Andrea Bocelli

Das Publikum spürt, ob ein Künstler echt ist.

Andrea Bocelli über Erfolg, Publikum, Playback im TV und den Applaus als befreiendes Moment

Andrea Bocelli

© Decca/Giovanni De Sandre

Am Nikolaustag 2008 wird in Halle die „Carmen-Nebel-Show“ aufgezeichnet. In einem Vorraum der großen Messehalle am Stadtrand schwirren Hunderte Beteiligte herum, Techniker, Sänger, Musiker, Eiskunstläufer, knapp bekleidete Tänzerinnen. David Garrett, Howard Carpendale und einige andere prominent aussehende Gesichter reihen sich geduldsam in die Schlange beim Catering ein, es gibt Hühnchen mit Rotkohl und Klößen. Auch Bocelli tritt bei Carmen Nebel auf, in wenigen Minuten soll unser Gespräch beginnen, nach einigem organisatorischen Hin- und Her, an dem zwei Damen der Plattenfirma, ein Sendermitarbeiter und zwei Manager Bocellis beteiligt sind. Der vorgesehene Interviewraum befindet sich allerdings auf der anderen Seite des Messegebäudes und so laufen wir mit dem Sänger und seinem Gefolge durch die Halle, über allerlei Kabelgestrüpp hinweg, vorbei an der glitzernden Fernsehkulisse, in der Carmen Nebel gerade ihre Moderation probt, die Bühne ist in grelles Licht getaucht. Wir kommen in einen kühles Besprechungszimmer, ein schneller Händedruck und es geht los. 30 Minuten sind wenig, um einem Menschen und Phänomen wie Bocelli nahe zu kommen, zumal immer wieder das Mobiltelefon seines Managers dazwischenklingelt. Doch der Musiker lässt sich nicht irritieren, ist sehr konzentriert, hört genau zu, antwortet wohlbedacht – und beweist Humor.

Herr Bocelli, können Sie mir sagen, wie viele TV-Aufzeichnungen Sie schon gemacht haben?
Bocelli: Nein, unmöglich, das kann man sich nicht merken. Das geht in die Hunderte.

Warum machen Sie sie?
Bocelli: Weil das heutzutage die einzige Möglichkeit ist, um eine Platte bekannt zu machen. Früher, als es noch kein Fernsehen gab, da hat man das im Radio gemacht. Große Sänger wie Beniamino Gigli, die sangen ja schon im Radio. Anders geht es nun mal nicht, da muss man mitmachen.

Aber der Aufwand so einer Produktion ist schon sehr hoch, vor allem der zeitliche.
Bocelli: Sicher. Es hat letztlich auch wenig zu tun mit unserer eigentlichen Tätigkeit. Ich habe dabei aber immer versucht, die Zeiten zu optimieren. Normalerweise kann ich in den Räumen hinter der Bühne die Zeit für andere Dinge nutzen. Ich habe immer meinen Pianisten dabei und die Noten für die Stücke, die ich lernen muss. Im Moment bin ich dabei, den Faust einzustudieren, dafür versuche ich die Zeit bestmöglichst zu nutzen. In manchen Fällen dauern solche Aufzeichnungen ja einen ganzen Tag, da ist mein Zimmer hinter der Bühne normalerweise ausgestattet mit einem Klavier und all dem, was sonst noch nötig ist.

Wie lange sitzen Sie in der Maske?
Bocelli: Dafür nehme ich mir immer nur sehr wenig Zeit, weil ich es nicht besonders mag. Ich mache nur das Allernotwendigste für die Beleuchtung.

Herr Bocelli, was ist Erfolg?
Bocelli: Erfolg ist in gewisser Hinsicht ein Zufall. Ein zufälliges Ereignis, das einem unterwegs passieren kann. Es ist eine ungewöhnliche Situation, die einem viel gibt – die einem aber auch viel wegnimmt. Man bekommt einerseits die Zuneigung der Leute, auch ihre Hochachtung und Dankbarkeit. In vielen Fällen erlangt man auch finanziell eine beruhigende Situation. Andererseits leidet das Private darunter.

Wie fühlt sich Erfolg an?
Bocelli: Ich denke da eigentlich nicht drüber nach. Ich versuche so eine Situation zu erkunden wie alles andere, was zu mir gehört und wie alle anderen Dinge, die mich umgeben. Und wenn ich mit der Arbeit fertig bin und wieder nach Hause komme, bleibt eigentlich alles, was mit der Arbeit zu tun hat, vor der Haustür.

Und die vielen Platten, die Sie verkauft haben, welche Bedeutung haben die?
Bocelli: Die haben schon eine ziemlich große Bedeutung für mich. Denn schon als Kind habe ich viele Platten gehört, ich habe darüber die großen Stimmen der Vergangenheit lieben gelernt. Als Kind empfand ich für diese Sänger große Zuneigung, die haben mich wirklich zu Tränen gerührt. Insofern ist es schön für mich, zu wissen, dass es bei vielen Familien zu Hause meine Platten gibt. Das heißt für mich, hoffen zu können, dass diese Menschen dann möglicherweise auch ähnliche Empfindungen haben können, wie ich damals.

Und wenn eine Ihrer Platten sich nicht so gut verkauft?
Bocelli: Naja, heutzutage ist es doch eigentlich so, dass sich alle Platten schlecht verkaufen. Es ist total schwierig geworden, überhaupt Platten zu verkaufen. Ich habe die Zahlen aber auch nie besonders beachtet. Was für mich zählt ist die Qualität dessen, was man tut. Und nicht immer entspricht Quantität der Qualität.
Ich habe verschiedene Platten gemacht, und die, die ich am meisten liebe, das sind gleichzeitig die Platten, die sich am schlechtesten verkaufen. Ich habe mehrere Opern aufgenommen, „La Boheme“, „Tosca“, „Werther“, „Il Travatore“, „Cavalleria rusticana“, „Carmen“ – aber das sind CDs, die man schlecht verkaufen kann. Aber es sind gleichzeitig die, die mir am meisten am Herzen liegen, weil das die Musik ist, die mir schon immer am nächsten ist

Warum verkaufen sie sich schlecht?
Bocelli: Weil Oper nicht über so ein Marketing verfügt, wie das bei der leichten Musik der Fall ist, weil es keine Promotionkanäle gibt, die geeignet wären. Und auch weil Opernmusik im Prinzip eine Nischenmusik ist.

Kommen wir aber noch einmal zum Erfolg: Viele erfolgreiche Musiker gönnen sich Luxus, ein teures Auto, eine große Villa…
Bocelli: Nein, schauen Sie, ich hatte das Glück in einer in dieser Hinsicht glücklichen Familie aufzuwachsen. Meine Karriere hat für mich, was den Wohlstand anbelangt, keine Änderungen mit sich gebracht. Das hat mein Leben nicht geändert.

Gibt es für Sie aber so etwas wie eine Status-Symbol?
Bocelli: Nein. Das ist auch eine Sache, die ich lächerlich finde. Ich denke, die Suche nach einem Ding, das als Statussymbol wirken soll, zeigt eigentlich nur, dass man eine Schwäche zu verschleiern versucht – ich habe das Gott sei Dank nicht nötig.

Wie nehmen Sie das Publikum wahr?
Bocelli: Das Publikum ist für mich sehr wichtig. Es ist die Feder, der Motor, der einem auch die Motivation gibt, um weiterzumachen.

Und live?
Bocelli: Das ist das wesentliche Element, ohne Publikum würde meine Arbeit ja wenig Sinn machen.

Ich meine die Reaktionen.
Bocelli: Der Applaus ist ein befreiendes Moment für mich. Den Augenblick der Aufführung erlebe ich immer mit großer emotionaler Spannung, ich habe immer stark gelitten unter dem, was die Engländer „Stage fright“ nennen. Applaus ist das befreiende Moment, das Dankeschön, das das Publikum einem zurückgibt.

Können Sie an der Stärke des Applauses messen, wie gut Sie waren?
Bocelli: Absolut, ja…

Haben die Leute bei Ihnen denn schon mal, sagen wir, weniger applaudiert?
Bocelli: Das Publikum ist eigentlich ein perfektes Gradmesser für das, was der Künstler zu geben vermag. Wenn der Künstler in Form ist, und wirklich das Beste zu geben vermag, dann gibt auch das Publikum das Beste von sich.

Fühlen Sie, wie viele Leute im Raum sind?
Bocelli: Gewiss. Abgesehen davon, dass ich es normalerweise vorher weiß. Und ich muss Ihnen sagen, normalerweise, wenn ich Konzerte gebe, dann sind die ausverkauft. Das war fast immer so.

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Erfolg ist in gewisser Hinsicht ein Zufall. Ein zufälliges Ereignis, das einem unterwegs passieren kann.

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Ich meinte aber, ob es so etwas wie Schwingungen in der Luft gibt, die Sie spüren?
Bocelli: Ja, es gibt Schwingungen die aus dem Publikum kommen. Die hängen aber nicht von der Menge der anwesenden Personen ab, sondern von einer ganzen Reihe anderer Faktoren. Beispielsweise wie man sich selber fühlt, am jeweiligen Abend, dann durch die Schwierigkeit, des Repertoires. Dann kommt es auch auf den Ort an, es gibt beispielsweise Bühnen, die wichtiger sind als andere. Es gibt auch ein Publikum, dass möglicherweise an einem Ort viel anspruchsvoller ist als anderswo. Das ist insofern eine recht komplexe Geschichte.

Viele sehende Musiker schließen beim Spielen die Augen – warum?
Bocelli: Ha.. (lacht) ich weiß nicht, das müsste man sie vielleicht selber fragen. Mit Sicherheit ist es so, wenn ein Künstler sich auf die Bühne begibt, muss er sich konzentrieren, und das geht am besten, in dem er die Augen schließt. Er stellt sich etwas vor, denkt an etwas Bestimmtes. Worauf es ankommt, ist aber, dass man, egal was passiert, im Geist ganz offen ist. Geist und Herz müssen offen sein.

Welche Eindrücke entstehen in Ihrem Kopf beim Singen?
Bocelli: Das hat mit dem zu tun, was ich singe. Die Musik ruft in mir gewisse Erinnerungen wach. Es ist klar: Wenn man ein Liebeslied singt dann kommen einem Bilder in den Kopf kommen, die man gelebt hat. Selbst Erlebtes, schöne Erlebnisse, mit Menschen, die man geliebt hat.

Mir kommen vielleicht viele Bilder in den Kopf – was ist es bei Ihnen? Gefühle, Geräusche, Gerüche?
Bocelli: Also, sich an etwas zu erinnern, heißt ja, sich in jeder verschiedenen Hinsicht dran zu erinnern. Nicht nur bildlich.

Haben Sie immer noch das große Lampenfieber vor Auftritten?
Bocelli: Immer. Jedes Mal. Vor allem wenn ich in Opern- oder Konzerthäusern singe. Ein Fernsehstudio wie hier ist wiederum eine andere Art von Spannung.

Kommt es beim Fernsehen vor, dass Sie Playback singen?
Bocelli: Es gibt Länder, wo es im Fernsehen Playback gibt, bei anderen singst du live.

Wie stehen Sie zu der Praxis?
Bocelli: Ich muss sagen: Es gibt immer Pro und Contra. Wenn man Fernsehen macht, dann ist natürlich beim Playback der Klang immer der bessere. Auf der anderen Seite ist der Live-Auftritt auch immer etwas Einzigartiges.

Ist nicht aber so eine Playback-Situation für Sie ein total dämliches Gefühl?
Bocelli: Ja, das ist schon etwas merkwürdig. Aber gleichzeitig ist es die Art und Weise, die manchmal erforderlich ist, um eine CD und eine Aufnahme zu präsentieren. Es gibt ja auch eine Logik dahinter: Wenn einer zu Hause entscheiden muss, ob er die CD kauft oder nicht, dann interessiert es ihn vielleicht, zu hören, wie die CD wirklich klingt. (Bocellis Manager ergänzt: Es wäre ja auch schwierig, wie in seinem Fall in einem Fernsehstudio ein Orchester mit 80 Musikern und 60 Chorsängern aufzufahren.)

Trotzdem wissen viele Fernsehzuschauer vermutlich nicht, dass eine Reihe von Musiksendungen mit Playback produziert werden.
Bocelli: Nein, ich denke, in den Ländern, wo mit Playback gearbeitet wird, ist das auch kundgetan und öffentlich bekannt. Ich glaube nicht, dass darum ein Geheimnis gemacht wird. Es ist ja manchmal sogar so, dass man beim Playback nicht mal mehr ein Mikrofon hat, damit auch das Bild für die Kamera besser wird.

Sind Sie selbst zufrieden mit Ihrer Stimme?
Bocelli: Wenn ich Playback mache, ja (großes Lachen im Raum).

Sind Sie selbstkritisch?
Bocelli: Ja, ich bin absolut kritisch mit mir selber. In der Welt der klassischen Musik insbesondere. Da ist es äußerst schwierig, in eine Situation zu kommen, in der man voll mit sich selbst zufrieden ist.

Wie empfindlich reagieren Sie auf Kritiken?
Bocelli: Wenn es um das klassische Repertoire geht, da muss ein Künstler sowieso klarkommen mit den Dingen, die geschrieben werden. Wichtig ist es, zu unterscheiden zwischen den Kritiken, die im Guten geäußert wurden und solchen, die einfach aus Gehässigkeit entstehen. Wenn ein Kritiker es gut meint, dann kann man auch immer etwas daraus lernen.

Lesen Sie die Kritiken selbst, zum Beispiel im Internet?
Bocelli: Nicht direkt, weil ich meine Zeit lieber dafür nutze, etwas Neues zu studieren, etwas zu lernen. Aber das Echo einer Kritik erreicht mich ich auf jeden Fall.

Sie haben vor zehn Jahren Ihre Autobiographie geschrieben, darin einen Tagebucheintrag mit dem Satz: „Ich habe das Gefühl, zu einem Geldesel geworden zu sein.“
Bocelli: Ja, es gab da einen Moment in meinem Leben, in dem das so war. Aber jetzt haben sich die Dinge ein wenig geändert. Zum einen, weil ich versuche, mit mehr Augenmaß zu arbeiten, zum anderen bin ich heute mehr der Herr meiner selbst und dessen, was ich mache.

Aber was damals der Auslöser für diese Zeilen?
Bocelli: Ich habe damals über die ersten Jahre meiner Karriere geschrieben.

Und wie haben Sie gemerkt, dass man Sie zum „Geldesel“ machen wollte?
Bocelli: Ich kam von einem Leben her, das ich auf dem Land verbracht hatte. Und das war ganz etwas Anderes. Mein Leben als Jugendlicher war das Leben auf dem Land, ich war es nicht gewohnt und ich war nicht bereit für so ein hektisches Leben, wie das, was dann folgte.

Und wie haben Sie es geschafft, sich davon wieder wegzubewegen?
Bocelli: Naja, zum einen: Man gewöhnt sich an alles in der Welt. Und dann ist es so, dass man auf seinem Weg als Künstler auch eine gewisse Persönlichkeit annimmt, mit der man es auch schafft, die eigenen Entscheidungskriterien den Leuten nahezulegen, die einen umgeben und die für einen arbeiten, so dass man das zunehmend selbst bestimmen kann.

Wie erklären Sie einem Außerirdischen das Phänomen Bocelli?
Bocelli: Tssss (lächelt) Es würde mich mehr interessieren, von einem Außerirdischen zu erfahren, was anderswo im Weltall los ist. Aber letzten Endes glaube ich nicht an Außerirdische.

Gut. Aber erklären Sie es mir. Haben Sie eine Standard-Erklärung?
Bocelli: Ich habe nie versucht, eine Erklärung auf diese Frage zu finden. Ich habe versucht, mich um ein paar Dinge zu kümmern, die für mich wichtig sind: Nämlich zu versuchen, in der Kunst ich selber zu bleiben. Will sagen: Das zu tun, was mir gefällt, was ich für wichtig halte und das gut zu machen. Das heißt auch, nicht der Faszination der Mode oder sonst was zu erliegen. Und ich denke, das große Publikum spürt es bei einem Künstler, ob er echt ist, oder nicht. Ob er ehrlich ist, auch zu sich selber.

Fragen Sie sich oft: Was wäre geschehen wenn…?
Bocelli: Ich habe ja Jura studiert. Sehr wahrscheinlich wäre ich Anwalt geworden.

Aber das wäre nicht so schön, wie die Musikkarriere, oder?
Bocelli: Naja, es war gewiss nicht meine Berufung.

Auf der einen Seite ein sehender Anwalt, auf der anderen ein nicht-sehender Sänger.
Bocelli: Und? Wie ist die Frage?

Wenn Sie sich zwischen einem von beidem entscheiden müssten, was würden Sie wählen?
Bocelli: Ich sage Ihnen nur so viel: Ich habe dem Herrgott immer gedankt, für das, was er mir gegeben hat. Und ich danke ihm auch nach wie vor jeden Tag. Punkt.

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