Antje Christ und Dorothe Dörholt

Es fehlen 177 Millionen Frauen

In ihrem Dokumentarfilm „Bloß keine Tochter – Asiens Frauenmangel und die Folgen“ (arte 19. Juni, 20.15 Uhr) zeigen Antje Christ und Dorothe Dörholt die Hintergründe für den gravierenden Männerüberschuss in Asien auf. Dabei legen sie dar, dass dieser auch ein Resultat von Entwicklungshilfepolitik ist. Im Interview sprechen sie über ihre Recherche, Ursachen und Wirkung des Frauenmangels und wie Länder versuchen, ihm entgegenzuwirken.

Antje Christ und Dorothe Dörholt

© Privat

Frau Christ, Frau Dörholt, Sie behandeln in Ihrem jüngsten Film das Thema Frauenmangel in Asien. Wie sind Sie darauf gekommen?

Dörholt: Wir haben 2014 den Film „Vergewaltigt! – Die Angst der Frauen in Indien“ gedreht. Wir wollten wissen, warum es eigentlich in Indien immer wieder zu dieser schrecklichen Gewalt gegen Frauen kommt. Dabei sind wir auf den Frauenmangel gestoßen und die komplexe Geschichte der Bevölkerungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg.

In welchen Ländern ist dieser Frauenmangel besonders eklatant?

Christ: In China oder Südkorea gibt es heute vor allem auf dem Land viel mehr Männer als Frauen, das Verhältnis liegt oft bei 100:80. Oder in Indien, wenn Sie dort auf einem Flughafen sind, sehen Sie, dass viele Familien ausschließlich Söhne haben. Laut offiziellen Statistiken des UNFPA (Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen) fehlen weltweit mittlerweile 177 Millionen Frauen. Auch in Europa werden Mädchen aussortiert: Albanien, Armenien, Aserbaidschan oder Georgien haben ein ungleiches Geschlechterverhältnis. Und die Zahl der Länder, in denen Mädchen abgetrieben werden, wächst.

Schulklasse in Indien © Dorothe Dörholt

Schulklasse in Indien © Dorothe Dörholt

Wie kommt es denn, dass in vielen Entwicklungsländern Jungen bevorzugt werden?

Dörholt: Ein Grund ist, dass die Familien sich einen Stammhalter wünschen. In Indien kommt hinzu, dass bei einer Hochzeit die Familie der Braut Geld an den Bräutigam bezahlen muss. Das sind in der Regel so hohe Summen, dass es für Familien den Ruin bedeutet, wenn sie mehr als eine Tochter haben. Außerdem zieht die Tochter nach der Ehe zu der Familie des Bräutigams und es ist ihre Pflicht, sich zeitlebens um ihre Schwiegereltern zu kümmern. In Indien gibt es ein Sprichwort, das ungefähr so lautet: Eine Tochter zu haben, ist wie den Garten der Nachbarn zu bewässern. Einen Sohn zu haben, kommt aber in Indien einem Sechser im Lotto gleich, wenn er heiratet.

Christ: In China ist es so, dass die Söhne sich um die Eltern kümmern müssen. Sie sind quasi deren Rentenversicherung, weil es keine staatliche Absicherung gibt. Deshalb wollten die Eltern zur Zeit der Ein-Kind-Politik natürlich unbedingt einen Sohn.

Sie zeigen im Film aber auch, dass der Frauenmangel noch andere Ursachen hat.

Christ: Ja, die Sohnpräferenz ist nur ein Faktor. Verantwortlich ist ein unheilvolles Zusammenspiel aus eben dieser Tradition mit der westlichen Bevölkerungspolitik und den medizinischen Möglichkeiten zur vorgeburtlichen Geschlechtsbestimmung.

Dörholt: Um es plakativ auszudrücken: Man hatte im Westen Angst, dass uns die Menschen in den Entwicklungsländern ‚die Haare vom Kopf fressen könnten’. Der medizinische Fortschritt hatte dazu geführt, dass dort die Lebenserwartung stieg, die Kindersterblichkeit ging zurück und so wuchs die Bevölkerung rasant. Und Arme, so dachte man damals, sind leichte Beute für den Kommunismus. Aus diesem Grund haben einige einflussreiche Männer wie John D. Rockefeller der Dritte in den USA eine Bevölkerungskontrollbewegung gestartet und Stiftungen gegründet, um die Armen dazu zu bringen, weniger Kinder in die Welt zu setzen.

Stand dahinter die US-Regierung?

Dörholt: Die amerikanische Regierung und viele westliche Ländern sind mit aufgesprungen und haben Abermillionen für Bevölkerungskontrollprogramme gespendet. Diese Programme liefen damals fast in jedem Dritte-Welt-Land.

Wie ist das dann konkret umgesetzt worden?

Dörholt: Zuerst wurden Gesundheitshelfer ausgebildet, die dann für Aufklärungskampagnen in die hintersten Winkel der Länder geschickt wurden. Als die Menschen dort aber wenig Interesse an den Verhütungsmitteln zeigten, haben sie Belohnungen gezahlt, auch an Ärzte und medizinisches Personal. Für jede Frau, die sie zu Sterilisierung oder Einsatz einer Spirale bringen konnten, erhielten die Gesundheitshelfer Geld. Die behandelten Frauen wussten oft nicht mal, was genau man mit ihnen gemacht hat. Die meisten Eliten in den Entwicklungsländern waren selbst auch daran interessiert, die Zahl der Armen zu reduzieren, doch initiiert und gemanagt wurden die Maßnahmen von den westlichen Organisationen, das zeigen die Dokumente aus dem Rockefeller Archiv. Außerdem hat die amerikanische Regierung Druck auf die Entwicklungsländer ausgeübt und Entwicklungshilfe an die Bedingung geknüpft, dass das Land Bevölkerungskontrolle betreibt.

In Indien ist die Lage dann eskaliert und Indira Gandhi hat acht Millionen Männer und Frauen in einem Jahr zur Sterilisation gezwungen, so zeigen Sie es im Film.

Dörholt: Und trotz all dem ging der Rückgang der Geburtenrate den Bevölkerungskontrolleuren nicht schnell genug. Dann haben sie die Bevorzugung von Söhnen beobachtet und gemerkt, dass die Menschen in Entwicklungsländern so lange Kinder bekommen, bis sie einen Sohn haben. Also haben die Stiftungen wie der amerikanische Population Council Millionen in die Forschung gesteckt und Wissenschaftler motiviert, Wege zu finden, das Geschlecht eines Kindes bereits vor der Geburt bestimmen zu können.

Christ: Als das mit der Plazentapunktion dann möglich war, haben Abgesandte der Stiftungen die Methode z.B. in Indien hunderten Medizinstudenten beigebracht. Und als die Menschen in den Entwicklungsländern merkten, dass sie ein Baby, das sie sowieso nicht wollten – nämlich eine Tochter – abtreiben konnten, nahm die vorgeburtliche Selektion ihren Lauf.

Dörholt: Die Organisationen haben diese selektive Abtreibung vorangetrieben, dafür haben wir Beweise in den Akten gefunden. Sie haben ungeborene Mädchen quasi für ihre Bevölkerungsagenda geopfert.

Es wurde dann durch entsprechende Informationspolitik und Beratung dafür gesorgt, dass die Familien bereit waren, weniger Kinder zu bekommen.

Christ: Zuerst haben sie es mit Aufklärung und Beratung versucht. Als die Menschen aber weiterhin viele Kinder bekamen, haben sie die Geburtenkontrolle quasi selbst in die Hand genommen. Es kam zu massiven Menschenrechtsverletzungen wie Massensterilisationen in Indien und Zwangsabtreibungen in China – die von den Regierungen initiert wurden.

China hat einen statistischen Männerüberschuss von 30 Millionen. © Antje Christ

China hat einen statistischen Männerüberschuss von 30 Millionen. © Antje Christ

Warum liegt den reichen Industrienationen daran, dass in den so genannten Ländern der Dritten Welt die Geburtenraten zurückgehen?

Christ: Die Angst vor der Übermacht der Armen hat schon im 18. Jahrhundert der britische Ökonom Thomas Robert Malthus geschürt. Damals haben sie mit knappen Ressourcen argumentiert. Dabei haben die Armen nur einen winzigen Teil der Ressourcen verbraucht. Und heute hört man immer noch Stimmen, die zur Bevölkerungsreduktion aufrufen. Heute argumentieren sie mit dem Klimawandel.

Dörholt: Jetzt wird davon gesprochen, dass die Umwelt so viele Menschen nicht verkraften kann. Also soll die Bevölkerung in Ländern, in denen die Menschen viele Kinder haben, reduziert werden. Dabei haben diese Menschen nur einen winzigen ökologischen Fußabdruck. Es sind eben nicht die zehnköpfigen Familien in Ghana, sondern die dreiköpfigen europäischen Familien, die für den Klimawandel verantwortlich sind.

Aber es machen sich nicht nur weiße amerikanischer Männer Sorgen, angesichts der Bevölkerungsexplosion. Der Filmemacher Valentin Thun hat 2015 die Frage problematisiert, wie die zehn Milliarden Menschen, die weltweit für das Jahr 2050 prognostiziert sind, satt zu kriegen sind.

Christ: Genauso gibt es Wissenschaftler die darüber besorgt sind, dass bald ein Zenit erreicht ist und die Weltbevölkerung dann schrumpft. Der schwedische Professor Hans Rosling prognostiziert, dass sich die Weltbevölkerung bei 11 Milliarden einpendeln und ab 2030 sogar langsam zurückgehen wird.

Die Bevölkerungsexplosion ist Ihrer Ansicht also nicht ein so großes Problem, als das es häufig dargestellt wird?

Christ: Der grundsätzliche Fehlschluss der Bevölkerungsexplosionsdebatte ist, dass eine große Kinderzahl als Ursache der Armut gesehen wird. Nein, es ist umgekehrt. Die Menschen brauchen mehr Kinder, weil sie arm sind. Kinder können früh auf dem Feld mit anpacken oder Geld erbetteln und es braucht viele Kinder, um später das Überleben der Eltern zu sichern. Man muss nur mal an die vielen Kinder denken, die auch europäische Familien noch im 19. und 20. Jahrhunderts hatten, als Armut hier ein Thema war. Um Menschen aus der Armut herauszuholen, bedarf es aber ganz anderer Wege. Das geht vor allem über Bildung und die Anerkennung von Frauen als gleichwertige Menschen. Das führt dann erwiesenermaßen auch dazu, dass Frauen weniger Kinder bekommen. Aber diesen Weg ist man in der Politik nicht gegangen. Bis heute gibt der UN-Bevölkerungsfonds über 60 Prozent seiner Hilfsgelder für Geburtenkontrolle aus. Nur 14 Prozent fließen in Programme für die Gleichstellung von Frauen.

Dörholt: Und der Gedanke, dass Bevölkerung reduziert werden muss, ist doch eigentlich menschenfeindlich, weil das zwangsläufig bedeutet, dass bestimmte Menschen nicht willkommen sind. Wenn man der Überzeugung ist, es müsse etwas gegen das Bevölkerungswachstum getan werden, dann doch bitte durch den Einsatz des besten ‚Verhütungsmittels’.

Und das wäre?

Dörholt: Die Unterstützung der Entwicklung des Landes und nicht über Verhütungs- und Sterilisierungskampagnen. Es ist unverantwortlich, Menschen, für die viele Kinder eine wirtschaftliche Absicherung bedeuten, dazu zu zwingen, weniger Kinder zu bekommen ohne ihnen eine Alternative zu bieten. Oder von freier Wahl zu sprechen, wenn man Frauen, die in bitterer Armut leben, Geld für die Sterilisation anbietet. Statt Milliarden in Geburtenkontrolle zu stecken, sollte sich Entwicklungshilfe auf die Entwicklung des Landes konzentrieren und nicht auf die Geburtenkontrolle. Dann löst sich das Problem des Bevölkerungswachstums von selbst.

In Ihrem Film kommt die Rolle der Kirchen nicht vor. Warum? Wollten sie sich nicht dazu äußern? Vor allem die katholische Kirche spielt in Sachen Verhütungs-Akzeptanz in Entwicklungsländern ja eine große Rolle. Und: Gibt es keine Stellungnahmen der Kirche zu dem Vorgehen der Politik, Hilfe an Forderungen zu binden?

Dörholt: Das Hauptargument der Kirche gegen die Abtreibung ist meinem Verstehen nach ja die Tatsache, dass sie als Machtmittel gegen arme Menschen genutzt wird. Die Geschichte, die wir in unserem Film aufzeigen, gibt der Kirche in diesem Punkt Recht. Aber für mich sind beide Haltungen, die der Bevölkerungskontrollbewegung genauso wie die der Kirche/Pro Life Bewegung zutiefst frauen- und menschenfeindlich, weil beide den Menschen das Recht auf Selbstbestimmung aberkennen.

Christ: Natürlich hat der Vatikan auch in dieser Geschichte eine Rolle gespielt. Aber das Thema war so schon sehr komplex. Daher haben wir uns entschieden, die Kirche im Film außen vor zu lassen.

In der Politik ist das Problem des Männerüberschusses ja inzwischen angekommen, beispielsweise in China, wie Sie im Film zeigen. Welche Maßnahmen gibt es, um dem Frauenmangel entgegenzuwirken?

Dörholt: In Indien und China ist es den Ärzten mittlerweile per Gesetz verboten, den Eltern das Geschlecht des Ungeborenen zu nennen. Allerdings hat sich hier inzwischen ein lukrativer Schwarzmarkt entwickelt und es ist nur eine Frage des Geldes, einen Arzt zu finden, der bereit ist, das Gesetz zu brechen. Die Lobby der Ärzte ist auch so mächtig, dass die Gesetzeshüter wegschauen. Aber vereinzelt finden sich Projekte, die übrigens nicht selten von genau den Stiftungen finanziert werden, die damals die Bevölkerungskontrollprogramme in die Welt getragen haben. Meist sind es Belohnungsmodelle, wo Eltern für die Geburt einer Tochter entlohnt werden oder Geld für die Ausbildung der Tochter bekommen.

Christ: China ist mittlerweile von seiner Ein-Kind-Politik abgerückt und wirbt damit, dass Mädchen genau so viel wert seien wie Jungen. Doch der Entschluss zur Zwei-Kind-Politik kam viel zu spät. China ist auf dem Weg zu vergreisen. Und solange es kein Rentensystem in China gibt und es immer noch der Sohn ist, der sich um die alten Eltern kümmern muss, wird das Interesse an Töchtern nicht größer.

Wird heutzutage die Entwicklungshilfe nicht mehr an die Reduktion der Geburtenraten gebunden?

Dörholt: Ich denke, so was könnte man heute nicht mehr so einfach tun, ohne dass es einen öffentlichen Aufschrei provozieren würde. Was aber nicht heißt, dass der Westen nicht mehr daran interessiert ist, das Bevölkerungswachstum in den Schwellenländern zu reduzieren. Die amerikanische Behörde für Entwicklungszusammenarbeit unterstützte noch 2012 Programme in Indien, bei denen Frauen zur Sterilisation gezwungen wurden. Vielleicht tun sie es auch heute noch.

Die US-amerikanische Forscherin Valerie Hudson sagt in Ihrem Film, dass es noch 20 bis 30 Jahre dauern würde, bis das Geschlechterverhältnis wieder ausgeglichen wäre, sofern sofort entsprechende Maßnahmen griffen würden. Wie groß wird das Problem in der Zukunft sein?

Christ: Mittlerweile gibt es schon 19 Länder mit einem ungleichen Geschlechterverhältnis zugunsten von Jungen. Solange Frauen in diesen Gesellschaften keine Bildung erhalten und nicht als gleichwertig anerkannt werden, helfen weder Prämien für Geburt von Mädchen wie in Indien, noch Werbung für das weibliche Geschlecht wie in China.

Dörholt: Valerie Hudson hat in unserem Interview einige Möglichkeiten aufgezeigt, wie China mit der wachsenden Kriminalität wegen des Männerüberschuss umgehen kann: Entweder müssen Frauen „importiert“ werden, oder chinesische Männer „exportiert“, oder es muss ein Kontext gefunden werden, in dem die alleinstehenden Männer ihre Aggressionen ausleben können. Für Hudson ist es denkbar, dass daraus auch kriegerische Tendenzen erwachsen können. Und dann darf man die Migrationsströme nicht vergessen, bei denen das Problem auch in andere Regionen der Welt getragen wird.

im TV: Bloß keine Tochter – Asiens Frauenmangel und die Folgen (arte 19. Juni, 20.15Uhr)

Ein Kommentar zu “Es fehlen 177 Millionen Frauen”

  1. ^^ |

    Eine schreckliche Collage

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