eigentliche Organisation sein.

Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie für längere Zeit Abstand vom Klavierspiel genommen haben. Wie kam das?
Montero: Es gab viele Zweifel, Fragen nach dem Sinn dessen, was man im Leben macht. Ich war ein Wunderkind – und das habe ich gehasst! Weil ich keine Wahl hatte, weil es mich komplett definiert hat. Ich mochte es überhaupt nicht, wenn jemand zu mir sagte: „Pass auf deine Hände auf.“ Ich habe dann habe geantwortet: „Und was ist mit dem Rest von mir?“ Es definiert dich so sehr, deswegen habe ich mich von dem eine Zeitlang abgewendet.

Nun, heute definiert es Sie wieder. Ihre Managerin sagte vorhin, dass Sie heute noch den ganzen Tag Interviews geben werden.
Montero: Das stimmt. Aber damit habe ich jetzt Frieden geschlossen. Die Sache ist die: Heute weiß ich, was ich sagen will. Ich habe das Leben inzwischen auf verschiedene Weise gelebt, mich definiert nicht länger das Klavier allein.

Lernt man Sie eher durch Interviews oder durch Ihr Klavierspiel kennen?
Montero: Das ist eine gute Frage. Ich denke, durch beides. Ich denke, es ist sehr klar, wenn ich improvisiere, wer ich bin. Und wenn ich rede ist es genauso. Aber die Musik ist direkter. Worte können auf verschiedene Art und Weise gelesen werden, die Musik wirkt direkter.

Eine Schlussfrage: Können Sie zu Musik einschlafen?
Montero: Nein, höchstens zu Naturgeräuschen, Wasser, Regen oder Wind, zu Musik geht es nicht.
Zum Beispiel wenn ich zur Massage gehe und dort läuft diese schreckliche New Age Musik, vielleicht noch mit Klavier, da bettle ich immer „Bitte machen Sie das aus, das ist so anstrengend für mich!“ Ich kann das nicht anhören, ich frage mich auch immer, wie andere Leute zu solcher Musik entspannen können. Ich muss da immer sofort an den Klang des Pianisten denken – „oh mein Gott, so ein schlechtes Legato“ – oder ich denke bei den Melodien, dass ich in dem Moment harmonisch in eine andere Richtung gegangen wäre. Wenn ich Musik im Ohr habe dann fängt mein Gehirn sofort an, um alles herum zu improvisieren, das ist bei mir unvermeidbar. Manchmal wünsche ich mir, ich würde einen Schalter finden, um das auszuschalten.

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