Daniel Harding

Es ist nie, in keinem Moment falsch, Musik zu machen.

Dirigent Daniel Harding über ein Konzert in Tokyo am Tag des Erdbebens, Klassik-Vermittlung, Respekt und seine Leidenschaft für Schumann

Daniel Harding

© DG Harald Hoffmann

 

 

Das folgende Interview ist auch in concerti – Das Hamburger Musikleben erschienen.

Mr. Harding, Sie waren in Japan, als dort im März die Erde bebte. Wie haben Sie den Tag des Unglücks erlebt?
Harding: Ich hatte an dem Abend ein Konzert mit dem New Japan Philharmonic Orchestra mit Mahlers Fünfter Sinfonie. Als das Beben um 14.46 Uhr einsetzte saß ich gerade im Auto auf dem Weg zur Generalprobe. Für mich fühlte es sich an wie in einem Flugzeug während Turbulenzen, nur dass man solch eine Erschütterung auf dem Erdboden nicht erwartet. Und ringsherum fingen die Häuser an, herumzutanzen. Beängstigend war für mich, zu sehen, wie das Beben die Menschen verstörte, sogar die erdbebenerfahrenen Japaner.

Wie ging der Tag für Sie weiter?
Harding: Als ich bei der Konzerthalle ankam musste dort erst überprüft werden, ob das Gebäude sicher ist und wir auf die Bühne können. In der Garderobe haben wir dann im Fernsehen die Bilder aus Sendai gesehen, diese unaufhaltbare Wucht des Tsunami. Es gab teilweise Live-Bilder davon, wie Menschen von den Fluten weggeschwemmt wurden, das war das Abscheulichste, was ich je gesehen habe. Und alle 15 Minuten erschien auf dem Bildschirm eine Warnung vor einem Nachbeben, etwa 20 Sekunden später wackelte unser Gebäude.

Doch dann haben Sie das Konzert wie geplant dirigiert.
Harding: Wir wussten zuerst nicht, ob überhaupt irgendjemand kommt, Tokio war ja komplett blockiert, es fuhr kein Zug und keine U-Bahn. 15 Minuten vor Konzertbeginn war auch noch niemand da, doch dann erschienen nach und nach einige Zuhörer. Ein älterer Herr war sogar vier Stunden durch die Stadt gelaufen, um das Konzert zu hören. Am Ende waren es 50 Besucher, von 1800 verkauften Tickets. Aber die Konzentration und die Atmosphäre im Raum, als wir Mahlers Fünfte aufgeführt haben, war unglaublich.

Gab es auch Überlegungen, das Konzert abzusagen?
Harding: Nein. Und ich finde auch: Es ist nie, in keinem Moment falsch, Musik zu machen. Dies war gerade einer dieser Momente, wo Musik wirklich hilfreich sein kann. Mahlers Fünfte ist eine große Meditation über Leben und Tod, über all die wichtigen Dinge, die es für uns Menschen gibt. Ich hätte mir nicht vorstellen können, stattdessen ohne Konzert ins Hotel zu gehen und Fernsehen zu schauen. Ich wäre verrückt geworden!
Es hilft natürlich nicht den Menschen in Sendai, die ihre Häuser und Angehörige verloren haben, wenn wir musizieren. Aber es war sehr wichtig, um all das emotional verarbeiten zu können, da hat die Musik eine kathartische Wirkung.

Wie war Ihr Abschied aus Japan?
Harding: Das war ein merkwürdiges Gefühl. Ich dirigiere seit 15 Jahren regelmäßig in Japan, ich liebe die Leute, die Kultur und immer wenn ich zurück komme, vermisse ich Japan sofort. Deshalb war es komisch, nachdem ich zusammen mit den Japanern dieses Unglück erlebt habe, das Land zu verlassen. Ich fühlte mich ein wenig so, als würde ich die Leute im Stich lassen.

Wie sind Ihre weiteren Pläne?
Harding: Wir fliegen im Juni mit dem Mahler Chamber Orchestra nach Tokio und ich werde auch wieder das New Japan Philharmonic Orchestra dirigieren. Das Letzte, was die Japaner jetzt brauchen, ist, dass wir dem Land aus Angst den Rücken zukehren, wir müssen Ihnen in dieser Situation beistehen. Die Japaner mögen unsere Musik, sie sind die wunderbarsten Gastgeber, jeder Musiker liebt es, dort hinzufahren.
Wir wissen schon lange, dass Japan eines der seismisch aktivsten Gebiete ist. In Tokio hat es in der Vergangenheit schlimme Erdbeben gegeben und auch in der Zukunft erwartet die Stadt ein großes Beben. Aber das ist Teil der Geologie dieses Ortes, das ist die Natur. Man darf jetzt nicht in Panik verfallen und Japan plötzlich so behandeln, als sei es unantastbar und gefährlich – das war es immer schon. Deswegen ist „Tsunami“ ein japanisches Wort, weil diese Gefahr immer Teil ihrer Kultur war.

Sie erwähnten gerade die Begeisterung der Japaner für klassische Musik. Kommen Sie manchmal zurück und wünschen sich auch beim Publikum in England diese Leidenschaft?
Harding: Ja. Ich denke das wirklich jedes Mal, wenn ich zurückkomme.

Haben Sie eine Begründung dafür, warum in Japan diese Leidenschaft größer ist?
Harding: Ich hasse es, zu pauschalisieren, aber wenn man sieht, was für eine würdevolle und disziplinierte Kultur in Japan herrscht… Ich kann Deutschland in dieser Hinsicht nicht beurteilen, aber zumindest in England gibt es das nicht. Die Briten sind weder fein noch besonders diszipliniert.
Alle Formen der Kunst, von Literatur bis zur Musik, erfordern eine Investition, intellektuell und emotional. Du kannst nicht „Krieg und Frieden“ in zweieinhalb Minuten verdauen und dabei all die Vitamine in dich aufnehmen. Es benötigt enorme Konzentration und Zeit, Tolstoi zu lesen, oder „Hamlet“, oder all das Leben aus einer Bruckner-Sinfonie herauszupressen. Das kann man nicht konsumieren wie ein Schokoriegel.

Was machen die Japaner da anders?
Harding: Ich glaube, sie pflegen viel mehr das Verständnis, dass viele Dinge im Leben den Aufwand wert sind. Vielleicht sind wir in Europa in diesem Punkt etwas faul und wollen vor allem Dinge, die uns schnell befriedigen. In Japan dagegen kann man beobachten, wie viel Geduld und Konzentration die Menschen bereit sind, aufzubringen, um etwas zu verstehen.
Ich habe jetzt nichts gegen Popkultur, ein guter Popsong kann dir eine Sache in drei Minuten unglaublich direkt vermitteln und dich berühren. Aber die Perspektive, die du durch großartige Kunst jeder Art bekommst – das braucht länger, das erfordert viel mehr persönliche Hingabe. Und es ist eine Schande, wenn wir das Interesse an Dingen verlieren, die das von uns fordern.

Zitiert

In Japan kann man beobachten, wie viel Geduld und Konzentration die Menschen bereit sind, aufzubringen, um etwas zu verstehen.

Daniel Harding

Sie haben sich dem Dirigieren schon sehr früh hingegeben. Ich las, dass Sie bereits mit 17 Sir Simon Rattle (damals Chef des City of Birmingham Symphony Orchestra) eine Aufnahme eines Schönberg-Stücks schickten und er sie daraufhin als Assistent engagierte. War das tatsächlich so?
Harding: Ja, beinahe. Es hat nicht erst mit der Aufnahme angefangen – und ich war erst 15. Wir waren eine Gruppe von Schülern am Musikgymnasium in Manchester und in unserer Freizeit haben wir uns „Pierrot Lunaire“ erarbeitet. Ich habe dann unserem Kompositionslehrer vorgeschlagen, Simon Rattle zu fragen, ob er uns eine Stunde gibt. Denn die Lehrer an unserer Schule hatten alle abgewunken, sie meinten, das sei zu schwierig. Also schrieb ihm unser Kompositionslehrer einen Brief: „Sehr geehrter Herr Rattle, wir haben hier Schüler im Alter von 15 und 16 Jahren, sie sind neugierig, haben einen großen musikalischen Appetit und sie brauchen jemanden, der ihnen sagt, dass sie mit ihrer Neugier Recht haben und dass es keine schlechte Sache ist, mit 15 Schönberg zu spielen.“ Rattle sagte Ja, weshalb wir dann diese Aufnahme anfertigten.

Und Sie wurden sofort sein Assistent?
Harding: Nein. Als wir bei ihm waren, sagte er zu mir, dass er in drei Wochen in Birmingham „Pierrot Lunaire“ aufführen würde und er fragte mich, ob ich nicht zu den Proben kommen wolle. Das war schon gutes Timing (lacht). Als ich dann kam, hat er mich vor sein Orchester gestellt und mich dirigieren lassen. Als nächstes bat er mich, ihm bei einer Aufnahme von Henzes Siebter Sinfonie zu helfen und danach engagierte er mich als Assistent.

Wie ist das, wenn man bereits als Teenager vor einem Orchester steht, in dem viele erwachsene Musiker spielen?
Harding: So richtig kann ich mich ehrlich gesagt gar nicht daran erinnern. Die einen waren sehr warmherzig, haben sich um mich gekümmert, andere waren weniger interessiert und dachten sich: „Mein Gott, warum spielen wir hier für ein Kind?“. Wobei das eher die Ausnahme war, die meisten Musiker waren unglaublich freundlich zu mir.

Als Sie in Trondheim Ihren ersten Posten als Chefdirigent erhielten, waren Sie gerade 22 Jahre alt. Im Gegensatz zu einem, sagen wir 50-jährigen Dirigenten, mussten Sie sich den Respekt der Orchestermusiker hart erarbeiten, oder?
Harding: Also, ich glaube niemand bekommt automatisch Respekt, in keinem Alter. Gut, vielleicht mit 80… (lacht) Als junger Dirigent darfst du nicht vortäuschen, Dinge zu beherrschen, die du nicht kannst, wo du noch keine Erfahrungen hast. Du musst den Musikern aber zeigen, dass du es mit der Sache ernst meinst, das respektieren die Leute.

Wie wichtig ist denn die jahrelange Erfahrung?
Harding: Es gibt absolut keinen Ersatz dafür, es gibt nichts, womit sich dieser Prozess verkürzen lässt, da hilft nur, möglichst jung anzufangen. Ich bin heute 35 und richtig froh, dass ich schon fast 20 Jahre Erfahrung hinter mir habe.

Wie viele der Jahre davon waren ein Ausprobieren?
Harding: 20. Ich würde auch sagen, dass jeder, der behauptet, dass dieser Prozess nicht bis in deine späten 50er anhält, lügt. Oder derjenige ist sich seiner Selbst in katastrophalem Ausmaß unbewusst.
Es geht auch darum, neues Repertoire auszutesten, du versuchst Dinge, die du bislang gemieden hast oder probierst sie nochmal, wenn sie sich nicht richtig angefühlt haben. Und dann merkst du: jetzt habe ich eine andere Perspektive. Ich mache gerade „Daphne“ von Richard Strauss, diese Musik habe ich zuvor noch nie dirigiert, weil ich nicht fühlte, dass ich einen Zugang zu dieser Musik habe. Oder ich habe vor kurzem italienische Oper gemacht, das war wie eine Reise zum Mond, verglichen mit allem, was ich bisher gemacht habe.

Können Sie sagen, welchen Komponisten Sie für sich entdeckt haben?
Harding: Schumann. Das ist für mich die am meisten unendlich faszinierende berührende Musik. Ich mache auch alle Sorten anderer Musik und habe wunderbare Erfahrungen, Bruckner hier, Mahler da… Aber dann komme ich zurück zu Schumann und denke: Das ist die außergewöhnlichste Musik. Es hat vielleicht damit zu tun, dass ich nicht verschmerzen kann, dass viele Leute nicht begreifen, dass er absolut …. Also, für mich ist Schumann einer der größten Komponisten die wir je hatten. Und es frustriert mich furchtbar, dass wir ihn in England nicht aufführen können, weil die Leute einfach nicht kommen. Simon Rattle hat einmal „Das Paradies und die Peri“ aufgeführt, danach kam einer der wichtigsten österreichischen Musiker zu ihm und sagte: „Ich weiß nicht, warum du deine Zeit mit diesem Müll verschwendest.“ – So ein Kommentar bricht mir einfach das Herz. Ich verstehe nicht, warum so viele intelligente, feinfühlige Personen ein Problem mit Schumann haben, der für mich einfach der außergewöhnlichste, ergreifendste Komponist ist.

In einer Kritik über ein Schumann-Konzert von Ihnen in der Royal Albert  berichtete einmal ein Journalist, dass Ihnen am Ende vor lauter Erregung der Taktstock aus den Händen geglitten sei.
Harding: Ach. Wie aufregend.

Stimmt die Geschichte?
Harding: Ja, aber was ist schon dabei?

Passiert Ihnen das oft?
Harding: Nein, bisher vielleicht 4-5 Mal insgesamt.

Ein Zeichen für Ihre Schumann-Begeisterung?
Harding: Keine Ahnung, ich weiß nicht, was es bedeutet. (lacht)

Sie dirigieren aber nicht immer mit Taktstock.
Harding: Nein, das verläuft bei mir in Phasen. Manchmal benutze ich monatelang keinen, im Moment allerdings fast immer. Es gab Zeiten, da war ich zu sehr auf den Taktstock fixiert, weshalb ich ihn zur Seite gelegt habe. Es sollte nichts sein, dem man sich zu sehr bewusst ist, wenn es zur Behinderung wird, lasse ich ihn weg.

Wie hat sich Ihr Dirigat in den Jahren verändert?
Harding: Ich bin wahrscheinlich geduldiger als früher. Man lernt mit der Zeit, die Dinge geschehen zu lassen, durch Anregung, man hat weniger das Bedürfnis alles kontrollieren zu wollen. Am Anfang hat man noch diesen Wunsch, in alles involviert und überall gleichzeitig zu sein. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Aufführung von Brahms Violinkonzert. Im zweiten Satz war ich so sehr beschäftigt, mit dem Solisten, den Passagen in den Bläsern, mit der Phrasierung usw. – Hätten Sie mich dabei beobachtet, Sie wären niemals auf die Idee kommen, dass ich gerade ein ruhiges, wunderbares Stück Musik dirigiere.

Ist das ein typischer Anfängerfehler?
Harding: Ja, die Lehrer sagen den jungen Dirigenten immer: „Dirigiere kleiner, mach weniger, vertraue dem Orchester.“ Aber das ist ungefähr so, als würde jemand zum FC Bayern sagen: „Schießt mehr Tore, und lasst weniger rein.“ Solche Hinweise sind völlig nutzlos! Denn das ist ein langer Prozess, in dem man herausfindet, wie man es am besten macht. Du musst herausfinden, wie du weniger machst – und trotzdem alle dirigierst. Und das kannst du nur von dir selbst lernen.

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