Doris Dörrie

Karriere haben wir abgelehnt

Doris Dörrie bringt mit "Alles inklusive" einen berührenden Familienfilm in die Kinos. Ein Gespräch über Generationenunterschiede, Prägungen der Kindheit, die Ängste ihrer Studenten und "katastrophale Flüchtlingspolitik".

Doris Dörrie

© Constantin Film Verleih GmbH

Frau Dörrie, Ihr Buch bzw. Ihr Film „Alles inklusive“ bringt mehrere Familiengeschichten und Schicksale an einem spanischen Badeort zusammen. Das geschieht auf eine sehr direkte, einfühlsame Weise, deshalb die Frage: Wie kommen Sie auf diese Geschichten, wodurch sind die inspiriert?
Doris Dörrie: Das ist immer eine Masse von Dingen, die mich inspirieren. Zuerst hatte ich Geschichten von afrikanischen Flüchtlingen recherchiert, die in Spanien ankommen. Dort wiederum habe ich auch alte Hippies beobachtet und kennen gelernt. Da gibt es zum Beispiel 70-jährige Hippie-Frauen, die auf Ibiza bei irgendwelchen jungen Internet-Millionären als Putzfrauen arbeiten. So entstand die Figur der Ingrid (Hannelore Elsner). Die Inspiration zu ihrer Tochter Apple (Nadja Uhl) kam primär über ihren Hund – meine Schwester ist Tierärztin und sie hat mir oft Geschichten über human-medizinische Behandlungen von Tieren erzählt, zum Beispiel dass man Hunden auch neue Hüften oder Herzschrittmacher einsetzen kann.
Dann waren es auch diese wahnsinnigen Bausünden, die in Spanien die Küste verschandelt haben… Es ist immer wie so ein Mosaik: Es tauchen verschiedene Figuren und Themen auf, die mich interessieren, dann fange ich an zu schreiben, bis sich schließlich ein Bild zusammensetzt.

Und Sie sprechen dann bei Ihren Recherchen zum Beispiel mit diesen Hippie-Frauen?
Dörrie: Ja, ich setze mich mit ihnen zusammen, befrage sie, beobachte sie –  das ist immer unterschiedlich. Figuren wie den Urlauber Helmut (Axel Prahl) habe ich in Spanien x-fach kennen gelernt, in den Frühstücksräumen der Hotels.

Ihre Figuren treffen sich in einem dieser „All Inclusive“-Hotels…
Dörrie: Damit kenne ich mich sehr gut aus, weil ich seit vielen Jahren mit meinen Studenten in solche Hotels fahre.

Warum reisen Sie mit Ihren Münchener Studenten nach Spanien?
Dörrie: Weil alles andere zu teuer ist. Eine Woche in einer deutschen Jugendherberge oder Skihütte samt Verpflegung wäre nicht drin. Deshalb fahren wir einmal pro Jahr gezielt in ein „All Inc“-Hotel. Da gibt es eben jede Menge zu essen für die Studenten und wir sind an einem Ort, wo wir viel schreiben und viel erleben können.

Zitiert

Ich habe kein großes Kindheitstrauma mit mir rumzuschleppen.

Doris Dörrie

Sie beschäftigen sich in „Alles inklusive“ auch sehr viel mit der Vergangenheit der Figuren. Warum war Ihnen das wichtig?
Dörrie: Ich habe früher häufig als Babysitter fungiert, bei Kindern von Hippie-Eltern. Das waren wirklich genau diese Kinder wie es im Film die kleine Apple ist: sehr attraktiv verwildert, die sahen immer klasse aus, hatten schon Rasta-Haare – so richtige Wildfänge. Gleichzeitig haben sie auf mich  sehr verloren gewirkt. Ich habe sie später teilweise noch als wilde Teenager erlebt, doch dann brach das oft ab und sie wurden sehr ängstlich. Das hat mich lange beschäftigt, warum viele den festen Boden unter ihren Füßen vermisst haben, also die Frage, warum so eine angstfreie Generation inzwischen Kinder hat, die sehr viel mit Angst umgehen müssen.

Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
Dörrie: Der Druck ist anscheinend so groß geworden und damit auch die Angst, nicht zu genügen, es nicht zu schaffen, nicht reinzupassen. So lerne ich das in der jüngeren Generation kennen, dieses Gefühl, zu versagen, abgehängt zu werden, zu verarmen oder ein Verlierer zu sein. Schon das Wort „Verlierer“ – das kannten wir überhaupt nicht, das Handzeichen für „Loser“ (L-Zeichen) gab es gar nicht.

Und diese Angst spüren Sie auch bei Ihren Studenten?
Dörrie: Ja, sehr stark. Es ist einfach nicht zu schaffen. Damals hätten wir ja gar nicht gewusst: Was sollen wir denn schaffen? Gesellschaftlichen Erfolg haben wir abgelehnt, Karriere haben wir abgelehnt, Geld haben wir abgelehnt – was sollte man denn schaffen?

Aber woran liegt das heute? Am Kapitalismus, der inzwischen auf Turbo-Niveau läuft?
Dörrie: Ich denke, zum einen ist es die reale ökonomische Situation, die heute sehr viel brenzliger ist als in den 70er Jahren. Zum anderen ist es dieses Gefühl, dass man mit der ganzen Welt in Konkurrenz steht. Auf die Filmemacher bezogen heißt das: Jeder indische und jeder chinesische Filmhochschüler konkurriert direkt mit dir. Das produziert natürlich einen ganz anderen Druck und auch die Vorstellung, sehr schnell sein zu müssen.

Alles inklusiveSie arbeiten in „Alles inklusive“ viel mit Rückblenden. Würden Sie sagen, dass jeder Mensch irgendwann von seiner Kindheit eingeholt wird?
Dörrie: Die Kindheit prägt uns natürlich. Aber es prägt uns auch die Gesellschaft, die Bedingungen – und die Gene. Keiner weiß so genau die Mischung, die ist bei jedem unterschiedlich. Und es gibt eben Menschen wie Apple, die sich sehr stark durch ihre Vergangenheit definiert. Sie hat sich in der Opferrolle eingerichtet, davon will sie nicht loslassen, diese Rolle ist ihr sehr vertraut. So eine Psychologisierung der eigenen Biografie beobachte ich häufig: „Ich bin so und ich kann nicht anders, weil in meinem Leben dieses und jenes geschehen ist.“ Da denke ich dann „Na doch! Man hat immer wieder die Chance, zu sagen: In der Vergangenheit war das alles sehr kompliziert, aber ich kann jetzt auch in eine ganz andere Richtung gehen.“

Wann haben Sie das für sich persönlich erkannt?
Dörrie: Ich habe kein großes Kindheitstrauma mit mir rumzuschleppen. Im Gegenteil: Ich musste mich – was ein großes Glück ist – nicht weiter mit meiner Familie beschäftigen, weil sie so unanstrengend und liberal war. Das ist selten.

Man weiß ja relativ wenig über Ihre Familie.
Dörrie: Über meine Tochter rede ich nicht, weil ich nicht möchte, dass ich ihr Leben interpretiere. Aber über meine Eltern erzähle ich gerne, ich habe großartige Eltern. Beide sind Ärzte gewesen, sehr freiheitsliebende und liberale Menschen.

Sie sagten einmal: „Mich interessiert mein eigener Kopf nicht so sehr wie die Welt.“ Findet man dennoch in „Alles inklusive“ auch Spuren Ihrer Kindheit?
Dörrie: Nicht konkret. Was man findet, ist diese Nostalgie, die Sehnsucht nach dem Süden. Und wenn man jetzt im Film dieses Ferienhaus sieht, die Kinderfüße auf den Fliesen –  da weiß ich sofort, wie sich das damals angefühlt hat, wenn man von draußen aus der Hitze in das kühle Haus kam, oder wenn man in den Pool gesprungen ist, oder Wassermelone gegessen hat. Das sind ganz klar auch autobiografische Elemente, diese sinnlichen Eindrücke.

Wie bereits erwähnt, widmen Sie sich in „Alles inklusive“ auch den Flüchtlingen, die von Afrika über das Meer nach Europa kommen. Nun ist in Bayern, wo Sie leben, das Klima gegenüber Einwanderern in letzter Zeit sehr rau geworden. Wie begegnen Sie dem?
Dörrie: Ich versuche das sehr persönlich und individuell zu machen. Im Allgäu, wo ich sehr viel Zeit verbringe, waren seit August syrische Flüchtlinge in einem leerstehenden Landschulheim untergebracht. Oben auf einem Berg, die wussten überhaupt nicht, wo sie sind, waren abgeschnitten vom allem. Mit denen hatte ich viel Kontakt und habe versucht, sie kennen zu lernen. Weil ich denke, dass der Hauptgrund von Ablehnung und Abweisung immer darin besteht, dass man keine Berührung damit hat. Egal welche Gruppe ausgegrenzt wird – ob es jetzt „die Türken“, „die Ausländer“ oder „die Schwulen“ sind – es geschieht, weil es überhaupt keinen Kontakt gibt, weil man nichts voneinander weiß.

Wie bewerten Sie in dem Zusammenhang die Verlautbarungen der handelnden Politiker?
Dörrie: Das ist eine Katastrophe! Die bayerische Flüchtlingspolitik ist eine Katastrophe, aber auch die Bundespolitik. Ich habe das ja bei den syrischen Flüchtlingen erlebt, da läuft vieles schief. Zum Beispiel dürfen die kein Deutsch lernen, solange ihr Asylantrag nicht genehmigt worden ist. Da gibt es Einiges, was man ganz schnell verbessern muss.

Versuchen Sie auch, die Ängste von Bürgern vor Zuwanderern zu verstehen?
Dörrie: Diese Ängste haben primär mit Fehlinformationen zu tun. Man kann es mit Zahlen belegen – aber diese Zahlen muss man eben kennen – dass die Asylanten uns nicht die tollen Jobs wegnehmen. Das kann man nur durch Information, durch Kennenlernen und durch ein unablässiges Draufhinweisen verändern.

Haben Sie diesbezüglich schon mal das Gespräch mit Politikern gesucht?
Dörrie: Meine Erfahrung ist, dass man auf politischer Ebene so gut wie gar nichts erreicht. Je höher man dort in der Hierarchie aufsteigt, um so mehr wird abgeblockt, um so mehr werden Gründe vorgeschoben – die aber keine wirklichen Gründe sind – um die bestehende Situation nicht zu verändern. Ich denke, dass man viel mehr unten ansetzen muss, bei den Leuten, die vor Ort damit zu tun haben. Die muss man überzeugen, dass ein anderer Weg besser wäre.

Im Film ist es Ingrid, die am spanischen Strand direkt auf einen verletzten Flüchtling trifft…
Dörrie: …und sie sagt sich: Ich schau mal hin, vielleicht braucht er Wasser, etwas zu essen, vielleicht muss seine Wunde versorgt werden. Das sind Dinge, die kann ich ja selbst leisten. Dennoch ist so eine menschliche, direkte Reaktion selten. Es ist illegal, Flüchtlingen zu helfen, es aber trotzdem zu machen, ist schon mal ein Anfang. Zum Beispiel hat ein pensionierter Deutschlehrer den syrischen Flüchtlingen im Allgäu Unterricht gegeben. Das ist illegal, aber er macht es einfach. Das zu riskieren finde ich wichtig.

Sie haben nächstes Jahr einen runden Geburtstag. Haben Sie schon Angebote von Verlagen für eine Autobiographie?
Dörrie: Ich schreibe doch ständig meine Autobiographie, mit allen Büchern und Filmen schreibe ich auch ein Stück über mich selber.
Nein, ich glaube nicht, dass ich eine Autobiographie schreiben werde. Dafür wäre mein eigenes, kleines Leben viel zu langweilig. Interessanter ist bei mir die Erfindung, die ich dann mit etwas Eigenem verbinde.

Besuchen Sie eigentlich ab und zu Ihren Stern auf dem Berliner „Boulevard der Stars“?
Dörrie: Nein. Den habe ich nie wiedergesehen. Gibt es den überhaupt noch?

Ich denke schon. Sie haben also keinerlei sentimentale Verbindung dazu?
Dörrie: Nein, nicht im geringsten.

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