Benjamin von Stuckrad-Barre

Die Menschenwürde gilt es durchweg zu achten.

Benjamin von Stuckrad-Barre über seine Vorbilder, das Komikpotential von Politik, die TV-Show „Stuckrad Late Night“, seine Hundephobie, Boulevard-Journalismus, seinen Gang zum Springer-Verlag und Gemeinsamkeiten mit Donald Duck

Benjamin von Stuckrad-Barre

© ZDF/Markus Nass

Herr von Stuckrad-Barre, geben oder führen Sie lieber Interviews?
von Stuckrad-Barre: Führen ist wahnsinnig schwer, das kann ich eigentlich gar nicht. Wenn ich jemanden portraitiere, über ihn schreibe, dann versuche ich ein regelrechtes Interview  auch unbedingt zu vermeiden. Stattdessen versuche ich, die Leute so lange es geht zu begleiten, zu beobachten, mit Menschen um sie herum zu sprechen. Vorher gucke ich mir ganz viel Material über sie an, dann versuche ich so oft wie möglich dort zu erscheinen, wo sie öffentlich auftreten, so dass es wirklich schon nervt, und wenn die Person dann sagt „Sie schon wieder!“, dann ist es gerade gut.

Und Sie kommen dann völlig ohne Frage-Antwort aus?
von Stuckrad-Barre: In den Situationen kommt es schon öfter mal vor, dass die Leute zu mir sagen, „Sie haben sicher noch ein paar Fragen“, und für diesen Notfall proviantiere ich mich mit ein paar kleinen Fragen, die ich abfeuere, wenn ich merke, es ist jetzt sozial erwünscht, dass ich noch so ein Interview führe. Doch für die Portraits, die ich schreibe, ist das überhaupt nicht ergiebig, sondern vielmehr das, was uneigentlich gesagt wird. Nebenbei. Was Leute in realen Situationen sagen und tun, wie sie sich verhalten, da ist für mich viel mehr drin, als in so klassischen Journalistenschulen-Fragen wie „Sie haben ja mal in einem Interview dies und das gesagt – wie stehen Sie heute dazu?“ Das finde ich wahnsinnig langweilig, weil der Interview-Partner so etwas schon 100 mal beantwortet hat. Da kommt dann meist wenig bei raus. Ich habe auch kaum den Ehrgeiz, Leuten eine Frage zu stellen, die noch nie jemand gestellt hat. Das ist ja eine wahnsinnige Eitelkeit, anzunehmen, dass man jetzt etwas auf dem Notizblock hat, was noch niemand vorher, der sich mit der Person beschäftigt hat, gefragt hat.

Ist doch aber durchaus möglich.
von Stuckrad-Barre: Es kann mal gelingen. Ich glaube sogar, mir ist es bei Angela Merkel geglückt. Als ich die ganz kurze Gelegenheit hatte, sie zu interviewen und ich wirklich keine Fragen hatte, weil ich fand, dass alles andere spannender ist, denn sie war gerade in so einem Wahlkampf-Modus und gab permanent lauter eingeübte, fragenunabhängige Antworten zu Protokoll, da ist es wirklich nicht interessant, jemanden zu befragen, da ist gar kein Durchkommen…

Was haben Sie denn gefragt?
von Stuckrad-Barre: Ich habe sie gefragt, warum sie ihre Hände immer zu so einer Raute formt. Ich glaube, wenn es dermaleinst an die Grabrede geht, kann man sagen, dass ich der Erste war, der sie das gefragt hat. Ihre Antwort war herrlich: Sie mache das, sagte die Kanzlerin, weil dadurch gewährleistet sei, dass sie gerade stehe, weiter bedeute das nichts. Diese prosaische Auskunft erklärte mir eine Menge über das Wesen der Angela Merkel.

Und wie ist es nun mit Interviews geben?
von Stuckrad-Barre: Interviews zu geben finde ich nur sinnvoll, wenn es etwas mitzuteilen gibt, also man über etwas spricht, das man gerade macht oder gemacht hat, ein Buch, ein Film, eine Fernsehsendung. Ich habe ja nichts mitzuteilen außerhalb meiner Arbeit, ich habe darüber hinaus keinen Geständniszwang, sondern ich versuche, das, was mich bewegt und umtreibt, in meinen Arbeiten zu äußern – in einer Fernsehsendung, einem Buch, einem Text, einem Drehbuch, in was auch immer. Das ist meine Äußerungsform und wenn man dann auf diese Arbeit aufmerksam machen will, ist es sinnvoll, Interviews zu geben. Dann mache ich das, sonst nicht.

In Ihrer Arbeit zeigt sich oft ihre ganz eigene Art und Weise, zu formulieren, aufzutreten, sich zu artikulieren. Woher kommt diese Art? Was hatten Sie für Vorbilder?
von Stuckrad-Barre: Es gibt wahnsinnig viele Vorbilder, im Schreiben, auch in allem anderen. So kommt ja jeder zu einem im weitesten Sinne künstlerischen Beruf, über Vorbilder. Erstmal imitiert man, so geht es los. Und über das Nachmachen gelangt man dann irgendwann zu einem eigenen Stil, einfach, indem  man immer mehr macht, mehr Einflüsse zulässt, die eigene Stimme findet, so entsteht dann im besten Fall eine eigene Sprache, auch eine eigene Vorgehensweise.

Welche Vorbilder meinen Sie konkret?
von Stuckrad-Barre: Ich habe ganz viele Helden, viele Schriftsteller, die in der ersten entscheidenden Phase des Lebens, nämlich der Pubertät, sehr wichtig für mich waren: Jörg Fauser, Charles Bukowski, Helmut Krausser, Max Goldt, Wiglaf Droste, Robert Gernhardt. Die habe ich wahnsinnig gerne gelesen, das war das erste, was ich abseits der Schule freiwillig gerne gelesen habe, was mich richtig begeistert hat. Da gibt es viele Helden, bis heute, auch als Zeitungsleser, da bin ich zum Beispiel ein großer Fan von Hans Leyendecker und Willi Winkler von der Süddeutschen, zwei absolute Götter von mir.
Das sind einfach Leitsäulen in meinem Koordinatensystem, alles, was diese Genannten gemacht haben oder noch machen, so sie noch leben, interessiert mich sehr. Auch Falco zum Beispiel, obwohl ich natürlich keine Rap-Musik mache, und doch war und ist dessen ganze Art von Leben, seine Art, mit der Sprache umzugehen, ein wirklicher Fixstern für mich.

Zum einen schreiben Sie Texte, zum anderen moderieren Sie jetzt wieder. Wie erleben Sie die Situation vor der Kamera? Arbeiten Sie an Ihrem Auftreten, schauen Sie sich eigene Auftritte an…
von Stuckrad-Barre: Ich gucke mir eine Sendung danach noch mal an, aber ein bisschen schlampert, weil ich es im Detail nicht aushalte.

Weil Sie es nicht aushalten?
von Stuckrad-Barre: Ich finde, man muss etwas hinstellen und dann vor allem weitermachen. Im Nachhinein zu gucken, „da hätte ich dies und das machen müssen, das wäre besser gewesen, und eigentlich wollte ich doch…“ – das ist nicht unbedingt hilfreich. Man weiß es ja, es hat wieder nicht ganz hingehauen, es haut nie so ganz hin, und deshalb macht man immer weiter. Ich freue mich aber über Leute – deren Anzahl man allerdings klein halten sollte – die was davon verstehen und einem Tipps geben können. Im Fall der Fernsehsendung ist das zum Beispiel Christian Ulmen, der einfach viel mehr vom Fernsehen versteht als ich.

Warum ist Ihre Sendung „Stuckrad Late Night“ eigentlich so sehr in die politische Richtung gegangen?
von Stuckrad-Barre: Das ist überhaupt die Daseins-Berechtigung der Sendung. Ich habe mich der Politik als bevorzugtem Beobachtungsgebiet irgendwann zugewandt, anfangs durch die Arbeit mit Helmut Dietl, der einen Film machen wollte, der im Berliner Regierungsviertel spielt (der Film „Zettl“ startete Anfang 2012 in den deutschen Kinos, Anm. d. Red.). Damit haben wir uns lange beschäftigt und in der Zeit habe ich auch zum ersten Mal Politiker länger beobachtet, mich da rangewagt. Klaus Wowereit war der erste, den ich mir wochenlang immer wieder angeguckt habe, bei öffentlichen Auftritten, wo immer es ging, um ein Porträt über ihn zu schreiben. Auch da gab es dann irgend so ein „Interview“, davon konnte ich aber gar nichts gebrauchen. Dagegen war alles, was er auf der Straße oder anderswo öffentlich gesagt hat, wunderbar, um ihn zu verstehen und ihn beschreiben zu können.

Aber wie macht man daraus eine TV-Show?
von Stuckrad-Barre: Ich hatte mit Christian Ulmen schon urlange über eine Sendung nachgedacht, und das war dann als erstes klar: Ich möchte mich mit Politikern unterhalten. Ich finde, das ist ein Berufsstand über den man gar nicht genug erfahren kann. Erstmal habe ich großen Respekt davor, wenn sich jemand für diesen Beruf entscheidet, weil es, glaube ich, der härteste Beruf der Welt ist – und gleichzeitig liegt wahnsinnig viel Komik darin, automatisch. Es geht in der Politik permanent um Verstellung, es entsteht oft sehr lustiger Text, weil die Leute nicht die Wahrheit, oder zumindest nicht die ganze Wahrheit sagen dürfen, oder zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht, wo sie sich dann herumwinden müssen. Da entsteht eine absolut seltsame Sprache, die ganz gezielt am Eigentlichen vorbeigeht, das ist einfach sofort komisch.

Das heißt, die Politik kommt in Ihre Sendung aufgrund des Komikpotentials?
von Stuckrad-Barre: Auch weil es mich wirklich interessiert. Ich sehe zum Beispiel überhaupt keinen Anlass, mich mit einem Schauspieler, einem Sänger oder einem Model zu unterhalten, die gerade ein Buch über eine Gemüse-Diät geschrieben haben oder so. Das ist alles prima, aber das gibt es meiner Meinung nach schon in ausreichendem Maße.
Für uns war immer klar, dass wir dieses reale Politik-Personal mit unseren Mitteln konfrontieren wollen, mit einer normaleren Form des Gesprächs, normaler als in den Pseudo-Ersatzparlamenten der anderen politischen Talkshows. Das ist eigentlich das Ziel.

Wissen Ihre Gäste vorher, was auf sie zukommt?
von Stuckrad-Barre: Inzwischen wissen die Leute es etwas genauer. Am Anfang der ersten Staffel war das noch schwierig, weil man die Sendung noch nicht kannte. Doch mittlerweile wissen ein paar Politiker, oder zumindest ihre Referenten, dass man da ruhig hingehen kann, dass es unterhaltsam ist, aber kein bloßes Geblödel, sondern im Kern schon mit ernstem Ansinnen, nämlich einem Verstehenwollen seitens des Gastgebers und dass sie dort auch einem Publikum begegnen, das sie sonst vielleicht nicht haben – und natürlich gibt es auch einige, die genau aus diesen Gründen auf gar keinen Fall kommen werden. Es ist jetzt, da wir in die zweite Staffel gehen, viel leichter geworden, Zusagen von Politikern zu bekommen. Es hat sich herumgesprochen, wie diese Sendung abläuft.

Kriegen die Gäste vorher Eckpunkte von Ihnen, was in der Show passiert?
von Stuckrad-Barre: Nein. Die meisten sind ja auch Vollprofis, die kommen überall hin, wo eine Fernsehkamera steht, wo sie ihren Text ausbreiten können. Viele haben aber auch wirklich Freude an diesem Format, da gab es in der ersten Staffel wirklich nette Überraschungen. Das hat mir Spaß gemacht, die Politiker so zu treffen, sie ernst zu nehmen. Wir blödeln hier nicht rum, aber wir sagen: Wir besprechen es jetzt mal anders.

Auf die Gefahr hin, dass der erste Teil der Frage doof klingt, aber mal angenommen, sie kriegen heute den Zuschlag als neuer Moderator von „Wetten Dass…?“, wen würden Sie in Ihre erste Sendung einladen?
von Stuckrad-Barre: Das klingt in der Tat doof.

Ich weiß, mir ging es darum: Was würden Sie diesem in Deutschland größtem TV-Publikum vor die Nase setzen wollen?
von Stuckrad-Barre: Keine Ahnung. Für so eine Art Show bin ich nicht zuständig. Ich verstehe gar nichts davon. Ich habe es immer wahnsinnig gern geguckt und ich finde, man sollte es jetzt mal ohne Moderator probieren. Mal sehen, ob’s jemand merkt. Die Sendung hat ja eigentlich sehr starke Abläufe. Einfach mal gleich in Mallorca starten, ohne Moderator. Müsste gehen.

Gut, anders gefragt: Was ist eher Ihr Ding, dem Publikum anbieten, was es will oder es mit Ungewohntem konfrontieren?
von Stuckrad-Barre: Ich kenne die gar nicht, diese „das Publikum“. Weil es das ja auch gar nicht gibt. Erstmal ist man ja auch selber Publikum und überlegt sich: Was interessiert einen selbst? Daran sollte man sich orientieren, das ist in der Arbeit immer wichtig. Nicht „über wen wird gerade viel geredet usw.“ sondern „wer ist für mich eine interessante Figur?“. Dann hat man bereits die Hälfte der Vorbereitung, weil man schon etwas über diese Figur weiß, schon ein Verhältnis zu ihr hat. In die erste Sendung der zweiten Staffel jetzt kommt zum Beispiel Michael Glos, und meine Vorfreunde könnte gar nicht größer sein. Über den habe ich schon so viel gelesen, so viel gehört, er hat eine unheimlich interessante Biografie, wunderbar.

Zitiert

Es geht in der Politik permanent um Verstellung, es entsteht oft sehr lustiger Text, weil die Leute nicht die Wahrheit, oder zumindest nicht die ganze Wahrheit sagen dürfen.

Benjamin von Stuckrad-Barre

Und die Relevanz des Ganzen fürs Publikum?
von Stuckrad-Barre: Das Publikum findet die Sendung dann schon, glaube ich, nicht andersrum. Eine Sendung sollte nicht ihr Publikum suchen, sondern man sollte erstmal etwas hinstellen, das einem selbst Freude macht. Das Publikum ist ja beweglich, das findet sich dann ein.

Sarah Kuttner sagte uns kürzlich in einem Interview, „Fernsehen wird immer hässlicher, anstrengender und immer döfer“.
von Stuckrad-Barre: Das finde ich gar nicht. Die Idiotie des Fernsehens ist überhaupt kein ergiebiges Diskussionsthema, die gab es immer, aber gleichzeitig gab es immer auch gutes Fernsehen. Und der selbständige souveräne Zuschauer ist gefordert, sich sein Programm mit Hilfe der Fernbedienung zusammenzustellen, oder mit Mediatheken usw. Zu sagen, das Programm ist schlecht, ist das Dümmste, was einer sagen kann.
Man kann natürlich sagen: „Das Angebot unterfordert mich“. Das fände ich, ist ein Vorwurf, dem sich die öffentlich-rechtlichen Sender auch stellen müssen. Ich finde es absolut in Ordnung, dass es eine Carmen Nebel-Sendung gibt, ich gucke die zum Beispiel wahnsinnig gern, nur wahrscheinlich aus anderen Gründen als der klassische Carmen Nebel-Zuschauer. Wenn es aber zu viele Sendungen dieser Art gibt, die immer nur auf die ja nicht ganz zu Unrecht breite Masse genannte Art Publikum abzielen, dann ist das für solche gebührenfinanzierten Sender etwas dünn, weil sie ein bestimmtes Publikum immer ausschließen. Deshalb finde ich das Primat der Quote bei den öffentlich-rechtlichen Sendern auch vollkommen falsch. Ich finde, die könnten, ja müssten sich das leisten, auch einem bestimmten, kleineren Teil des Publikum genug anzubieten. Auch wenn es vielleicht nur wenige sind, man kann die ja nicht einfach ausschließen.

Im Moment werden solche Inhalte auf Nebenkanälen wie ZDFneo versteckt.
von Stuckrad-Barre: Mir persönlich ist wahnsinnig wohl dabei, in dieser Konstellation zu arbeiten, weil dann nicht so ein riesiger Druck darauf lastet. Da gelten noch andere Regeln als die nackte, totale Zahl der Quote, „so und so viel Zuschauer sind es nur, im Senderschnitt, ist das um diese Zeit noch gut“ usw. bla bla. Hier kann man es erstmal entwickeln, bei einem größeren Sender ginge das wohl nicht. Da muss man schon ab der ersten Sendung gleich behaupten, man hat es schon, das Konzept ist in Beton gegossen und alles an seinem Platz, dabei hat man es vielleicht noch gar nicht und braucht Zeit, es zu entwickeln, was ja der Qualität wirklich zugute kommen kann.

Ein Anderes Thema: Wenn Sie einen Hund hätten…
von Stuckrad-Barre: Das ist auszuschließen.

Ach so?
von Stuckrad-Barre: Ja, das sind die Tiere, vor denen ich am meisten Angst habe, ich finde alles an Hunden absolut widerlich und beängstigend: wie sie riechen, die Geräusche, die sie machen, die Gefahr, die von ihnen ausgeht, das sind ja richtige Waffen. Auch die Art, wie Menschen mit denen umgehen, die Beziehung Mensch-Hund ist mir absolut zuwider Mich als Jogger fallen regelmäßig Hunde aller Art an und wollen angeblich – haha – „nur spielen“… Ich will aber nicht spielen. Will ich wirklich nicht.

Tja, ich wollte Sie eigentlich fragen, wenn Sie einen Hund hätten, welche Rasse der dann wohl hätte.
von Stuckrad-Barre: Er müsste wahnsinnig klein sein, obwohl die kleinen ja oft die nervigsten sind – aber dann wäre meine Angst nicht so groß. Ich habe wirklich richtig Angst vor Hunden. Und zwar ab Dackelgröße.

Ist die „B.Z.“ noch eine „Pitbull-Zeitung“?
von Stuckrad-Barre: Das habe ich mal geschrieben, ja, über Franz-Josef Wagner, das passte zu ihm und der Art, wie er die Geschicke des Blattes gelenkt hat. Das macht inzwischen jemand anderes, der es auf eine Art macht, die mir sehr viel angenehmer ist. Gleichzeitig muss ich zur Kenntnis nehmen: Das, was Franz-Josef Wagner schreibt, funktioniert offenbar. Ich lese jeden Morgen die „Bild“-Zeitung. Ein Tag ohne „Bild“-Zeitung – auch ohne andere Zeitungen, nur die „Bild“ ist zu wenig – ist für mich unvorstellbar. Ich lese vier Zeitungen jeden Tag, andernfalls fehlt mir was, ich gehe selbst im Urlaub weite Wege, um sie alle zu bekommen. Und als erstes lese ich immer Wagner, da habe ich noch nicht mal zur Kenntnis genommen, was auf dem Titel steht. Und jeden Morgen wette ich, an wen er heute seinen Brief da geschrieben hat, und nicht selten liege ich richtig: „Liebes Wetter“ oder „Liebe Glühbirne“ oder was auch immer – und schon deshalb funktioniert das.

Zurück zur Zeitung, für die Sie schreiben. Damals war es für Sie eine „Pitbull“-Zeitung, was ist sie heute?
von Stuckrad-Barre: In Hunden ausgedrückt? Naja, Pitbull meinte damals …

Ein Pitbull ist ein Kampfhund.
von Stuckrad-Barre: Genau. Das ist sie jetzt definitiv nicht mehr. Gleichzeitig muss Boulevard natürlich immer auch mal Kampfhund sein, wobei das dosiert stattfinden muss, sonst verliert es an Kraft.
Boulevard kann extrem viel Spaß machen, eben, wenn man es gut macht. Ich lese wirklich gern Boulevard-Zeitungen, allein schon, weil mich diese Hysterie-Grammatik interessiert. Zum Beispiel beim Fußball. Ich habe keinen Lieblingsverein, aber den Sport-Teil der „Bild“ lese ich Wort für Wort. Das ist fantastisch gemacht, das interessiert mich rein sprachlich sehr.

Apropos Fußball. Nach dem verheerenden Foul an Michael Ballack im Mai 2010 gab Kevin-Prince Boateng der Website fifa.com ein Interview in dem er sein Bedauern über den Vorfall ausdrückte und außerdem den Satz sagte: „Ich spiele, um zu gewinnen, egal ob mein Gegner mein Bruder, mein Vater oder meine Mutter ist“. Die „B.Z.“ generierte daraus die Schlagzeile: „Boateng würde sogar seine Eltern schlagen.“
von Stuckrad-Barre: Und jetzt ist Ihre Frage, ob die „B.Z.“ das zugespitzt hat? Ganz gewiss. Mal gelingt das, mal eher nicht. Also, ganz ehrlich: Wenn Boulevard nicht zuspitzt… Natürlich muss er zwischendurch die sprachlichen Instrumente wechseln, doch wenn er durchweg feingeistig argumentiert, das wäre ja das Verlogenste und Sinnloseste überhaupt. Thema verfehlt. Boulevard muss spielerisch sein, laut sein, und vor allem überraschend. Darin liegt ja auch der Spaß. Es muss allerdings Schmäh – im österreichischen Sinne – haben, sonst nervt es.

Muss es populistisch sein?
von Stuckrad-Barre: Na, aber hallo! Das ist Boulevard, die Zeitung muss einen am Kiosk so anschreien, dass es quietscht, überm Knick.

Ohne Rücksicht auf Verluste?
von Stuckrad-Barre: Nein. Natürlich nicht. Sie meinen das ja sicherlich nicht kaufmännisch, Verluste, oder?

Menschenwürde.
von Stuckrad-Barre: Die Menschenwürde gilt es zum Beispiel durchweg zu achten. Das ist eine ganz einfache Regel.

…im Umgang mit Toten zum Beispiel.
von Stuckrad-Barre: Was genau meinen Sie?

Wenn zum Beispiel, wie kürzlich geschehen, ein Mordopfer in „Bild“ als „bizarr“ und „homosexuell, mit ständig wechselnden Männerbekanntschaften“ diffamiert wird.
von Stuckrad-Barre: In der Boulevard-Produktion werden Kriminalgeschichten oder Verbrechen, glaube ich, „Krimi“ genannt. Es existiert ganz offenbar, und zwar immer schon, ein Bedarf an Geschichten solcher Art.  Ich selbst ertrage es aber nicht, das zu lesen. Ich überblättere das.

Hellmuth Karasek sagte uns im Interview, sein Gang zum Springer-Verlag wäre politisch motiviert gewesen. War das bei Ihnen auch der Fall?
von Stuckrad-Barre: Wie hat Karasek das begründet?

Unter anderem damit, dass er sah, wie auf einer Demonstration Bush-Puppen verbrannt wurden und Wolfgang Thierse daneben stand. Und mit dem Spruch „Wer mit 20 Jahren…
von Stuckrad-Barre: … kein Kommunist ist, hat kein Herz, wer mit 40 immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand.“ Aha.
Also, ich finde Karasek ist ein großartiger Autor, auch ein großer Unterhaltungskünstler. Sein  Weggang vom scheinbar gemütlichen Schrebergarten, nämlich irgendeinen Kulturteil zu leiten, in so einem Wohlfühlding, wo alle sich einig sind und sich als die besseren Menschen sehen, wo es so eng wird, das ich kotzen könnte… Eine solche behagliche Hölle zu verlassen, und zwar mit Karacho, davor habe ich Respekt. Die Texte bleiben ja die Texte, es muss – egal unter welchem Dach – die Anforderung erfüllt sein, dass man als Autor seine eigene Firma ist. Und dann veröffentlicht man doch lieber dort, wo es eine Reibung erzeugt. Das finde ich immer interessanter und das zählt für mich.
Diese Mythen, „der Verlag ist so, der andere so…“ – das ist doch alles überholt, totaler Quatsch. Nach den Erfahrungen, die ich gesammelt habe, gibt es zum Beispiel bei der FAZ richtige Arschgeigen und gleichzeitig ganz tolle Autoren, nach deren Texten ich süchtig bin. Genauso ist es beim Spiegel, bei der Süddeutschen oder beim Springer-Verlag. Bei jeder Firma ab drei Leuten ist das so, dass es da Gute und Schlechte gibt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Man muss dahin gehen, wo man mit guten Leuten zu tun hat, wo man das machen kann, was man will und wie man es will.

Also war Ihr Gang zu Springer nicht politisch motiviert?
von Stuckrad-Barre: Es ist, wenn man unbedingt will, auch eine politische Entscheidung. Wo herrscht das Klima vor, diese Art Pluralismus, dass ich mich da wohlfühle, dass ich da gerne mitmache? Das hat damit zu tun, wie Leute miteinander umgehen, wie sie arbeiten, wie Leute eine Zeitung herstellen – und das ist mir bei Springer wahnsinnig angenehm. Politisch im engeren Sinne würde voraussetzen, dass Zeitungen, ja sogar ganze Verlage eine bestimmte politische Richtung hätten – aber das ist ja nicht wahr. In den Zeitungen, für die ich schreibe, nämlich die „B.Z.“, „Die Welt“ und den „Rolling Stone“ ist es geradezu Prinzip, dass Leute unterschiedlicher Meinung auf ein und derselben Zeitungsseite schreiben – das ist doch wunderbar.

Und das Zitat mit den „Anfang 20“, passt das für Sie?
von Stuckrad-Barre: Ich habe da nichts aufzuarbeiten, ich war nie Kommunist. Aber vielleicht werde ich es ja noch, wer weiß? Im Moment sieht es allerdings nicht so aus.

Ich habe diese Fragen gestellt, weil ich glaube dass viele Ihrer Leser sich gefragt haben, warum Sie zu Springer gegangen sind.
von Stuckrad-Barre: Aber das ist doch immer gut. Fragen auszulösen ist immer gut. Es wird mir sonst echt zu kuschelig. Mir geht es darum, dass ich nach meinen Regeln arbeiten kann. Dafür brauche ich einen geschützten Raum, in dem ich mich betätigen und – Hammerwort – „verwirklichen“ kann. Dafür brauche ich gute Leute, gute Bedingungen, ein angenehmes Klima, und wie der Verlag heißt, das ist in dem Fall egal. Wir haben das ausprobiert, es war für beide Seiten vielleicht ein Wagnis, aber es hat so gut hingehauen, dass wir Jahr um Jahr verlängern, und ein Ende ist nicht abzusehen.

Ich habe auch schon tolle Texte von Ihnen bei Springer gelesen, nur eben auch Schlagzeilen auf der „B.Z.“, wo ich mich frage, ob Sie sich damit identifizieren können.
von Stuckrad-Barre: Aber ich habe auch mal für den „Stern“ geschrieben und wenn dann ein Titelblatt kommt mit „Volksleiden Rückenschmerzen“, dann muss ich eine Woche lang kotzen. Trotzdem verstehe ich, dass man es auf den Titel tut, weil es halt wahnsinnig viele Leute interessiert und die kaufen sich dann den „Stern“ weil sie denken „Mein Rücken tut immer so weh.“ Aber das Thema „Volksleiden Rückenschmerzen“ in einer Zeitschrift zu verhandeln ist für mich dennoch das Allerletzte.
Ich schreibe gerne dort, wo es rumpelt, wo verschiedene Leute sich äußern, wo sich nicht alle einig sind und auch nicht alle dasselbe Leben führen. Sonst schlafen mir echt die Füße ein.

Schlussfrage: Das Leben ist ein Comic – welche Figur sind Sie?
von Stuckrad-Barre: Donald Duck.

Warum der?
von Stuckrad-Barre: Ich mag den Matrosenanzug. Und er ist unheimlich sympathisch, weil er eigentlich immer Pech hat. Das mag man natürlich gerne. Das ist ein Stellvertreter, christusgleich, der räumt alles weg. Wenn irgendwo eine Walze die Straße lang kommt, kann man sicher sein, dass sie über ihn drüberfährt. Danach steht er wieder auf und macht weiter. Und dann kommt es noch schlimmer. Damit kann ich mich gut identifizieren.

2 Kommentare zu “Die Menschenwürde gilt es durchweg zu achten.”

  1. kerstin schrader-allam |

    Großartig

    ich muss sagen ein tolles sehr interessant interview.

    …und zum kommentar von herrn paul müller

    kann ich nur sagen lieber kein geraden satz aber dafür die richtigen.

    Antworten
  2. Paul Müller |

    Erstaunlich…

    …dass jemand, der live keinen geraden Satz sagen kann – s. \“Hart aber Fair\“ von gestern abend – solche Interviews gibt. Da hat der Autor desselben aber ganz schön glätten müssen…

    Antworten

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