Dieter Lenzen

Täuschung der nachwachsenden Generation

„Bildung statt Bologna“ fordert der Präsident der Universität Hamburg Dieter Lenzen in seinem neuen Buch. Warum er die Einführung der Bachelorstudiengänge in Deutschland für misslungen hält und wie weit die deutsche Politik dafür mitverantwortlich ist, erzählt er im Interview. Vier Fragen und Antworten hat uns Lenzen allerdings untersagt, zu veröffentlichen.

Dieter Lenzen

© Bertold Fabricius

Herr Prof. Lenzen, Ihr Sohn hat nach einer VWL-Klausur neun leere Schachteln Ritalin im Papierkorb gefunden. Ist ein Überleben im deutschen Unialltag nur mit konzentrationssteigernden Mitteln möglich?
Dieter Lenzen: Ob das für alle Fächer gilt, kann ich nicht sagen. Aber es ist schon typisch für solche Massenfächer, bei denen auf Klausuren alles ankommt. Viele junge Menschen setzen sich selbst unter Druck und versuchen sich mit solchen Mitteln Vorteile zu verschaffen.

Sie kritisieren, dass Absolventen von Bachelorstudiengängen weitere Teile des Arbeitsmarkts verschlossen bleiben. Also müssen doch alle einen Master draufsetzen?
Lenzen: Der Staat selbst akzeptiert den Bachelor nicht als akademischen Abschluss. So können Sie nur mit einem Master Lehrer werden, ähnliches gilt für den höheren Verwaltungsdienst. Die Bachelorabsolventen sind vielfach zu jung. Das liegt auch an anderen Verkürzungsmaßnahmen, dem Abitur nach 12 statt 13 Jahren – was ich grundsätzlich für richtig halte – und der Abschaffung der Wehrpflicht. Das wirkt nun in gewisser Weise wie eine Täuschung der nachwachsenden Generation und ihrer Eltern, die glauben: „Mein Sohn hat studiert, jetzt hat er große Chancen.“ Dafür muss er aber mindestens einen Master erworben haben. Das entspricht dann wieder dem alten Diplom oder Magister – aber dafür braucht er jetzt fünf statt vier Jahre.

Erledigt sich das Akzeptanzproblem des Bachelors von selbst, wenn aufgrund des demografischen Wandels jede Arbeitskraft benötigt wird?
Lenzen: Nein, denn den Arbeitskräftebedarf deckt man nicht nur mit Bachelor-Absolventen, sondern mit Kandidaten aus zwei neuen Quellen: Das eine sind Menschen aus dem Berufsleben, die mit einer Ausbildung und drei Jahren Berufserfahrung in etlichen Bundesländern studieren dürfen – was zu begrüßen ist. Die zweite Quelle sind Menschen aus dem Ausland, die hier studieren und auch mit in den Arbeitsmarkt gelangen.

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Im Bologna-Prozess wurde zu viel verrechtlicht.

Dieter Lenzen

Laut Ihnen produziert das Studium nur noch Menschen, die das machen, was man von ihnen verlangt. Aber ist das nicht eine gute Basis, auf die Unternehmen aufbauen können?
Lenzen: Ich denke, wir brauchen Menschen mit sozialen Ideen, wie wir unsere Gesellschaft besser gestalten können. Dafür muss ein junger Mensch die Gelegenheit haben, mal über die Ethik seines Handelns nachdenken zu können. Aber diese allgemeinbildenden Elemente bieten Bachelorstudiengänge nicht. Wir führen deshalb in Hamburg ein Universitätskolleg ein, in dem die jungen Menschen vor dem Bachelor freiwillig studieren können.

Es gab viele Proteste gegen die Umstellung auf Bachelor und Master. Wie haben Sie diese ab 2003 damals als Präsident der Freien Universität Berlin erlebt?
Lenzen: Ich bin zunächst davon ausgegangen, dass sich die Sache in der Einführung einer studienbegleitenden Bewertung erschöpfen würde. Das fand ich sehr attraktiv, damit es in einer Abschlussprüfung nicht mehr heißt: „alles oder nichts“. Dann mussten plötzlich alle Abschlüsse geändert, das heißt anglifiziert, werden. Wir hatten die Hoffnung, dass wir mit einer Art Etikettenschwindel das deutsche Studium bewahren konnten. Aber das war ein Irrtum, weil mit den studienbegleitenden Prüfungen und der europaweiten Anerkennung eine Dokumentationspflicht aller Leistungen und damit eine erhebliche Standardisierung entstanden ist.

Sie kritisieren, dass sich Prüfungsbüros benähmen wie „bewaffnete Vertreter amerikanischer Einwanderungsbehörden“. Was tun Sie in Hamburg dagegen?
Lenzen: Wir haben angefangen, weniger zu regeln. Im Bologna-Prozess wurde zu viel verrechtlicht. Wir haben zum Beispiel die Anwesenheitspflicht aufgehoben, die Zahl der Wiederholungsmöglichkeiten von durchgefallenen Prüfungen erhöht und Fachwechsel erlaubt.

Geht das so einfach?
Lenzen: Die deutschen Hochschulen haben sich von der Kultusministerkonferenz erschrecken lassen, indem sie die Regelungen allzu wörtlich genommen haben. Die Hochschulen haben in Wirklichkeit eine relativ große Freiheit. Aber natürlich kommt Druck aus der Politik: „Warum sind die jetzt nicht schneller fertig als früher?“ Denn die Einführung des im internationalen Vergleich mit sechs Semestern kurzen Bachelors hat dazu geführt, dass die Politik auf einen Schlag 25 Prozent mehr Studienplätze für dasselbe Geld schaffen konnte.

Hat die Politik die negativen Konsequenzen nicht bedacht oder ignoriert?
Lenzen: Die Kontinentaleuropäer haben sich von den Briten über den Tisch ziehen lassen. Denn es wurde das britische System in Europa etabliert. Dort findet aber die Berufsausbildung an Colleges und „Universities“ statt, also in „akademischen“ Einrichtungen. Deswegen wurde festgeschrieben, dass der Bachelor berufsorientiert sein muss. Aber das muss er bei uns eigentlich nicht, denn dafür haben wir die duale Ausbildung und ein Berufsschulsystem. Hier ist im günstigsten Fall eine richtige Panne passiert. Die deutsche Politik hat nicht gewusst, dass das atlantische System völlig anders funktioniert. Im schlimmsten Fall war es schiere Absicht, um die Berufsausbildung billiger hinzubekommen. Und jetzt klagen die Unternehmen zu Recht, dass sie nicht mehr genug Interessenten für die duale Ausbildung haben.

Wurde wenigstens das eigentliche Ziel der Reform, eine stärkere Internationalisierung, erreicht?
Lenzen: Nein. Ein Auslandsaufenthalt ist durch das sehr kurze Studium kaum möglich. Auch die Anerkennung von Studienleistungen aus dem Ausland funktioniert immer noch nicht zufriedenstellend. Und man muss der deutschen Variante von Bologna vorwerfen, dass die neuen Studiengänge international jenseits von Europa gar nicht anschlussfähig sind. Dort studiert man nämlich acht statt sechs Semester.

Sie schreiben, Sie waren zu Ihren Studienzeiten „orientierungslos, aber frei“. War damals wirklich alles besser?
Lenzen: Wenn man mich heute fragen würde, ob ich studieren wolle, würde ich sagen: „Nein, nicht unbedingt, zumindest nicht hier.“ Man war nur am Anfang orientierungslos und dann hat man sich Wege gesucht. Das hat dazu geführt, dass man seine Interessen und Talente definieren musste. Auch heute werden alle jungen Leute am Ende des Tages eigene Profile haben müssen, weil sie sonst chancenlos sind. Die Unternehmen sind nicht interessiert an stromlinienförmigen „Ja-Sagern“, die brauchen kreative Leute.

Sind das Zurückfahren der Bürokratie, weniger Prüfungen und mehr allgemeine Bildung die wichtigsten Punkte für eine Reform der Reform?
Lenzen: Viele dieser Details sind wichtig. Aber es kommt noch die Akkreditierung der Studiengänge hinzu. Die Begutachtung durch eine Kommission führt sehr schnell zu einem Standardcurriculum, kostet viel Geld und setzt die Einrichtung unter Dauerstress. Ich trete deshalb für ein Auditierungssystem ein. Da steht die Beratung im Vordergrund und man kann über die Curricula vernünftig reden. (Anm. d. Red.: In Deutschland prüft nach der Bologna-Reform unter anderem die Kölner „Agentur für Qualitätssicherung durch Akkreditierung von Studiengängen“ auf Antrag der Universität die Bachelor- und Masterstudiengänge. Bei einem Auditierungssystem würde die Qualitätssicherung der Universität obliegen und die Agentur würde nur noch beratend tätig sein.)

Verursachen diese Reformmaßnahmen höhere Kosten?
Lenzen: Nein, sie sind kostenneutral. Aber wenn man einen achtsemestrigen Bachelor einführen würde, wäre es das nicht mehr, vorausgesetzt Sie verkürzen den beruflichen Master von vier auf zwei Semester. Der „längere“ Master ist international häufig für den Weg in den Beruf als Wissenschaftler vorgesehen.

Laut des deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung haben Bachelor-Studenten ihr Studium 2012 mit einer 3 schon deutlich besser bewertet als noch 2009 mit einer 4. Mussten sich die Veränderungen erst setzen oder sind das erste Reformerfolge?
Lenzen: Es ist beides. Die Bewertungen werden sich weiter verbessern, weil die Studenten keine Alternative kennen. Zum anderen werden die Binnenreformen greifen. Wir werden das Bologna-System nicht mehr zurückdrehen können, es sei denn, der Euro und damit ein gemeinsames Europa fällt. Aber die Wahrscheinlichkeit ist gering.

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Viele Lehrende gehen aufgrund der Bologna-Reform in Klausurdurchsichten unter. Viele von ihnen haben aufgrund  sehr kurzer Vertragslaufzeiten nicht einmal eine langfristige Perspektive an der Universität. Wie kann das verändert werden?
Lenzen: Das ist ein Prozess, der über Bologna hinausgreift und mit Projektkapitalismus bezeichnet worden ist. Denn eigentlich hat sich die ganze Gesellschaft auf Kurzfristigkeit umgestellt – auch die Unternehmen. Wir müssen den jungen Wissenschaftlern längerfristige Perspektiven geben, aber keine lebenslangen, denn es sind auch ungeeignete darunter. Heute gibt es Verträge für eine halbe Stelle für ein halbes Jahr und große Unsicherheit. Damals konnte man sich wenigstens eine kleine Wohnung leisten und in Ruhe promovieren.

Verlieren dadurch die deutschen Universitäten viele gute Köpfe ins Ausland und in die Wirtschaft?
Lenzen: Das ist sehr fachabhängig. In den Geisteswissenschaften gibt es kaum eine direkte berufliche Alternative zur Wissenschaft. Allerdings sind Geisteswissenschaftler trotzdem erfolgreich, weil sie universaler einsetzbar sind aufgrund ihrer allgemeinen Bildung. In den Ingenieurwissenschaften sieht das schon anders aus. In der Informatik sind die Hochschulen jetzt schon gezwungen, die Leute länger zu beschäftigen, weil sie sonst niemanden finden. Aber gleichzeitig ist es eine große Schwierigkeit die jungen Wissenschaftler länger zu halten, sie werden einfach zu schlecht bezahlt.

Müsste sich die Wirtschaft hier etwa mit der Auslagerung von Entwicklungsprojekten oder der Finanzierung von Professuren finanziell stärker beteiligen?
Lenzen: Das ist nicht ihre Aufgabe. Wir haben ein staatliches Bildungssystem, eine soziale Errungenschaft, das sollte man nicht privatisieren. Man muss das Bildungssystem über Steuereinnahmen unterstützen.

In dem Zusammenhang gibt es immer wieder Streit über Forschung im Auftrag von Unternehmen, deren Ergebnisse auch militärisch genutzt werden können. Sind Sie für die Einführung von Zivilklauseln – also die Verpflichtung von Universitäten, ausschließlich für zivile Zwecke zu forschen?
Lenzen: Als eine Aufforderung zur Reflexion auf jeden Fall. Man darf aber nicht naiv sein, damit können Sie bestimmte Formen von Forschung nicht verhindern. Zumal die Frage der mehrfachen Nutzbarkeit nicht immer ausgeschlossen werden kann. Ein konkretes Beispiel zeigt das: So ist eine Textsoftware, die literarische Werke unter bestimmten Gesichtspunkten maschinell auswertet, auch von Geheimdiensten nutzbar, um den Mailverkehr ganzer Nationen zu scannen. Eine Forschungsverhinderung gibt auch die Verfassung nicht her. Eine Form von Selbstbindung kann aber sinnvoll sein.

Zum Abschluss ein Blick in die Kristallkugel: Wie sieht das deutsche Studiensystem in 15 Jahren aus?
Lenzen: Es ist hoffentlich ein wesentliches Stück liberalisierter. Es wird weiter den Bologna-Modus haben, aber in weniger verschulter, allgemeinbildender Form, vielleicht sogar in einer international über Europa hinaus anschlussfähigen Form.

Anmerkung: Das obige Interview wird hier in der von Dieter Lenzen autorisierte Fassung veröffentlicht. Vier Antworten wurden bei der Autorisierung gestrichen. Leider konnten wir diesmal nicht, wie bei solchen Eingriffen sonst auf Planet Interview üblich, wenigstens die dazugehörigen Fragen veröffentlichen. Siehe dazu auch unseren Blogeintrag, den Offenen Brief an Dieter Lenzen sowie das Interview mit Journalismus-Experte Michael Haller.

Ein Kommentar zu “Täuschung der nachwachsenden Generation”

  1. Ben Paul |

    Ein gelungenes Interview wie ich finde!

    Auch wenn es schade ist, dass vier Fragen und Antworten nicht veröffentlicht wurden.

    Mehr zum Thema alternative Bildungswege gibt es übrigens hier: http://www.anti-uni.com/blog/

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